RG, 02.03.1880 - III 63/79
Zeitige Freiheitsstrafe als Ehescheidungsgrund nach protestantischem Eherechte. Ist der Praxis der Konsistorien und Gerichte des ehemaligen Kurfürstentumes Hessen, welche nur die Zuerkennung einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe als Scheidungsgrund anerkannte, als partikuläre Rechtsbildung anzusehen und zu beachten?
Aus den Gründen
"Die streitenden Teile sind Israeliten. Klägerin hat sich laut des den Akten beiliegenden Auszuges aus dem Trauungsregister des Distrikts-Rabbinates Würzburg am 23. Juni 1868 mit dem damals schon in Hanau ansässigen Beklagten verheiratet. Aus dieser Ehe sind zwei noch lebende Kinder hervorgegangen. Am 18. November 1876 wurde Beklagter unter der Anklage der Wechselfälschung verhaftet. Er zeigte am 30. dess. M. seine Insolvenz bei Gericht an, und es ergab sich bei der vorgenommenen Vermögensuntersuchung an der Stelle eines in die Ehe eingebrachten Aktivvermögens von ungefähr 21000 Mark eine Überschuldung von etwa 75000 Mark. Durch Erkenntnis der Strafkammer des Kreisgerichtes zu H. vom 30. April 1877 ist demnächst der Beklagte wegen Fälschung von 13 Wechseln je im Betrage von 2000 bis über 5000 Mark, zusammen im Betrage von 47930 Mark, sowie wegen einfachen Bankerottes auf Grund der §§. 74. 267. 268. 280 und 283 R.St.G.B. in eine Gesamtstrafe von vier und einem halben Jahre Zuchthaus verurteilt, und es ist zugleich der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von drei Jahren gegen ihn ausgesprochen worden. Die Freiheitsstrafe verbüßt Beklagter noch zur Zeit in der Strafanstalt zu C. Aus dem Konkurse hat die Klägerin ihre Illaten, soweit solche hypothekarisch versichert waren, mit 16285 M. zurückerhalten; die nicht bevorzugten Gläubiger sind unbefriedigt geblieben.
Im Januar 1878 ist die Klägerin mit einer Klage auf Ehescheidung hervorgetreten; sie verlangt Trennung der Ehe dem Bande nach, weil ihr Ehemann zu einer entehrenden Zuchthausstrafe verurteilt sei, weil sie ferner wegen der demselben zur Last fallenden strafbaren Handlungen eine unüberwindliche Abneigung gegen den Beklagten hege, endlich weil Beklagter ganz vermögenslos sei und seine Familie nicht mehr zu unterhalten vermöge.
Der Beklagte hat diesem Klagegesuche widersprochen.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Das Kreisgericht geht davon aus, daß nach gemeinem Rechte in seiner heutigen Gestaltung eine von dem einen Ehegatten wegen begangenen Verbrechens erlittene entehrende Strafe von kurzer Dauer, wie die hier in Rede stehende, für den anderen nur dann einen Ehescheidungsgrund bilde, wenn nach dem Charakter oder den Motiven des begangenen Verbrechens das den Zweck der Ehe als einer vollkommenen Lebensgemeinschaft bedingende gegenseitige Vertrauen der Ehegatten als vollständig aufgehoben anzusehen sei. Dies treffe hier nicht zu, und es sei auch kein rechtfertigender Grund für unüberwindliche Abneigung der Klägerin gegen ihren Ehemann vorhanden, während Vermögenslosigkeit des Beklagten überhaupt keinen Ehescheidungsgrund abgebe. Das Appellationsgericht nimmt im wesentlichen auf die Ausführungen der ersten Instanz Bezug mit dem Anfügen, daß dieselben den durch die Entwickelung des hessischen Eherechtes und durch die ihr gemäße konstante Rechtsprechung der hessischen Gerichte festgestellten Grundsätzen entsprechend seien; insbesondere könne danach weder in der wider den Beklagten erkannten mehrjährigen Zuchthausstrafe oder in der Begehung der durch dieselben geahndeten Verbrechen, noch in der dadurch angeblich hervorgerufenen, im vorliegenden Falle ohnehin einseitigen unüberwindlichen Abneigung der Klägerin ein zulässiger Scheidungsgrund gefunden werden.
Die gegen das zuletzt gedachte Erkenntnis von der Klägerin verfolgte Revision war für begründet zu erachten.
