RG, 27.01.1880 - II 182/79
Schadensersatzklage einer Witwe und eines Kindes aus einer erst nach dem Unfalle geschlossenen Ehe.1 – Beginn der Verjährung.
Tatbestand
F., welcher im Jahre 1872 beim Betriebe der Eisenbahn der Bekl. verunglückt war, führte hierwegen einen Prozeß, verheiratete sich im Laufe desselben (1874) und starb 1875. Seine Witwe und das bald nach der Eheschließung geborene Kind erhoben nun eine neue Klage auf Schadensersatz, in welcher sie behaupteten, daß der Tod des F. infolge der erlittenen Verletzung eingetreten sei. Die Bekl. bestritt, daß diese Personen zur Klage legitimiert seien, und machte die Verjährung geltend.
Das Obergericht hat die Klage wegen mangelnden Klagerechts abgewiesen, das Reichsgericht jedoch dieses Erkenntnis aus folgenden Gründen vernichtet.
Gründe
"In Erwägung zum Kassationsrekurse: daß der §. 1 des Ges. vom 7. Juni 1871 ganz allgemein -- ohne Benennung der zum Anspruche berechtigten Person - den Betriebsunternehmer für den Schaden ersatzpflichtig erklärt, welcher dadurch entstanden ist, daß ein Mensch beim Betriebe einer Eisenbahn getötet worden, und sodann in §. 3 der Ersatzanspruch auch demjenigen gegeben wird, welchem der Getötete zur Zeit seines Todes vermöge Gesetzes Unterhalt zu gewähren verpflichtet war, und zwar soweit ihm infolge des Todes der Unterhalt entzogen worden ist;
daß aber diese Voraussetzung, nämlich daß der angeblich infolge der beim Eisenbahnbetriebe der Beklagten erlittenen Verletzung gestorbene F. der klagenden Witwe und dem von ihr vertretenen Kinde zur Zeit seines Todes Unterhalt zu gewähren gesetzlich verpflichtet war, hier unbestreitbar vorliegt, mithin die Klage nach dem Wortlaute des Gesetzes für begründet erachtet werden muß;
daß der wörtliche Inhalt des Gesetzes nicht durch Anwendung der allgemeinen Principien über außerkontraktliches Verschulden eingeschränkt werden darf, da sich dieses Gesetz seinem Zwecke und seinem gesamten übrigen Inhalte nach als ein besonderes, aus sich selbst auszulegendes darstellt und auch sonst mehrfach, namentlich auch darin von den Grundsätzen sowohl des aquilischen Gesetzes als auch des deutschen Gewohnheitsrechtes2 abweicht, daß es allen vermöge Gesetzes zum Unterhalte berechtigten Personen, und nicht etwa bloß der Witwe und den Kindern des Getöteten Schadensersatz zuspricht;
daß aber noch besonders in betracht kommt, daß der §. 1 ein Verschulden des Betriebsunternehmens gar nicht voraussetzt, diesen vielmehr auch für den Zufall haften läßt, da ihn nur der Beweis des eigenen Verschuldens des Getöteten oder der höheren Gewalt von der Haftung zu befreien vermag, es demnach auch nicht darauf ankommen kann, ob der Betriebsunternehmer schuldhaft in die Rechte,des Klägers eingegriffen habe, sondern nur darauf, ob Kläger infolge der Entziehung des ihm vermöge Gesetzes vom Getöteten zu gewährenden Unterhaltes wenigstens mittelbar durch das beschädigende Ereignis benachteiligt sei;
daß auch nicht entgegensteht, daß im §. 3 der Schadensersatz nicht bloß für den §. 1, sondern auch für den §. 2 normiert ist, in welch' letzterem es allerdings auf ein Verschulden ankommt, da daraus, daß für den letzteren Fall die Bestimmung von allgemeinen Grundsätzen abweicht, nichts für die Auslegung des §. 1, wo diese Abweichung nicht vorliegt, sondern vielmehr nur gefolgert werden kann, daß der Gesetzgeber mit dem §. 3 und dem §. 9 Abs. 2 ohne Rücksicht auf das gemeine und das partikulare Recht den Schadensersatz für alle Fälle einheitlich und nach eigenen Principien geregelt habe;
