RG, 15.01.1880 - Va 113/79

Daten
Fall: 
Entschädigungspflicht der Gemeinde bei Beeinträchtigung von Grundeigentum
Fundstellen: 
RGZ 1, 171
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
15.01.1880
Aktenzeichen: 
Va 113/79
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • Stadtgericht Königsberg i. Pr.
  • Ostpreußisches Tribunal Königsberg i. Pr.

Ist eine Stadtgemeinde, welche nach §. 13 des Gesetzes vom 2. Juli 1875 wegen Entziehung oder Beschränkung des von der Festsetzung einer neuen Fluchtlinie betroffenen Grundeigentumes zu entschädigen hat, verpflichtet, behufs Feststellung der Entschädigung die Einleitung des durch die §§. 24 ff. des Gesetzes vom 11. Juni 1874 angeordneten Administrativverfahrens zu beantragen?

Tatbestand

Im Sommer 1876 ist von dem Magistrate zu Königsberg i. Pr., zum Zwecke der Straßenverbreiterung eine Baufluchtlinie festgesetzt worden, durch welche das in der Wassergasse daselbst belegene Grundstück des Kaufmanns P. betroffen wurde. Dieser hat darauf das auf seinem Grundstücke befindliche Gebäude bis zu der festgesetzten Fluchtlinie zurückgezogen, der Magistrat aber die freigelegte Fläche in Besitz genommen, pflastern lassen und zur Wassergasse gezogen.

Der Magistrat erkannte die Verpflichtung der Stadtgemeinde, den P. dieserhalb zu entschädigen, an, weigerte sich aber behufs Feststellung der Entschädigung die Einleitung des durch die §§. 24.ff. des Gesetzes vom 11. Juni 1874 angeordneten Administrativverfahrens zu beantragen, und stellte dem P. mittels Schreibens vom 5. Juli 1877 anheim, seinen Entschädigungsanspruch im Rechtswege geltend zu machen.

Demzufolge wurde P. klagbar, beantragte aber: die Stadtgemeinde zu verurteilen, in Gemäßheit der §§. 24 und 56 lit. a. des Gesetzes vom 11. Juni 1874 den Antrag auf Feststellung der Entschädigung bei dem Präsidenten der Königlichen Regierung zu Königsberg anzubringen.

Diesem Antrage gemäß verurteilte der erste Richter die Beklagte. Auf deren Appellation wies der zweite Richter die Klage ab.

Infolge der von dem Kläger eingelegten Revision ist das erste Erkenntnis wiederhergestellt.

Gründe

"Es steht fest, daß die von dem Magistrate festgesetzte Baufluchtlinie das Gebäude des Klägers betroffen hat und daß der Kläger sein Grundstück bis zur Fluchtlinie von dem Gebäude freigelegt hat. Es handelt sich also um eine Entschädigung, welche dem Kläger nach §.13 Nr. 2 des Gesetzes vom 2. Juli 1875 wegen Entziehung seines von der Festsetzung der neuen Fluchtlinie betroffenen Grundeigentumes zu gewähren ist. Der §. 14 a. a. O. bestimmt aber ausdrücklich, daß für die Feststellung derartiger Entschädigungen die §§. 24 ff. des Gesetzes über Enteignung von Grundeigentum vom 11. Juni 1874 zur Anwendung kommen, und diese Paragraphen schreiben ein geregeltes, bei der betreffenden Administrativbehörde zu beantragendes Verfahren vor. Die Ansicht der Beklagten, daß dieses Verfahren nur dann eintreten soll, wenn der betroffene Grundeigentümer sein Grundstück bis zur Fluchtlinie freizulegen sich weigert, findet weder in dem §. 14, noch sonst in dem Gesetze vom 2. Juli 1875 einen Anhalt und kann jedenfalls nicht daraus gefolgert werden, daß auch wegen Vollziehung der Enteignung auf das Gesetz vom 11. Juni 1874 §§. 24 ff. Bezug genommen ist.

Allerdings bestimmt der §. 24 des Gesetzes vom 11. Juni 1874, daß das administrative Verfahren von dem Unternehmer in Antrag zu bringen ist, und daraus folgt, daß das Verfahren nicht eingeleitet werden kann, wenn der Unternehmer nicht einen darauf gerichteten Antrag stellt, keineswegs aber, daß es in einem Falle, wie dem vorliegenden, lediglich in dem Belieben der Beklagten, als der Unternehmerin, steht, ob sie das gedachte Verfahren beantragen will, oder nicht. Daß das Gesetz vom 11. Juni 1874 die Einleitung des Administrativverfahrens von dem Antrage des Unternehmers und nicht auch von dem des Expropriaten abhängig macht, erklärt sich hinreichend durch die aggressive Stellung, welche es dem Unternehmer anweist. Da nach §. 32 a. a. O. die Enteignung erst ausgesprochen werden darf, wenn die festgestellte Entschädigungs- oder Kautionssumme gezahlt oder hinterlegt ist, so liegt es in den Fällen der Enteignung nach Maßgabe des Gesetzes vom 11. Juni 1874 in der Regel allein in dem Interesse des Unternehmers, daß die Entschädigung festgestellt wird. Geschieht dies nicht, so erfolgt auch keine Enteignung. Anders verhält es sich da, wo eine Entschädigung unter Umständen, wie den vorliegenden, beansprucht wird. Der Kläger hat, nachdem er die erlangte Freilegung seines Grundstückes bewirkt hat, ein Recht darauf zu verlangen, daß die Entschädigung nach Vorschrift des Gesetzes, also nach Vorschrift des §. 14 a. a. O. festgestellt werde, und, da hierzu die Stellung eines Antrages seitens der Beklagten erforderlich ist, so steht ihm auch das Recht zu, zu verlangen, daß die Beklagte diesen Antrag stelle. Die Verpflichtung derselben, das in den §§. 24 ff. des Gesetzes vom 11. Juni 1874 vorgeschriebene Verfahren zu beantragen, folgt aus ihrer Verpflichtung, den Kläger nach Maßgabe des Gesetzes zu entschädigen, nachdem sie das freigelegte Grundstück zur Straße gezogen hat.

