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RG, 23.10.1880 - I 823/80

Daten
Fall: 
Gründung eines Urkundenprozesses auf nicht unterschriebenen Privaturkunden
Fundstellen: 
RGZ 2, 415
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
23.10.1880
Aktenzeichen: 
I 823/80
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • Landgericht Berlin
  • Kammergericht Berlin

Kann der Urkundenprozeß der Reichs-Civilprozeßordnung auf nicht unterschriebene Privaturkunden gegründet werden?

Tatbestand

Kläger hatte aus Interessen-Coupons zu Prioritätsobligationen der Lemberg-Czernowitz-Jassy-Eisenbahngesellschaft die in denselben verzeichneten Zinsbeträge gegen gedachte Gesellschaft im Urkundenprozesse eingeklagt. Die vorgelegten gedruckten Coupons wurden von den Beklagten als echt anerkannt, enthielten aber weder in Faksimile noch in Druck eine Ausstellerunterschrift, lauteten vielmehr nur:

K. K. priv. Lemberg-Czernowitz-Jassy-Eisenbahngesellschaft Emission 1872.

Prioritätsobligation Nr ... Interessen-Coupon über etc. zahlbar am etc. in etc.. Vorgelegt wurde auch eine Prioritätsobligation, welche die faksimilierte Unterschrift von Vertretern der Beklagten trug, dieselbe gehörte aber zu keinem der eingeklagten Coupons. Auch ergab sich aus ihr weder, daß den Nummern der Coupons entsprechende Obligationen mit Coupons ausgegeben, noch welche Form für die Coupons behufs ihrer Verbindlichkeit festgestellt worden.

Während der erste Richter die Beklagte nach dem Klageanträge verurteilte, wies das Berufungsgericht die Klage als im Urkundenprozeß unstatthaft ab. Die vom Kläger eingelegte Revision wurde vom Reichsgericht zurückgewiesen.

