RG, 25.09.1880 - V 222/80
Anspruch auf Unterstützung aus einem Knappschaftsvereine.
Tatbestand
Es handelt sich um die Frage, ob die Bestimmung, in den Statuten eines Knappschaftsvereines, daß lediglich der Knappschaftsarzt, der Knappschaftsälteste und der erste technische Werkbeamte zu entscheiden haben, ob die thatsächlichen Voraussetzungen vorliegen, unter denen einem Vereinsmitgliede statutenmäßige Unterstützung zusteht, gegen die gesetzliche Vorschrift verstoße,
- daß Streitigkeiten über Sachen und Rechte des Privateigentums durch richterlichen Ausspruch entschieden werden müssen,
- daß die Erfüllung der Verträge nicht lediglich der Willkür des Verpflichteten anheimgegeben werden darf? A.G.O. Einl. §. 1; A.L.R. Einl. §. 79. I. 5. §. 71. Allg. Bergges. vom 24. Juni 1865 §§. 178. 179. 180.
Der Kläger, welcher Mitglied des oberschlesischen Knappschafts- Knappschaftsvereines ist, wurde wegen einer erlittenen Körperverletzung für invalide erklärt und erhielt die statutenmäßige Unterstützung aus der Vereinskasse. Da später Zweifel über seine Invalidität entstanden, so wurde er einer nochmaligen ärztlichen Untersuchung unterzogen, nunmehr für wiederarbeitsfähig erachtet, und es wurde ihm die fernere Unterstützung versagt. Kläger beruft sich auf das Gutachten mehrerer Ärzte, daß er arbeitsunfähig sei, und hat gegen den oberschlesischen Knappschaftsverein die statutenmäßige Unterstützung eingeklagt. Die beiden ersten Richter haben ihn abgewiesen und die von ihm eingelegte Nichtigkeitsbeschwerde ist zurückgewiesen worden.
Gründe
"In der vom Appellationsrichter in Bezug genommenen Sachdarstellung des ersten Erkenntnisses wird der Inhalt der §§. 21 und 22 der Statuten des oberschlesischen Knappschaftsvereines dahin angegeben:
"Die meistberechtigten Mitglieder des Knappschaftsvereins erhalten Invalidenlöhne und eventuell Erziehungsbeihilfe nur dann, wenn sie ihre Berufsarbeit nicht mehr zu verrichten imstande sind. Ob diese Voraussetzung vorhanden, darüber haben allein zu befinden:
a. der betreffende Knappschaftsarzt,
b. der Knappschaftsälteste und
c. der erste technische Werkbeamte.Dem mit dieser Entscheidung nicht zufrieden gestellten Mitgliede steht nicht der Rechtsweg, sondern lediglich die Beschwerde bei dem Knappschaftsvorstande zu."
Im §. 22 der Statuten ist bestimmt, daß, wenn die spätere Lebensweise und Beschäftigung eines Invaliden zu Zweifeln an der ausgesprochenen Invalidität berechtige, derselbe sich einer nochmaligen Untersuchung durch den von dem Vorstände hierzu bestimmten Arzt zu unterwerfen habe, und daß, wenn diese die wieder eingetretene Arbeitsfähigkeit des Untersuchten ergäbe, er wieder unter die aktiven Mitglieder trete und daher die Zahlung des Invalidenlohnes fortfalle.
Nachdem der Kläger im September 1877 als Ganzinvalide erklärt worden war und eine Zeitlang Invaliden- und Unterstützungsgelder bezogen hatte, würde ihm auf Grund einer vom Knappschaftsvorstande veranlaßten neuen ärztlichen Untersuchung eröffnet, daß er arbeitsfähig sei und seine Arbeit wieder aufnehmen müsse, und es wurde ihm fernere Unterstützung versagt. Der Appellationsrichter nimmt an, daß der Kläger zur Begründung des neuerdings erhobenen Unterstützungsanspruches seine gegenwärtige Invalidität in gleicher Weise darzuthun habe, wie dies bei der (ersten) Invaliditätserklärung überhaupt im §. 21 vorgeschrieben wird, und sagt wörtlich:
Nach §. 21 des Statuts ist die Bedingung des Rechts auf Invalidenlohn:
daß die Mitglieder nach dem gemeinschaftlichen Urteile des betreffenden Knappschaftsarztes, des Knappschaftsältesten und des ersten technischen Werksbeamten ihre Berufsarbeit nicht mehr zu verrichten imstande sind, ohne eigenes grobes Verschulden etc..
Kläger hat ein solches gemeinschaftliches Urteil nicht beigebracht und durch seine Anführungen nicht einmal die Möglichkeit gewährt, ein solches im Laufe des Prozesses zu beschaffen.
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird eingelegt, "weil ohne Eingehen auf die materielle Begründung des Anspruches das gerichtliche Gehör dem Kläger versagt und der Justizhoheit des Staats gegenüber das entscheidende Urteil einer der Parteien überlassen worden ist."
