RG, 24.06.1880 - V 385/79

Daten
Fall: 
Fluchtlinie
Fundstellen: 
RGZ 2, 279
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
24.06.1880
Aktenzeichen: 
V 385/79
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • KreisG Herford
  • Appellationsgericht Paderborn

Ist die Gemeinde, wenn sie zum Zwecke der Herstellung einer neuen Fluchtlinie ein Gebäude teilweise enteignet, auf Verlangen des Eigentümers unter allen Umständen verpflichtet, das gesamte Gebäude einschließlich der Gebäudefläche gegen Entschädigung zu übernehmen?

Tatbestand

Für die Holländerstraße der Stadt Herford war eine neue Straßenfluchtlinie festgesetzt. Diese nahm 8 Quadratmeter des mit einem Hause bebauten Grundstücks des Klägers, und zwar in der Richtung der ganzen Vorderfront des Hauses, in Anspruch. Bei dem zum Zwecke der Enteignung dieser Fläche eingeleiteten Verfahren verlangte Kläger die Übernahme des ganzen Gebäudes. Die Regierung zu Minden lehnte jedoch in ihrer Entscheidung vom 8. Mai 1878 dieses Verlangen ab und setzte statt dessen außer der Entschädigung für die 8 Quadratmeter eine solche für die infolge der Enteignung notwendig gewordenen baulichen Veränderungen und für die Wertverminderung des Restgebäudes fest. Kläger beschritt den Rechtsweg; er beantragte Verurteilung der Stadtgemeinde zur Übernahme des ganzen Gebäudes gegen angemessene Entschädigung. Das erste Gericht hat dem Antrag gemäß, das zweite Gericht hat auf Abweisung erkannt. Auf die Revision des Klägers ist das erste Erkenntnis wiederhergestellt, aus folgenden Gründen.

Gründe

"Der Appellationsrichter hält den Anspruch des Klägers, daß Beklagte sein ganzes Grundstück übernehme, für hinfällig, weil Kläger nicht behauptet habe, daß das Restgrundstück nach den baupolizeilichen Vorschriften des Ortes zur Bebauung nicht geeignet sei. Er stützt sich auf §. 13 Abs. 3 des Gesetzes vom 2. Juli 1875. Hierbei übersieht er aber, daß Kläger die Übernahme des ganzen Grundstückes seitens der Beklagten gar nicht verlangt, daß dessen Anspruch vielmehr nur auf Übernahme des ganzen Hauses Nr. 2 auf dem Holland gerichtet ist. Kläger stützt seinen Anspruch auf §. 9 Abs. 3 des Enteignungsgesetzes vom 11. Juni 1874.

Es ist zu untersuchen, in welchem Verhältnis die gedachten beiden Gesetze zu einander stehen.

Das Enteignungsgesetz führt sich im §. 1 mit den Worten ein:
Das Grundeigentum kann nur aus Gründen des öffentlichen Wohles für ein Unternehmen, dessen Ausführung die Ausübung des Enteignungsrechts erfordert, gegen vollständige Entschädigung entzogen oder beschränkt werden.

Bestimmte Gründe des öffentlichen Wohles sind hier nicht bezeichnet. Das Gesetz bezieht sich also, soweit nicht Reichsrecht entgegensteht, auf jede Enteignung oder Eigentumsbeschränkung ans Gründen des öffentlichen Wohles, soweit nicht an anderer Stelle dieses Gesetzes ausdrücklich Ausnahmen vorgeschrieben sind. Letzteres ist aber nur hinsichtlich der Enteignung im Interesse der Landeskultur, im Interesse des Bergbaus und im Interesse der Landestriangulation der Fall, indem im §. 57 bestimmt ist, daß das Gesetz auf sie keine Anwendung finde. Zu den Enteignungen und Eigentumsbeschränkungen aus Gründen des öffentlichen Wohles gehören aber auch diejenigen, welche zum Zweck der Geradelegung und Erweiterung öffentlicher Wege vorzunehmen sind. Bedürfte dieser Satz noch der Bestätigung durch das Gesetz selbst, so ist diese in §. 3 gegeben. Nach §. 2 nämlich erfolgt die Enteignung auf Grund Königlicher Verordnung. Nun bestimmt aber §. 3, daß es einer solchen nicht bedarf, wenn öffentliche Wege gerade gelegt oder erweitert werden, oder wenn Privatwege in öffentliche umgewandelt werden sollen, vorausgesetzt, daß das dafür in Anspruch genommene Grundeigentum außerhalb der Städte und Dörfer belegen und nicht mit Gebäuden besetzt ist; in diesem Fall wird die Zulässigkeit der Enteignung von der Bezirksregierung (Landdrostei) ausgesprochen. Mit den Grundsätzen von der Gesetzesinterpretation würde es unvereinbar sein, aus dem Umstände, daß für die Grablegung oder Verbreiterung von öffentlichen Wegen, wenn das in Anspruch genommene Grundeigentum innerhalb der Städte oder Dörfer liegt oder mit Gebäuden besetzt ist, keine besondere Bestimmung getroffen ist, zu schließen, daß das Gesetz auf diesen Fall überhaupt keine Anwendung finde. Aus diesem Umstände darf nur gefolgert werden, daß es zur Enteignung Königlicher Verordnung bedürfen sollte. Von selbst verstand sich, daß in diesem Falle das ganze Gesetz in allen einzelnen Teilen zur Anwendung gebracht werden mußte.