Gründe

"Allerdings kann der rechtlichen Auffassung der Entscheidungsgründe des zweiten Erkenntnisses, daß auf Privaturkunden, welche der Unterschrift eines Ausstellers ermangelten, der Urkundenprozeß überhaupt nicht gegründet werden könne, nicht beigetreten werden. Nach den §§. 555. 560 C.P.O. wird für die Statthaftigkeit des Urkundenprozesses nur gefordert, daß die sämtlichen zur Begründung des Anspruches erforderlichen Thatsachen vollständig durch Urkunden bewiesen werden. Unter den schriftlichen Urkunden, welche im Titel 9 des zweiten Buches der C.P.O. behandelt werden, sind aber sowohl vom Aussteller unterschriebene bez. unterzeichnete, wie solcher Unterschrift oder Unterzeichnung ermangelnde begriffen. Beide Kategorieen sind in den §§. 404. 405 als Gegenstand der dem Gegner obliegenden Erklärungspflicht und des Echtheitsbeweises gesetzt. Allerdings ist nur in betreff der unterschriebenen Urkunden eine formelle Beweiskraftsvorschrift in dem Sinne aufgestellt - §. 381 -, daß der Richter bei ihnen den vollen Beweis als erbracht anzusehen hat, es seien die in denselben enthaltenen Äußerungen perfekte, abgeschlossene Erklärungen des Ausstellers, während mangels der Unterschrift es der freien Würdigung des Richters - §. 259 - untersteht, ob die geschriebenen Worte eine perfekte, abgeschlossene Erklärung ihres Urhebers darstellen. Aber in den Vorschriften über den Urkundenprozeß ist nirgends eine Einschränkung enthalten, nach welcher der Urkundenprozeß nur auf Urkunden, die der Richter vermöge einer formellen Beweiskraftsregel der C.P.O. für irgend etwas als beweisend ansehen müsse, und nicht auf solche, bei denen die ganze Beweiskraft seiner freien Würdigung überlassen sei, auch wenn er sie dennoch als beweisend ansehe, gestützt werden könnte. Vielmehr läßt sich gerade aus der Vergleichung der C.P.O. mit den früheren Entwürfen ersehen, daß solche Einschränkung nicht gewollt ist, und daß, wie ungewöhnlich dies auch vom Standpunkt des früheren Exekutivprozesses erscheinen mag, es dem Standpunkte der C.P.O. entspricht, wenn erst zugleich mit der freien Würdigung, ob der Beweis der den Anspruch begründenden Thatsachen durch Urkunden geführt ist, auch über die Statthaftigkeit des Urkundenprozesses entschieden wird. Darüber kann kein Zweifel sein, daß die Prüfung der Statthaftigkeit des Urkundenprozesses erst unmittelbar vor Erlaß des Urteils einzutreten hat (vergl. Motive S. 353). Nach früheren Entwürfen sollten auch über die materielle Beweiskraft der Urkunden positive Bestimmungen getroffen werden, und es sollte in Bezug auf Rechtsgeschäfte den solche zum Gegenstande habenden unterschriebenen Willenserklärungen, in Bezug auf Thatsachen den Geständnisse von Thatsachen zum Gegenstande habenden unterschriebenen Erklärungen, ersteren unbeschränkt, letzteren zu Gunsten desjenigen, dem die Urkunde ausgestellt worden, und gegen den Aussteller und dessen Rechtsnachfolger, volle Beweiskraft durch ausdrückliche Bestimmungen zugesprochen werden. Entsprechend dieser ausdrücklichen Hervorhebung bestimmter Urkunden mit zuerkannter voller materieller Beweiskraft gegenüber anderen, deren Beweiskraft der freien Würdigung anheimfiel, sollte der Urkundenprozeß nur auf Grund ersterer Urkunden statthaft sein, was durch Allegierung der entsprechenden, jene qualifizierten Urkunden betreffenden Bestimmungen aus den Vorschriften über Urkundenbeweis in der den Urkundenprozeß betreffenden Vorschrift zum Ausdruck gebracht wurde (vergl. §§. 537. 538. 649 des norddeutschen Entwurfes zur C.P.O. und §§. 371. 473 des sogenannten hannöverschen Entwurfes). Die Reichscivilprozeßordnung hat es aber aufgegeben, bindende Vorschriften über die materielle Beweiskraft zu erlassen, und hat diese der freien richterlichen Würdigung anheimgegeben. Demnach giebt es keine Urkunden, deren volle materielle Beweisfähigkeit des Vehikels der richterlichen Würdigung entbehren kann. Als Konsequenz dieser Änderung ist es aber nur anzusehen, wenn dem entsprechend der Urkundenprozeß nicht auf bestimmte Urkunden, auch nicht auf solche, denen durch §§. 380-383 eine formelle volle Beweiskraft lediglich in Bezug auf das Vorhandensein des Vorganges oder der Erklärung, aber auch nicht auf deren Wirkung zuerkannt ist, eingeschränkt ist, was sich deutlich durch Weglassung jedes beschränkenden Allegats im §. 555 ergiebt. Kann hiernach der Urkundenprozeß nicht deshalb schlechthin für unstatthaft erklärt werden, weil die Urkunden, auf welche der Anspruch gestützt wird, nicht unterschrieben sind, kommt es vielmehr darauf an, ob trotz jenes Mangels der Richter lediglich aus den Urkunden den Beweis der Gegründetheit des Anspruches schöpft, so würde es demnach im vorliegenden Falle darauf ankommen, ob der Richter aus den vorgelegten Urkunden den Beweis zu schöpfen vermöchte, einmal, daß die vorgelegten "Interessen-Coupons", deren Echtheit Beklagte anerkannt hat, perfekte, abgeschlossene Erklärungen darstellten, ferner, daß sie im Sinne von Verpflichtungserklärungen der Beklagten, die bezeichneten Summen an den Inhaber zu zahlen, oder doch als die Legitimationszeichen für Geltendmachung der in anderen vorgelegten Urkunden enthaltenen Verpflichtungen aufzufassen wären, und daß die Verpflichtungen in der vorliegenden Form auch nach materiellem Recht rechtsverbindlich wären." ... (Es wird nun weiter ausgeführt, daß schon in den Gründen des zweiten Erkenntnisses schließlich die Möglichkeit, den letztgedachten Beweis aus den gedachten Urkunden zu schöpfen, verneint werde, und daß deshalb die Revision verworfen werden müsse.)