Der Appellationsrichter soll A.G.O. Einl. §. 1; A.L.N. Einl. §§. 79. 77; I. 5. §. 71 und den Satz verletzt haben: jus publicum privatorum pacis mutari non potest.
Der Angriff ist nicht begründet.
Die A.G.O. Einl. §. 1 bestimmt:
Alle Streitigkeiten über Sachen und Rechte, welche einen Gegenstand des Privateigentums ausmachen, müssen, wenn kein gütliches Übereinkommen stattfindet, durch richterlichen Ausspruch entschieden werden. Zur Beförderung von dergleichen gütlichen Übereinkommen und zur vergleichsweisen Beseitigung der Rechtsstreite soll das Institut der Schiedsmänner dienen (Verordnung vom 7. September 1827). Auch gestattet die A.G.O. unter Regulierung des diesfälligen Verfahrens in I. 2. §§. 167 flg., daß die Parteien Streitigkeiten über solche Gegenstände, die ihrer freien und uneingeschränkten Disposition unterliegen, durch Kompromiß einem schiedsrichterlichen Ausspruche unterwerfen. Abgesehen hiervon aber gebührt die Erörterung und Entscheidung von Privatstreitigkeiten den vom Staate eingesetzten Gerichten nach dem gesetzlich geregelten Verfahren, und es können die diesfälligen staatlichen Einrichtungen nicht durch vertragsmäßige Vereinbarungen der Staatsangehörigen abgeändert werden. Gegen diese Grundsätze hat der Appellationsrichter nicht gefehlt. Im Gegenteil hat er den Rechtsweg zugelassen und in demselben über den Anspruch des Klägers entschieden. Die Abweisung ist deshalb erfolgt, weil der Kläger die thatsächliche Voraussetzung seines Unterstützungsanspruches, seine Arbeitsunfähigkeit nicht in der durch §.21 der Vereinsstatuten vorgeschriebenen Weise dargelegt hat. Die diesfällige Bestimmung, daß die Arbeitsunfähigkeit durch das gemeinschaftliche Urteil des Knappschaftsarztes, des Knappschaftsältesten und des ersten technischen Werkbeamten nachgewiesen werden soll, verstößt nicht gegen die vorstehend entwickelten Grundsätze. Allerdings unterliegen auch diejenigen prozessualischen Vorschriften, welche anordnen, in welcher Weise die im Prozesse streitigen Thatsachen festgestellt werden sollen, im allgemeinen nicht einer vertragsmäßigen Vereinbarung seitens der Parteien. In gewissen Beziehungen gewähren aber die Prozeßgesetze selbst dem Willen der Parteien bei Feststellung dieser Thatsachen einen maßgebenden Einfluß. Nach A.G.O. I. 10. §§. 82. 88 b liefert ein gerichtliches oder außergerichtliches Zugeständnis vollen Beweis. Die A.G.O. macht es wiederholt dem instruierenden Richter zur Pflicht, eine Vereinigung der Parteien, wenn nicht über den ganzen Prozeß, doch über einzelne Punkte, auch über einzelne streitige Thatsachen herbeizuführen (I. 10. §§. 41 flg., I. 11 §§. 10 flg.). Die Parteien können sich vereinigen, daß die Aussage eines bestimmten Zeugen den Ausschlag geben soll. (A.G.O. I. 13. §. 10 Nr. 5). Sie können einem Zeugen den Zeugeneid erlassen (A.G.O. I. 10. §. 203). Ebenso ist die Erlassung eines Parteieneides mit der Wirkung zulässig, daß er für geschworen gilt (A.G.O. I. 13. §. 10 Nr. 8; A.L.R. I. 13. §. 99 und Anh. §. 44). Die im §. 228 Tit. 10. T. I der A.G.O. genannten Personen, welche in Rücksicht der Verbindung, in der sie mit einer Partei stehen, als Beweiszeugen nicht aufgestellt werden dürfen, erlangen nach §. 229 a. a. O. diese Eigenschaft, wenn sie der Gegenteil desjenigen, mit welchem sie in der bemerkten Verbindung stehen, in Vorschlag gebracht hat. Wiederholt ist von der Vereinigung der Parteien über die zuzuziehenden Sachverständigen die Rede (A.G.O. I. 10. §. 384; Anh. §. 64 zur A.G.O. I. 10. §. 38). Die Bestimmung in den Statuten, daß das gemeinschaftliche Urteil des Knappschaftsarztes, des Knappschaftsältesten und des ersten technischen Werkbeamten endgültig über die Arbeitsunfähigkeit entscheiden soll, ist eine solche im voraus erfolgte Vereinigung über den maßgebenden Ausspruch von Zeugen und Sachverständigen und ebenso verbindlich unter den Parteien, wie jede andere vertragsmäßige Abrede. Wird sie vom Kläger angezweifelt, so stellt er damit die Gültigkeit der gesamten Vereinsstatuten, also des Fundaments seines Anspruches in Frage, denn es ist bei einem Vertrage, wenn nicht die gegenteilige Absicht der Kontrahenten erkennbar ist, unstatthaft, einzelne Bestimmungen gelten zu lassen und andere zu beseitigen.