Unbestritten kommt bei der beantragten gerichtlichen Trennung der zwischen den streitenden Teilen bestehenden Ehe das in Hanau geltende Recht zur Anwendung, obwohl die Ehe selbst in Würzburg geschlossen wurde. In jenem Rechtsgebiete sind aber die Grundsätze des gemeinen protestantischen Kirchenrechtes in der durch die ehemalige hessische Konsistorialpraxis und die Rechtsübung der bürgerlichen Gerichte gewonnenen Ausbildung auch die Entscheidungsquelle für die Ehestreitigkeiten der Juden, und es ist insbesondere seit Erlaß des Gesetzes vom 29. Okt. 1848 §. 24 die Hanauer Judenkapitulation vom 20. September 1738, welche die Scheidung einer jüdischen Ehe nur wegen Ehebruches und böslicher Verlassung zuließ, außer Wirksamkeit getreten.
Als eine wirkliche partikuläre Rechtsbildung können indessen die seither im Umfange des ehemaligen Kurstaates in betreff des Ehescheidungsrechtes der Protestanten beobachteten Normen nicht angesehen werden. Die Praxis dieses Rechtsgebietes hat ihre positive Grundlage in den Worten der heiligen Schrift und in dem durch den Protestantismus ausgestellten Grundsätze der freien, die Erstreckung auf analoge Fälle zulassenden, Auslegung der Schrift gefunden und ist sich dieser ihrer Grundlage auch fortwährend bewußt geblieben. Ein besonderes (kurhessisches) Ehescheidungsrecht auszubilden, haben die ehemaligen hessischen Konsistorien und Gerichte niemals beabsichtigt; sie waren stets bestrebt, mit Wahrung des Principes des protestantischen Eherechtes, insbesondere unter Aufrechterhaltung der religiösen Bedeutung und des sittlichen Ernstes der Ehe, den Anforderungen der Zeit und des Lebens gerecht zu werden. In verschiedenen streitigen Fragen hat, namentlich seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, der Gerichtsgebrauch gewechselt, frühere Ansichten aufgegeben und an deren Stelle oft entgegenstehende angewendet.
Allerdings hat die Praxis wegen Verbrechen des einen Ehegatten immer nur dann auf Trennung der Ehe dem Bande nach erkannt, wenn der Schuldige eine lebenslängliche Freiheitsstrafe erlitt. Allein diesem Gerichtsgebrauche ist keine, die künftige Rechtsprechung bindende, rechtserzeugende Wirkung beizulegen.
Eine solche Bedeutung hat man auch in anderen gemeinrechtlichen Gebieten Deutschlands unter ähnlichen Umständen der Praxis der geistlichen und weltlichen Gerichte nicht beigemessen. Betrachtet man den Entwicklungsgang des protestantischen Ehescheidungsrechtes in einzelnen dieser Territorien, so ergiebt sich, daß der Gerichtsgebrauch zwar früherhin durchgängig der strengeren Ansicht huldigte, solche aber seit Beginn dieses Jahrhunderts fast überall verlassen hat.
In Hannover galt bis zum Jahre 1828 nur eine lebenslängliche Freiheitsstrafe des einen Ehegatten, die man einer böslichen Verlassung gleichachtete, als zureichender Grund zur Ehetrennung; von da ab gestattete man aber die Scheidung in Übereinstimmung mit den Ansichten der Rechtslehrer, der Richtung der Praxis im übrigen Deutschland und der Gesetzgebung der größeren Staaten Jahrzehnte hindurch auch bei nur temporärer Freiheitsstrafe. Spangenberg in der Fortsetzung von Bülow und Hagemann-, Erörterungen T. I. S. 376; Bartels , Ehe und Verlöbnis etc. S. 347.
In Braunschweig erkannten die dortigen Gerichte noch im ersten Viertel dieses Jahrhunderts nur lebenslängliche Freiheitsstrafe als Ehescheidungsursache an; seit 1823 aber fand die Unterscheidung, ob die erkannte Freiheitsstrafe eine entehrende sei oder nicht, die Billigung des obersten Gerichtshofes. Dedekind , protestantisches Eherecht nach braunschweiger Präjudizien S. 71 fl.
Im Großherzogtum Hessen , dessen protestantisches Kirchenrecht zum Teile auf der nämlichen partikulären Grundlage beruht, wie das im ehemaligen Kurstaate geltende, haben die Gerichte seit 1824 wegen Zuchthausstrafen von sieben, fünf und drei Jahren, welche der schuldige Ehegatte verbüßte, unter Berufung auf gemeines protestantisches Eherecht die Scheidung ausgesprochen. Archiv für praktische Rechtswissenschaft. N. F. Bd. 7 S. 419, Bd. 8 S. 309.