daß demgemäß und zum Teil früherer Rechtsanschauung3 entsprechend der Anspruch derjenigen, welchen der Getötete zur Zeit seines Todes Unterhalt zu gewähren gesetzlich verpflichtet war, als ein selbständiger gewährt ist, welcher erst mit dem Tode entsteht, wie sich aus der Bestimmung des §. 8 über den Anfang der Verjährung ergiebt;
daß auch die Rücksichtnahme auf die denkbaren, den allgemeinen Rechtsanschauungen widersprechenden Konsequenzen nicht zu einer einschränkenden Auslegung des Gesetzes zu führen vermag, da, abgesehen davon, wie die in der Denkschrift der Kassationsbeklagten hervorgehobenen Fälle der Adoption, Anerkennung außerehelicher Kinder u. s. w., je nach den besonderen Umständen zu beurteilen sein würden, sich auch bei der einschränkenden Auslegung solche Folgerungen ergeben können, welche der vermutlichen Absicht des Gesetzgebers nicht immer entsprechen möchten, wozu namentlich die Ausschließung später erzeugter Kinder aus der zur Zeit des Unfalles bereits bestandenen Ehe gehören würde;
daß sodann, da es sich um ein eigenes, erst mit dem Tode des Ernährers entstandenes Recht der Witwe und ihres Kindes handelt, keinesfalls diesem letzteren ein etwaiges Verschulden des Verletzten selbst entgegengehalten werden kann, welches er mit der nachfolgenden Eheschließung begangen haben soll, noch der Rechtssatz über die Unstatthaftigkeit einseitiger Erschwerung der Verbindlichkeit des Betriebsunternehmers seitens des Verletzten;
daß endlich auch aus dem Ausdrucke "Getöteten" nichts für die Auslegung der Kassationsbeklagten zu folgern ist, da hiermit nur der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfalle und dem Tode bezeichnet, nicht aber die Voraussetzung ausgesprochen wird, daß der wirkenden Ursache sofort die Wirkung nachgefolgt sein müsse, - was schon aus dem Inhalte der ersten Hälfte des Abs. 1 des §. 3 und aus der besonderen Verjährungsbestimmung im §. 8 hervorgeht;
daß demnach das Urteil wegen rechtsirrtümlicher Auslegung des §. 3 des Ges. vom 7. Juni 1871 zu vernichten ist.
In Erwägung zum Revisorium:
daß es zunächst auf die weitere Einrede der Verjährung ankommt, bezüglich welcher sich das Obergericht mehr zweifelnd als entscheidend ausgesprochen hat;
daß aber auch in dieser Richtung der bestimmte Wortlaut des Gesetzes gegen die Beklagte spricht;
daß diese Fassung sich aus dem bereits hervorgehobenen Charakter dieser Entschädigungsforderung als eines eigenen selbständigen, nicht vom Verletzten hergeleiteten Rechtes erklärt, und die von der Beklagten angerufenen Gründe der Zweckmäßigkeit und Billigkeit4 nicht die Bedeutung haben können, eine Abweichung von der unzweideutigen Fassung des Gesetzes und von dem Rechtsgrundsatze zu rechtfertigen, daß eine Verjährung nicht vor entstandenem Ansprüche zu laufen beginne;
daß hierbei auch der Umstand nicht erheblich sein kann, daß die Ehe mit der klagenden Witwe erst nach zwei Jahren seit dem Unfalle geschlossen worden."...
- 1. Vgl. Entsch. des R.O.H.G.'s Bd. 24 Nr. 83 S. 115.
- 2. Vgl. Cocceji, jus civile controversum IX. lit. 2. qu. 1 au, si liber homo statim pericrit, detur ejus beredibus act. ex. leg. aqu. pro operarum et alimentorum negelctu? (verneint). Dagegen Struben , rechtl. Bedenken Bd. IV. Nr. 72 S. 137. Sintenis , Pand. II. S. 774. Seuffert , Pand. II. S. 371 (§. 402) und Seuffert_, Archiv X. Nr. 44. XIII. Nr. 144. XXIX. Nr. 137.
- 3. Insbesondere Struben a. a. O.
- 4. Es wurde insbesondere hervorgehoben, daß den Alimentationsberechtigten eine Klage zustehen würde, wenngleich die Klage des Verletzten wegen Verjährung abgewiesen worden wäre. Vgl. Kah, Haftpfl. S. 132 Note. Endemann, Kommentar 2. Aufl. S. 84. Eger, 2. Aufl. S. 581 u. 582.