Die Nichtigkeitsbeschwerde rügt noch unter Bezugnahme auf A.L.R. 5. §. 71 (Unverbindlichkeit von Verträgen, deren Bestimmung und Erfüllung der Willkür des Verpflichteten überlassen sind), daß durch die angeführte Bestimmung in den Statuten in unzulässiger Weise den Organen und Beamten des Beklagten die Entscheidung überlassen und der erkrankte Arbeiter mehr oder weniger der Willkür der abhängigen Bediensteten der anderen Partei preisgegeben sei. Auch dieser Vorwurf ist nicht gerechtfertigt. Zunächst ist thatsächlich gar nicht festgestellt, daß die maßgebenden drei Personen: Knappschaftsarzt, Knappschaftsältester und erster technischer Werksbeamter Beamte des beklagten Knappschaftsvereins sind. Der Knappschaftsarzt erhält wahrscheinlich von dem Vereine für die Behandlung erkrankter Mitglieder ein festes Honorar. Dadurch wird er nicht Vereinsbeamter. Die Knappschaftsältesten sind ein aus den ersten Zeiten der Knappschaftseinrichtungen überkommenes Institut (Motive zur Regierungsvorlage zum Allg. Berggesetz vom 24. Juni 1865 §§. 178. 179 S. 102). Sie hängen mit den alten "Brudervätern", "Bruderladältesten" zusammen, werden nach §. 179 des Allg. Berggesetzes von den zum Vereine gehörigen Arbeitern und Beamten aus ihrer Mitte gewählt, vertreten die Knappschaftsmitglieder bei der Wahl des Vorstandes und haben im allgemeinen das Recht und die Pflicht, einerseits die Befolgung des Statuts durch die Knappschaftsmitglieder zu überwachen und andererseits die Rechte der letzteren gegenüber dem Vorstande wahrzunehmen. Sie sind nicht Mitglieder des nach §. 180 zusammengesetzten Knappschaftsvorstandes, ebensowenig wie dies bei dem ersten technischen Werksbeamten (§.168) der Fall ist (vgl. die entsprechenden §§. 50. 51. 59. 1 der Statuten). Sind diese drei Personen, der Knappschaftsarzt, der Knappschaftsälteste und der erste technische Werksbeamte, bei denen die Einwendungen der Nichtigkeitsbeschwerde nicht zutreffen, über die Arbeitsunfähigkeit des Arbeiters einig, so hat es dabei sein Bewenden. Nun steht - nach der Mitteilung des ersten Richters aus den Statuten - dem mit der Entscheidung der genannten drei Personen nicht zufrieden gestellten Arbeiter allerdings noch die Beschwerde bei dem Knappschaftsvorstande frei. Aus dieser Bestimmung der Statuten hat aber der Appellationsrichter einen Entscheidungsgrund nicht entnommen, und es ist ein näheres Eingehen auf diese Bestimmung nicht geboten. An sich schließt übrigens die Art, wie die Mitglieder des Knappschaftsvorstandes durch Wahl zusammengesetzt sind (Allg. Berggesetz §. 180 - früheres Gesetz vom 10. April 1854 §.5, G.S. S. 139 - Statuten des oberschlesischen Knappschaftsvereins §. 59) die Besorgnis parteiischer Interessenahme des Vorstandes für den Verein gegen den Unterstützung suchenden Arbeiter aus.
Während sich der Appellationsrichter auf das mit seiner Ausführung übereinstimmende Erkenntnis des preuß. Obertribunals vom 9. April 1877 (Entsch. Bd. 79 S 309) beruft, nimmt die Nichtigkeitsbeschwerde auf ein angeblich entgegenstehendes Erkenntnis des Reichsoberhandelsgerichts vom 3. Oktober 1876 (Entsch. des Reichsoberhandelsgerichts Bd. 21 S. 84) Bezug. Dieses letztere Erkenntnis behandelt einen ganz anderen Fall. In einem unter einer Anzahl von Uhrmachern geschlossenen Gesellschaftsvertrage war bestimmt, daß jedes Mitglied wegen Nichterfüllung seiner Pflichten durch einen Beschluß von zwei Drittteilen aller Socien ausgeschlossen werden könne und zwar unter Verlust seines Anrechts an bestimmten Bestandteilen des Gesellschaftsvermögens; zugleich war dem so Ausgeschlossenen "die Berufung auf richterliches Gehör" versagt. Eine solche Vereinbarung hat das Reichsoberhandelsgericht für unstatthaft erachtet."