Die Aktenstücke des preußischen Abgeordnetenhauses aus dem Jahre 1875, auf welche die Beklagte sich beruft, enthalten nichts, was ihre Auslegung des §. 14 des Gesetzes vom 2. Juli 1875 zu rechtfertigen geeignet wäre. Die Nr. 23 der Drucksachen teilt die Regierungsvorlage mit, welche aber in dem korrespondierenden §. 11 den hier in Frage stehenden ersten Absatz des §. 14 noch nicht enthält. Die Nr. 279 und 404 geben Entwürfe des Gesetzes nach den Beschlüssen des Abgeordnetenhauses. In denselben hat der §. 14 bereits seine gegenwärtige Fassung, Motive sind ihnen aber nicht beigefügt.

Wenn auch dem Appellationsrichter darin beizutreten wäre, daß der §. 16 des Gesetzes vom 11. Juni 1874 auf die Festsetzung der nach §. 13 des Gesetzes vom 2. Juli 1875 zu gewährenden Entschädigungen analog in Anwendung zu bringen ist, so würde daraus immer nur folgen, daß je nach Verabredung der Beteiligten die Feststellung der Entschädigung auch sofort im Rechtswege erfolgen kann. Die Beteiligten müßten also über den einzuschlagenden Weg einverstanden sein. Vorliegend sind aber die Parteien gerade darüber in Streit, ob die Entschädigung sofort im Rechtswege, oder zunächst im Administrativverfahren festgestellt werden soll. Da der Magistrat der beklagten Stadtgemeinde mittels Schreibens vom 5. Juli 1877 auf die Einleitung des Administrativverfahrens zu provozieren abgelehnt und dem Kläger anheimgestellt hat, gegen die Beklagte auf Entschädigung zu klagen, nimmt der Appellationsrichter unter Anwendung des §. 16 auf den vorliegenden Fall an, daß dem Kläger der Rechtsweg nicht zu versagen gewesen wäre, wenn er seinen Klagantrag sofort auf Zahlung einer bestimmten Entschädigung gerichtet hätte. Die Richtigkeit dieser Ansicht kann dahin gestellt bleiben. Jedenfalls wäre es ein Fehlschluß, wenn man daraus weiter folgern wollte, daß dem Kläger kein Recht zusteht, die Einleitung des Administrativverfahrens zu verlangen. Aus der von der Beklagten gleichfalls in Bezug genommenen Nr. 6 der Drucksachen des preußischen Abgeordnetenhauses von 1871/72, welche den Regierungsentwurf zu dem Gesetze vom 11. Juni 1874 enthält, ergiebt sich zwar, daß dieser im Falle des §. 16 bloß eine Feststellung der Entschädigung im Rechtswege zulassen wollte. Nach dem, was der bereits von dem ersten Richter erwähnte Kommentar von Bähr und Langerhans zu dem Gesetze vom 11. Juni 1874 über die Entstehungsgeschichte des §. 16 (Seite 60 Anmerkung 4) mitteilt, war jedoch die Kommission des Abgeordnetenhauses der Ansicht, daß den Beteiligten die Wohlthat einer vorgängigen kostenfreien, administrativen Festsetzung, wenn sie dieselbe begehren, nicht entzogen werden dürfe, und darauf erhielt der §. 16 seine gegenwärtige Fassung. Dies spricht entschieden gegen die Auffassung der Beklagten, welche daraus, daß das Administrativverfahren von dem Unternehmer zu beantragen ist, schließen zu wollen scheint, dasselbe sei lediglich im Interesse des Unternehmers vorgeschrieben. Jedenfalls haben dabei auch die Interessen derjenigen berücksichtigt werden sollen, welche in Rücksicht auf das gemeine Wohl Eigentumsrechte aufzugeben genötigt sind. Für sie erfolgt im Administrativverfahren die Festsetzung der Entschädigung kostenfrei und der Unternehmer hat sogar, wenn er sich bei dieser Festsetzung nicht beruhigt, sondern den Rechtsweg beschreitet, nach §. 30 a. a. O. unter allen Umständen die Kosten erster Instanz zu tragen. Überhaupt gewährt das Administrativverfahren Vorteile, welche der Interessent nicht hat, wenn er sofort mit einer bestimmten Entschädigungsforderung vor Gericht auftritt, und diese Vorteile dürfen dem Kläger durch die ungerechtfertigte Weigerung der Beklagten, das Administrativverfahren zu beantragen, nicht verkümmert werden."