Wenn daher im folgenden Jahre, am 2. Juli 1875, ein besonderes Gesetz betreffend die Anlegung und Veränderung von Straßen und Plätzen in Städten und ländlichen Ortschaften erlassen wurde, so fand dieses, was die Enteignung betrifft, einen vollständig geregelten Gesetzeszustand vor. Auch hat es denselben keineswegs vollständig aufgehoben. Denn es bestimmt in §.19 nur:

Alle den Bestimmungen dieses Gesetzes entgegenstehenden allgemeinen und besonderen gesetzlichen Vorschriften werden hierdurch aufgehoben.

Es ist daher weiter zu prüfen, inwiefern die Bestimmungen des Enteignungsgesetzes denen des Gesetzes von 1875 entgegenstehen.

Die Entschädigung selbst anlangend, enthält nur §. 13 des Gesetzes von 1875 dieserhalb Bestimmungen. Im ersten Absatz ist eine wesentliche Abänderung des Enteignungsgesetzes und zwar des oben wiedergegebenen §. 1 desselben enthalten, welcher bestimmt, daß das Grundeigentum nur gegen vollständige Entschädigung entzogen oder beschränkt werden kann. §. 13 bestimmt in Abs. 1 entgegengesetzt, daß Entschädigung nur in drei dort ganz genau bestimmten Fällen gefordert werden kann. Trotz dieser allgemeinen Fassung betrifft die Abänderung und der Gegensatz nur die Beschränkung des Grundeigentums. Denn falls es um die Abtretung von Grundflächen für den öffentlichen Verkehr - um die Entziehung des Grundeigentums - sich handelt (Fall Nr. 1), ist jedesmal Entschädigung zu gewähren. Dieselbe ist aber auch außer dem Fall der Abtretung zu gewähren, wenn der Grundeigentümer ein mit Gebäuden besetztes Grundstück bis zur neuen Straßenfluchtlinie von Gebäuden freilegt und dasselbe gemäß des Plans nicht wieder bebauen darf (Fall 2), und ferner, wenn nach dem Plan eine auf eine bestehende Straße stoßende oder sie schneidende Straße angelegt werden soll, und der Eigentümer eines an die bestehende Straße angrenzenden Bauplatzes diesen in der Fluchtlinie der neuen Straße bebaut (Fall 3). In allen diesen Fällen wird Entschädigung wegen der zu Straßen und Plätzen "bestimmten Grundfläche" für Entziehung des Grundeigentums gewährt. Entschädigung wird aber ferner gewährt, wenn und soweit der Grundeigentümer ein mit Gebäuden besetztes Grundstück von Gebäuden bis zu der von der Straßenfluchtlinie abweichenden Baufluchtlinie freilegt; in diesem Fall erhält derselbe aber nur eine für die Beschränkung des Eigentums zu bemessende Entschädigung. §. 13 Abs. 2.

Durch alle diese Bestimmungen wird die Frage betreffs der Art und Höhe der Ansprüche des Grundeigentümers nicht berührt. Auf diese bezieht sich zunächst die Verweisung im Abs. 2 auf §.12 des Enteignungsgesetzes betreffs der Entschädigung für die bloße Beschränkung des Eigentums. Gedachter §.12 aber bestimmt nur, daß die Entschädigung nach denselben Grundsätzen zu bestimmen sei, wie für die Entziehung des Eigentums, und trifft Vorsorge für den Fall, daß die Nachteile bei Anordnung der Beschränkung nicht im voraus abgeschätzt werden können. Sodann enthalten Abs. 3 und 4 des §. 13 des Gesetzes von 1875 folgende Bestimmung:

