RG, 29.09.1880 - I 819/80

Daten
Fall: 
Bemerkung als Ergänzung eines Tatbestandes
Fundstellen: 
RGZ 2, 394
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
29.09.1880
Aktenzeichen: 
I 819/80
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG I Berlin.
  • KG Berlin.

Kann eine in der als "Entscheidungsgründe" bezeichneten Abteilung des Urteiles enthaltene Bemerkung als Ergänzung der unter der Überschrift "Tatbestand" gegebenen Darstellung angesehen werden?

Tatbestand

Der Kaufmann B. hatte auf sein Leben zu Gunsten seiner Ehefrau und seiner beiden Töchter Versicherung genommen. Nach seinem Tode fordern diese vom Kaufmann M. die Herausgabe der Police, welche dieser in Händen hat. Der Beklagte schützt vor, daß ihm ein Pfandrecht und Retentionsrecht an der ihm von B. übergebenen Police zustehe.

Das Landgericht I Berlin erkannte keines dieser Rechte als begründet und verurteilte den Beklagten zur Herausgabe der Police. Dieses Urteil wurde auf Berufung des Beklagten vom Kammergericht bestätigt. Der Beklagte wandte gegen dieses Urteil Revision ein.

Im angefochtenen Urteil sind zunächst unter vier Nummern die Behauptungen des Berufungsklägers angeführt, er habe dem B., welchem er wiederholt kleinere Wechsel diskontiert gehabt, im Juli 1877 erklärt, er könne sich zur Diskontierung größerer Summen nur dann verstehen, wenn ihm B. Sicherheit verschaffe; infolge dessen habe ihm B. einige Tage später die Police übergeben und sei dabei vereinbart worden, dieselbe solle ihm als Pfand für alle aus dem zu eröffnenden Diskontoverkehre herrührenden Ansprüche haften.

Sodann wird weiter angeführt, der Berufungskläger habe einen Buchauszug, enthaltend 47 verschiedene Wechsel, überreicht, indem er feiner behauptet habe:

  1. daß er alle diese Wechsel diskontiert habe,
  2. daß 7 derselben näher bezeichnete identisch seien mit den in der Klagebeantwortung aufgeführten und zum B.'schen Konkurs angemeldeten und dort anerkannten Wechseln.

Es heißt dann weiter:

"Zum Beweise der Richtigkeit dieser Darstellung wird

  1. auf die Handelsbücher sowie auf das Zeugnis des M.,1 sowie
  2. auf die Prozeßakten M. w. B ... ... .insbesondere auf die in diesen Akten enthaltenen eidlichen Zeugenaussagen des M. Bezug genommen, auch vom Berufungskläger der Eid erboten."

In den "Entscheidungsgründen" wird ausgeführt, die vom Berufungskläger behauptete Übereinkunft könne nur so verstanden werden, daß die Forderung gegen die Versicherungsgesellschaft verpfändet, nicht die Police als Faustpfand gegeben werden solle. Eine Forderung könne aber nur in schriftlicher Form rechtsgültig verpfändet werden.

"Indeß (wird weiter fortgefahren), auch abgesehen hiervon, sind alle vorstehenden thatsächlichen Anführungen des Berufungsklägers bestritten und in keiner Weise unter Beweis gestellt, da nach dem ganzen Zusammenhange seiner Auslassung die sämtlichen, von ihm angerufenen Beweismittel nur auf die Existenz der vom ihm zum B.'schen Konkurse angemeldeten Forderungen, und nicht auf die gleichfalls bestrittene tatsächliche Begründung des prätendierten Pfandrechtes zu beziehen sind."

Von beklagtischer Seite wird gegen dieses Urteil Revision eingewendet und dieselbe u. a. auch darauf gestützt, daß die mitgeteilte in den Entscheidungsgründen enthaltene Darstellung demjenigen zuwiderlaufe, was der zweite Richter selbst als Thatbestand mitgeteilt habe.

Das Reichsgericht hat die Revision verworfen, und zwar, was den angeführten Revisionsgrund betrifft, aus folgenden Gründen:

Gründe

"Dieser Vorwurf würde nur dann begründet sein, wenn es richtig wäre, daß der Thatbestand lediglich im ersten Teile der zur Begründung des Tenors des Urteiles gegebenen Darstellung enthalten sein dürfte, und der zweite Teil sich auf Rechtsanführungen zu beschränken hätte. Allein eine derartige Bestimmung ist im Gesetz nicht enthalten. Zwar werden im §. 284 C.P.O. die einzelnen Bestandteile des Urteiles unter einzelnen Nummern aufgeführt, allein daraus folgt nicht, daß diese Bestandteile auch notwendig von einander örtlich völlig geschieden gehalten werden müßten. Nur für die Urteilsformel ist diese "äußerliche Sonderung" vorgeschrieben. Gerade aus dieser ausdrücklichen Hervorhebung ist ein agumentum a contario betreffs der anderen Bestandteile des Urteiles zulässig.

Hiernach kann es, wenngleich es im Interesse der Übersichtlichkeit äußerst wünschenswert erscheint, daß die thatsächlichen Feststellungen von den rechtlichen Erörterungen möglichst gesondert gehalten werden, doch nicht als ein rechtlicher Verstoß angesehen werden, wenn im einzelnen Falle von diesem Verfahren abgewichen wird. Zwar kann davon ausgegangen werden, daß der Richter namentlich dann, wenn er (zweckmäßiger Weise) seine Ausführungen unter besondere Rubriken (Thatbestand und Entscheidungsgründe) gebracht hat, an erster Stelle alles den Thatbestand Betreffende hat zusammenstellen und an zweiter Stelle nur rechtliche Erörterungen hat geben wollen. Allein, wenn auch in Zweifelsfällen auf die Anordnung der einzelnen Sätze Gewicht zu legen ist, so ist dieselbe doch nicht unbedingt maßgebend. Entscheidend dafür, ob eine Äußerung als tatsächliche Feststellung oder als rechtliche Erörterung aufzufassen, ist der Inhalt derselben. Ebensowenig wie der Revisionsrichter durch eine rechtliche Deduktion des Vorderrichters deswegen gebunden sein würde, weil dieselbe sich unter der Rubrik "Thatbestand" vorfindet, kann einer thatsächlichen Feststellung darum die Anerkennung versagt werden, weil dieselbe unter den rechtlichen Ausführungen ihren Platz gefunden hat.

Im vorliegenden Falle wird nun an der fraglichen Stelle nicht etwa nur auf dasjenige, was im ersten Teile der "Gründe" thatsächlich festgestellt sei, Bezug genommen und daraus eine rechtliche Folgerung, gezogen, sondern es wird ein neues thatsächliches Moment, nämlich der "ganze Zusammenhang der Auslassung" des Beklagten hervorgehoben. Dieses Moment wird dahin verwertet, es ergebe sich daraus, daß die Beweisantretung auf einen Teil des Vorbringens zu beschränken sei. In diesem Vorbringen eines neuen thatsächlichen Moments kann nur eine Ergänzung des vorher unvollständig mitgeteilten Thatbestandes gefunden werden. Die Darlegung des Sinnes dieser Ergänzung ist aber eine der Nachprüfung des Revisionsrichters sich entziehende lediglich tatsächliche Feststellung." ...

  • 1. Während des Laufes des Prozesses war über das Vermögen des Beklagten M. Konkurs eröffnet worden. Der Prozeß wurde vom Konkursverwalter weiter geführt, und dieser hatte den ursprünglichen Beklagten M. als Zeugen benannt.