RG, 11.06.1880 - III 388/79
Anwendbarkeit des §. 1 des Haftpflichtgesetzes vom 7. Juni 1871 auf Arbeitsbahnen.1
Aus den Gründen
"Bereits in mehreren Entscheidungen hat das Reichsgericht ausgesprochen, daß der §. 1 des Reichsgesetzes vom 7. Juni 1871 auch aus solche Unfälle zu beziehen sei, welche sich bei dem Betriebe sogenannter Arbeitsbahnen ereignen, vorausgesetzt nur, daß eine derartige Bahn in Ansehung der Gefährlichkeit des Betriebes einer zum allgemeinen Verkehre bestimmten Eisenbahn gleich stehe. Es bedarf daher keiner grundsätzlichen Erörterung dieser von dem vormaligen Reichsoberhandelsgerichte in demselben Sinne beantworteten Frage (Entsch. Bd. 20 S. 151, Bd. 25 S. 203).
Das Appellationsgericht verkennt den richtigen Gesichtspunkt nicht. Es nimmt aber an, daß die besondere Gefährlichkeit des Betriebes, welche die Unterstellung gewisser Arbeitsbahnen unter §. 1 des Haftpflichtgesetzes bedinge, auf der Anwendung der Dampfkraft zu sehr beschleunigter Fortbewegung auf Eisenbahnschienen beruhe, und gelangt, indem es thatsächlich feststellt, daß im vorliegenden Falle eine solche gefahrdrohende Schnelligkeit der Beförderung der Materialwagen auf dem Schienengeleise nicht dargethan sei, unter Bestätigung des erstinstanzlichen Erkenntnisses zur Abweisung der erhobenen Schadensersatzklage.
Die Benutzung der Dampfkraft zur Fortbewegung von Wagen ist indessen weder bei den dem öffentlichen Verkehre übergebenen Eisenbahnen, noch bei sogenannten Arbeitsbühnen notwendige Voraussetzung der Haftverbindlichkeit des Betriebsunternehmers für Unfälle der in Rede stehenden Art; sonst würde, wie es doch zweifellos der Fall ist, eine Pferdeeisenbahn nicht als Eisenbahn2 und das ohne Verwendung einer Lokomotive vorgenommene Rangieren von Wagen nicht als Betriebshandlung im Sinne des Gesetzes erscheinen.
Bei der Beurteilung der Frage, ob der Betrieb einer dem öffentlichen Verkehre nicht übergebenen Eisenbahn die Gefahren des gewöhnlichen Eisenbahnbetriebes mit sich führe, kommen vielmehr alle Umstände des Falles - die Länge und Bauart der Bahn, die Art und Weise des Betriebes, die Notwendigkeit oder Rätlichkeit von Schutzvorrichtungen und Sicherheitsmaßregeln - in Betracht. Insbesondere ist die Verwendung von Lokomotiven nur als ein besonderes Moment für die Entscheidung heranzuziehen, die größere oder geringere Fahrgeschwindigkeit der Züge von mehr untergeordneter Bedeutung.
Danach beruht die thatsächliche Feststellung des Appellationsrichters ihrem Grunde nach auf einer rechtsirrtümlichen Auslegung des §. 1 des Haftpflichtgesetzes; es ist die Rüge des Imploranten begründet und das angefochtene Erkenntnis zu vernichten.
Bei freier Beurteilung muß, vorbehaltlich der Festsetzung der Höhe des Schadenersatzes, nach der Klagbitte erkannt werden, falls dem Beklagten der Nachweis der Einrede des eigenen Verschuldens des Verunglückten nicht gelingt.
Die fragliche Arbeitsbahn diente unbestritten zur Materialbeförderung bei dem Bau der Kassel-Waldkappler Eisenbahn. Der Kläger wurde am 22. Mai 1878 als Bremser bei einem Materialzuge verwendet und verunglückte durch Entgleisung zweier Wagen der Art, daß ihm der linke Fuß abgenommen werden mußte. Er verlangt Schadensersatz auf Grund der §§. 1 und 3 des Reichsgesetzes vom 7. Juni 1871.
Die in voriger Instanz abgehörten sachverständigen Zeugen haben übereinstimmend bekundet, daß die Arbeitsbahn zur Zeit des Unfalls auf eine Länge von 1 1/4 Kilom. hergestellt und mit einem einspurigen, etwa die Hälfte einer gewöhnlichen Eisenbahnspurweite einnehmenden Geleise versehen gewesen sei; letzteres habe einen ziemlich bedeutenden Fall gehabt und sei stets nur von einem aus etwa 20 Wagen bestehenden Zuge, im Durchschnitt täglich mit 15 Zügen befahren worden. Beide Sachverständige sind der Ansicht, daß zwar bei der geringen Schnelligkeit der Arbeitszüge - sieben Kilometer auf die Stunde - und bei der besonderen Konstruktion des Materials der Betrieb der gedachten Bahn an sich weniger gefährlich sei, als derjenige einer dem öffentlichen Verkehre dienenden Eisenbahn, daß jedoch eine besondere Gefahr für jenen Betrieb darin liege, daß häufig einzelne Wagen aus dem Geleise gesetzt würden. Während aber der Experte C. annimmt, daß, wenn nicht unvorsichtig gefahren werde, ein solcher Zufall in der Regel ohne besondere nachteilige Folgen sei, und aus diesem Grunde in Verbindung mit dem Umstände, daß der Lokomotivführer stets in der Lage sei, den Zug in der kürzesten Frist zum Stillstande zu bringen, die fragliche Arbeitsbahn einer gewöhnlichen Eisenbahn nicht gleichstellen zu dürfen glaubt - ist der Sachverständige Th. anderer Meinung; er hält durch die unsichere und ungenügende Konstruktion sowohl solcher Arbeitsbahnen überhaupt, als auch insbesondere der hier in Rede stehenden die aus der geringeren Fahrgeschwindigkeit der Züge hervorgehende mindere Gefährlichkeit für aufgewogen.
Nun wird gerade durch den ziemlich bedeutenden Fall des Schienengeleises und die hieraus, sowie aus dem Zustande der Bahnstrecke sich ergebende Gefahr der häufigen Entgleisung einzelner Wagen die Anwendung des §. 1 des Haftpflichtgesetzes bedingt. Beides ist von unmittelbarem Einfluß auf den Betrieb, wie schon daraus hervorgeht, daß der Unternehmer, ungeachtet der geringen Schnelligkeit in der Fortbewegung der Materialzüge auf einer verhältnismäßig kurzen Strecke, sich veranlaßt fand, Bremser bei den Wagen zu verwenden. Dem Appellationsrichter ist nicht beizutreten, wenn er ausführt, daß jene Momente in dem gegenwärtigen Rechtsstreite außer Berücksichtigung bleiben müßten, weil sie nicht mit den besonderen Gefahren der Verkehrseisenbahnen, sondern mit dem "Unterbau des Dammes" - dem Bahnkörper - in Zusammenhang ständen.
Zur Beweiserhebung und Entscheidung über die Einrede des eigenen Verschuldens und eventuell über die Höhe des dem Kläger zuzubilligenden Schadensersatzes ist die Sache an die zweite Instanz zurückzuverweisen."