In allen obengedachten Fällen (Fälle 1-3 des Abs. 1) kann der Eigentümer die Übernahme des ganzen Grundstücks verlangen, wenn dasselbe durch die Fluchtlinie entweder ganz oder soweit in Anspruch genommen wird, daß das Restgrundstück nach den baupolizeilichen Vorschriften des Ortes nicht mehr zur Bebauung geeignet sei. Bei den Vorschriften dieses Paragraphen ist unter der Bezeichnung Grundstück jeder im Zusammenhange stehende Grundbesitz des nämlichen Eigentümers begriffen. Anderweitige Bestimmungen über die Art und Höhe der Ansprüche des Grundeigentümers - über die Grundsätze der Entschädigung - enthält das Gesetz von 1873 an keiner Stelle. Schon hierdurch ist die Annahme ausgeschlossen, daß das Gesetz, soweit es nicht ausdrücklich auf das Enteignungsgesetz Bezug nimmt, die Enteignung und die Entschädigungsfrage vollständig selbständig und ohne Rücksicht auf das Enteignungsgesetz ordne. Denn es würde in Bezug auf die Entschädigungsfrage vollkommen lückenhaft sein. Vielmehr ergiebt sich, daß nach dieser Richtung hin auf das Enteignungsgesetz als das die Enteignung im allgemeinen regelnde Gesetz zurückgegangen werden muß, und daß dieses soweit zur Anwendung kommt, als ihm nicht die Bestimmungen des Gesetzes von 1875 entgegenstehen. Eine Bestätigung dessen ergiebt sich auch aus §. 14, indem dieser, wie oben bemerkt ist, auf die §§. 24 flg. des Enteignungsgesetzes verweist, §. 25 des letzteren aber im letzten Absätze der Ansprüche aus §. 9 (des Enteignungsgesetzes) ausdrücklich gedenkt.

Das Enteignungsgesetz behandelt nun die Entschädigungsfrage in Titel II "Von der Entschädigung" (§§. 7-14). Es erübrigt daher nur, zu prüfen, ob die oben wiedergegebene Bestimmung des §.13 des Gesetzes von 1875 einer der Bestimmungen des Titel II entgegensteht. Von diesen kann hier nur §. 9 in Erwägung kommen. Derselbe bestimmt:

  1. Wird nur ein Teil von einem Grundstücke in Anspruch genommen, so kann der Eigentümer verlangen, daß der Unternehmer das Ganze gegen Entschädigung übernimmt, wenn das Grundstück durch die Abtretung so zerstückelt werden würde, daß das Restgrundstück nach seiner bisherigen Bestimmung nicht mehr zweckmäßig benutzt werden kann.
  2. Trifft die geminderte Benutzbarkeit nur bestimmte Teile des Nestgrundstücks, so beschränkt sich diese Pflicht zur Übernahme auf diese Teile.
  3. Bei Gebäuden, welche teilweise in Anspruch genommen werden, umfaßt diese Pflicht jedenfalls das gesamte Gebäude.
  4. Bei den Vorschriften dieses Paragraphen ist unter der Bezeichnung "Grundstück" jeder im Zusammenhang stehende Grundbesitz des nämlichen Eigentümers begriffen.

Der Paragraph sondert ganz scharf zwei Fälle. Abs. 1 und 2 handeln von der Inanspruchnahme eines Teiles von Grundstücken, Abs. 3 betrifft die Inanspruchnahme eines Teiles von Gebäuden. Im ersten Fall kann die Übernahme des Ganzen (des Restgrundstücks) oder weiterer Teile nur unter gewissen Voraussetzungen, im zweiten Fall dagegen kann die Übernahme des Ganzen (des gesamten Gebäudes) unter allen Umständen verlangt werden.

Ans dem Wortlaute des Abs. 3 des §. 13 des Gesetzes von 1875 kann nicht entnommen werden, daß demselben der §. 9 des Enteignungsgesetzes entgegenstehe, was nur dann klar vorläge, wenn es hieße: In allen obengedachten Fällen kann der Eigentümer die Übernahme des ganzen Grundstücks nur verlangen, wenn u. s. w. Statt dessen heißt es: "er kann verlangen, wenn u. s. w." Der Wortlaut: "des ganzen Grundstücks", "daß das Restgrundstück ... nicht mehr zur Bebauung geeignet ist", welches letztere nur bei einem nicht bebauten Grundstück gesagt werden kann, ergiebt dagegen, daß der Absatz sich lediglich auf den Fall des Verlangens der Übernahme des ganzen Grundstücks bezieht, indem der Absatz nur für diesen Fall die Voraussetzung fixiert, bei deren Vorhandensein das Verlangen als ein gesetzlich begründetes zu erachten ist. Für den vorliegenden Prozeß kann es nun dahin gestellt bleiben, ob diese Voraussetzung die einzige den Anspruch begründende sein soll, oder ob sie als eine fernere der in §. 9 des Enteignungsgesetzes aufgestellten Voraussetzung hinzugefügt ist.

