RG, 11.05.1880 - III 78/80
Nachforderung gesetzlicher Zinsen nach rechtskräftig abgeurteilter Hauptsache.
Tatbestand
Der Kläger A. hatte zum Zwecke der Herstellung einer Straße ein ihm gehöriges Grundstück an die Stadt C. im Expropriationswege abzutreten. Da er mit der von der Administrativbehörde festgesetzten Entschädigungssumme sich nicht begnügen wollte, erhob er gerichtliche Klage, deren Erfolg eine nicht unbeträchtliche Erhöhung seiner Entschädigung war. Die Beklagte, welche inmittelst nach Deponierung der regierungsseitig normierten Expropriationssumme den Vollzug der Enteignung herbeigeführt hatte, zahlte dem Kläger den ihm rechtskräftig zuerkannten Mehrbetrag, welche Zahlung der Kläger unter Vorbehalt seiner Zinsansprüche annahm. Nunmehr klagte letzterer die Zinsen aus dem fraglichen Mehrbetrage vom Vollzuge der Enteignung an ein und erreichte in erster Instanz ein ihm günstiges Erkenntnis, wogegen die zweite Instanz den Klageanspruch abwies, weil die Nachforderung von Zinsen aus einem Kapitale, über welches bereits rechtskräftig abgeurteilt worden, nicht zulässig sei. Das Reichsgericht, an welches die Sache im Wege der Nichtigkeitsbeschwerde gelangte, hob das Urteil der zweiten Instanz als nichtig auf und bestätigte das erstinstanzliche Erkenntnis aus folgenden Gründen:
Gründe
"Zur vollständigen Entschädigung, welche dem Eigentümer in Expropriationsfällen zu gewähren ist, gehört der Ersatz des Wertes des enteigneten Grundstückes und die Vergütung der Zinsen aus dieser Wertssumme vom Tage der Enteignung bis zu deren Auszahlung. Beiderlei Ansprüche, die Zinsenforderung wie der Anspruch auf den Wert des expropriierten Objektes, beruhen auf der Vorschrift des Gesetzes vom 11. Juni 1874 und bilden die Bestandteile der dem Expropriaten zukommenden Gesamtentschädigung. Für beide Ansprüche besteht denn auch die nämliche actio ex lege.
Ist dieses Rechtsmittel angewandt, um einen Teil der Hauptsumme zur gerichtlichen Geltung zu bringen, so bleibt der andere Teil der Entschädigungsforderung zweifellos in Kraft. Das Gleiche muß aber auch zutreffen, wenn die gesamte Hauptsumme ohne die Zinsansprüche eingeklagt worden ist; denn die letzteren bilden mit der ersteren die dem Expropriaten gebührende Entschädigung und sind, wie sie, ein Bestandteil derselben. Untergegangen durch den Richterspruch über die Hauptsache könnten die nicht eingeklagten Accessorien nur dann erscheinen, wenn ihre Nichteinklagung als Verzicht auf deren Geltendmachung aufzufassen wäre, oder wenn in dem Urteil über die Hauptforderung jederzeit ein stillschweigendes Aberkennen aller etwaigen Nebenforderungen erblickt werden müßte.
Ob ersteres ausnahmsweise der Fall, kann eine Frage des konkreten Sachverhältnisses sein, die letztgedachte Annahme aber ist nach heutigem Rechte ausgeschlossen. Gilt nämlich heutzutage die sogenannte negative Funktion der exceptio rei judicatae nicht mehr, und giebt es nach den neueren prozessualischen Grundsätzen überhaupt kein stillschweigendes Aberkennen von Ansprüchen, die nicht klagbar gemacht worden sind, so ist schlechterdings kein Grund vorhanden, in den Folgen des Urteiles für die einzelnen Bestandteile einer Gesamtforderung zu unterscheiden und demnächst dem Urteile über die Hauptsache eine zerstörende Wirkung gegenüber den Accessionen beizulegen, welche dem Urteil über einen Teil der Hauptsache gegenüber den anderen Teilen der Gesamtforderung nicht zugestanden wird. Vgl. Entsch. des R.O.H.G.'s Bd. 9 Nr. 71 S. 230; Bd. 21 Nr. 104 S. 320; Windscheid, Pandekten §. 259 Note 10 und §. 130 Note 24.
Im vorliegenden besonderen Falle kann nicht der mindeste Zweifel darüber herrschen, daß der Kläger durch die vorgängige Einklagung der Expropriationssumme auf die jetzt geforderten Zinsen aus derselben nicht verzichtet hat, und daß der Richter des Vorprozesses mit seinem Urteil über den Wert des enteigneten Objektes nicht auch diese Zinsen hat aberkennen wollen. Der Kläger hatte mit Erhebung des Vorprozesses den Versuch gemacht, eine Erhöhung der ihm regierungsseitig zugebilligten Expropriationssumme auf dem Rechtswege zu erreichen; als aber der Versuch geglückt und inzwischen die Enteignung vollzogen war, nahm er die erstrittene Summe nur unter dem Vorbehalt einer nachträglichen Zinsenforderung an und setzte diesen Vorbehalt durch die Erhebung der gegenwärtigen Klage ohne weiteres in Vollzug. In diesem Verhalten liegt nichts, was auf einen durch die Nichteinklagung der fraglichen Zinsen in dem Vorprozesse ausgesprochenen Verzicht hindeuten würde, und ebensowenig liegt in dem Verfahren des früheren Richters, dem Tenor und den Gründen seines Urteiles, irgend welcher Anhalt für die Unterstellung, daß er die betreffenden, nicht eingeklagten Zinsen habe aberkennen wollen und aberkannt habe.
Indem daher der Kläger den ihm nach §. 36 des oben erwähnten Gesetzes vom Tage der Enteignung an zustehenden Zinsenanspruch im gegenwärtigen Rechtsstreite einklagt, kann ihm das Urteil des Vorprozesses nicht entgegengehalten werden.
Dem entsprechend ist das Urteil des Appellationsgerichtes als nichtig aufzuheben und, was nach der materiellen Sachlage keinem Anstande unterliegen kann, das die Beklagte verurteilende Erkenntnis der ersten Instanz zu bestätigen."