Von besonderer Wichtigkeit ist die Praxis im Königreiche Sachsen . Bereits vor der gesetzlichen Regelung der Frage durch das mit dem 1. März 1865 eingeführte bürgerliche Gesetzbuch erweiterten die Gerichte, nachdem sie seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts den Fall der lebenslänglichen Freiheitsstrafe ausnahmsweise als zureichenden Ehescheidungsgrund angesehen, allmählich diese Ausnahme, dehnten sie nicht bloß auf Freiheitsstrafen überhaupt aus, sondern setzten endlich an deren Stelle eine Regel von anderem Inhalte, den Grundsatz nämlich, daß Freiheitsstrafen von mindestens vierjähriger Dauer dem unschuldigen Ehegatten ohne weiteres die Befugnis gewährten, auf Scheidung zu dringen, Freiheitsstrafen von kürzerer Dauer nur dann, wenn nach den Umständen des Falles dem letzteren die Fortsetzung der Ehe vernünftiger und billiger Weise nicht wohl zugemutet werden könne. Kritz , Rechtsfälle Bd. 5 S. 327 fl. Dresdener Annalen Bd. 1 S. 78 u. 253.
Nach dem Geiste_ des protestantischen Eherechtes ist es nicht gerechtfertigt, die von dem unschuldigen Ehegatten beantragte Scheidung der Ehe vom Bande auf den Fall zu beschränken, daß der schuldige Gatte eine lebenslängliche Freiheitsstrafe erleidet; unter der Herrschaft des gemeinen Rechtes wird vielmehr die Scheidung, auch bei einer nur zeitigen Freiheitsstrafe und zwar alsdann auszusprechen sein, wenn durch das Verschulden des Sträflinges die Ehe thatsächlich getrennt, die Möglichkeit einer gedeihlichen Fortsetzung der ihrem Wesen nach die innigste Lebensgemeinschaft bedingenden Ehe einseitig zerstört worden ist. Ob diese Voraussetzung in einem bestimmten Falle vorhanden, ob insbesondere anzunehmen sei, daß ein Zwang zum ferneren ehelichen Zusammenleben für den unschuldigen Ehegatten als eine unbillige Härte erscheinen würde, darüber hat das richterliche Ermessen zu befinden, dessen Statthaftigkeit hier ebensowenig zu beanstanden ist, wie dies bei der Beurteilung anderer gemeinrechtlich und partikularrechtlich anerkannten Ehescheidungsgründe, wie z. B. der schweren Mißhandlungen eines Ehegatten und der gegenseitigen unüberwindlichen Abneigung, geschieht. Maßgebend für die Entscheidung sind dabei hauptsächlich die Schwere des Verbrechens oder Vergehens an sich, die Höhe der erkannten Strafe, die damit gesetzlich verbundenen oder im Strafurteile ausgesprochenen Ehrenfolgen, die Bildungsstufe und die Standesverhältnisse der Ehegatten, sowie deren Vorleben.
In der vorliegenden Sache treffen alle Voraussetzungen für eine Trennung der Ehe vom Bande zusammen.
Der Beklagte hat kurz nacheinander dreizehn Wechsel im Gesamtwerte von über 47000 Mark gefälscht und in einem Zeitraume von acht Jahren nach Abschluß der Ehe durch unsinnige Börsenspekulationen nicht nur sein eigenes Vermögen verloren, sondern auch das zugebrachte, nicht unerhebliche Vermögen seiner Ehefrau auf das Spiel gesetzt. Es kann von der Klägerin, bei ihrer Herkunft aus angesehener und ehrenhafter Familie, nicht verlangt werden, daß sie die Ehe mit einem Manne fortsetze, der mit dem Makel eines entehrenden Verbrechens behaftet, zu einer schweren Zuchthausstrafe verurteilt worden ist und zugleich durch seinen Bankerott seine geschäftliche Existenz vernichtet hat. Unter solchen Umständen ist auch die Behauptung der Klägerin, daß sie gegen ihren Ehemann, der das in ihn gesetzte Vertrauen so schwer getäuscht, seit dessen Verurteilung eine unüberwindliche Abneigung hege, für durchaus glaubwürdig zu erachten, und deshalb von dem Versuche, die Wiedervereinigung der Ehegatten durch persönliche Gegenüberstellung vor Gericht herbeizuführen, Abstand zu nehmen.
Hiernach mußte unter Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses nach dem Klageantrage erkannt werden."