Was dagegen den zweiten im §. 9 des Enteignungsgesetzes gedachten Fall betrifft, daß nämlich ein Gebäude nur teilweise in Anspruch genommen wird, so wird derselbe von §. 13 Abs. 3 des Gesetzes von 1875 gar nicht berührt. Demselben steht daher die Bestimmung des §. 9 Abs. 3 des Enteignungsgesetzes in keiner Weise entgegen. Mithin kommt letztere Vorschrift auch in allen denjenigen Fällen, in welchen nach §. 13 Abs. 1 des Gesetzes von 1875 Entschädigung gefordert werden kann, zur Anwendung. Gelangt man zu diesem Resultat schon aus den Worten des Gesetzes, so bedarf es eines Eingehens auf die legislatorischen Vorarbeiten nicht. Übrigens ist zu bemerken, daß dieselben dieser Auffassung an keiner Stelle widersprechen.

Im gegenwärtigen Prozeß liegt der erste der drei Fälle des §.13 Abs. 1 des Gesetzes von 1875 vor. Es wird die zu Erweiterung einer Straße bestimmte Grundfläche des Klägers auf Verlangen der Verklagten für den öffentlichen Verkehr in Anspruch genommen. Kläger soll dieselbe inhaltlich der Entscheidung der Königlichen Regierung zu Minden vom 8. Mai 1678 abtreten. Das Grundstück ist mit einem Gebäude besetzt. Dieses wird nur teilweise in Anspruch genommen. Kläger verlangt aber, daß Beklagte das ganze Gebäude gegen Entschädigung übernehme. Nach dem Vorhergehenden ist dieser Anspruch gesetzlich begründet. In der gegenwärtigen Instanz hat Kläger seinen Klageantrag dahin erläutert, daß er principaliter die Übernahme des Gebäudes, einschließlich des Grund und Bodens, soweit es auf diesem steht, verlange. Es könnte zwar scheinen, als ob das Enteignungsgesetz, indem es von Übernahme des ganzen Gebäudes im Gegensatz zur Übernahme des Restgrundstücks spricht, mit diesem Gegensatz zugleich habe ausdrücken wollen, daß der Unternehmer das Gebäude nur auf den Abbruch zu übernehmen verpflichtet sei. Gegen solche Annahme spricht aber, daß der Gegensatz eine ganz andere, nämlich die oben entwickelte Bedeutung hat. Außerdem ergiebt sich aus dem oben allegierten §. 25 Abs. 7 des Enteignungsgesetzes, daß der §. 9 überall nur eine Grundstücksübernahme betrifft; denn hier wird zwischen Restgrundstücken und Gebäuden nicht unterschieden. Jeder Zweifel löst sich aber aus dem Berichte der Kommission des Abgeordnetenhauses (Anl. zu den stenographischen Berichten 1871/72 Band III Seite 1209). Die Kommission hatte den §. II (jetzt 9) des Entwurfs zum Enteignungsgesetz von 1871 den Abs. 3 neu hinzugefügt. In dem Berichte heißt es:

§.11 statuiert eine weitere Ausnahme (nämlich von der Regel, daß nur das zur Anlage zu verwendende Grundeigentum zu enteignen ist) zu Gunsten des Eigentümers für den Fall, daß ein verbleibendes Restgrundstück für ihn keinen erheblichen Wert mehr behält. Da soll der Unternehmer nicht mit Zahlung der vollen Entschädigung für den seinerseits nur in Anspruch genommenen Teil fortkommen, vielmehr zur Mitübernahme des ganzen Restgrundstücks verpflichtet werden. Die Kommission fand dies billig und acceptierte den Gedanken des Entwurfs, indem sie ihn redaktionell etwas anders faßte. Das gebrauchte Wort "jedenfalls" im letzten (jetzt dritten) Absatz soll ausdrücken, daß bei Enteignung eines Gebäudeteils die Vorschrift dieses Paragraphen sich stets auf das ganze Gebäude bezieht, daß unter Umständen aber auch noch sonstiges Areal das mit dem Gebäude in Verbindung steht, darunter fallen kann. Dieses ergiebt, daß die Kommission unter "Gebäude" das Bauwerk einschließlich des Areals, auf welchem es steht, verstanden hat. Es hat unter Umständen auch gestattet werden sollen, daß der Eigentümer die Übernahme auch noch weiteren Areals verlangen könne. Dieses hätte aber keinen Sinn, wenn der Eigentümer nur die Übernahme des Bauwerks auf den Abbruch hätte verlangen dürfen. Die Absätze 1-3 sind Gesetz geworden und ist dieses im Zweifel so auszulegen, wie der Verfasser des Gesetzes es verstanden hat. Ist demnach der Klageanspruch in demjenigen Sinn, wie Kläger ihn als principalen nach seiner Erläuterung in dieser Instanz hat feststellen lassen wollen, gerechtfertigt, so versteht sich auch von selbst, daß der Tenor des hiernach wiederherzustellenden ersten Erkenntnisses in gleichem Sinne zu verstehen ist."