RG, 08.04.1880 - Vll 63/80

Daten
Fall: 
Fensterrecht
Fundstellen: 
RGZ 2, 196
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
08.04.1880
Aktenzeichen: 
Vll 63/80
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • KreisG Frankfurt a./O.
  • Kammergericht Berlin

Auslegung der §§. 142 und 143 Tit. 8 Teil 1 des Allgemeinen Landrechtes.

Tatbestand

Im August 1879 begann der Kaufmann v. G. in Frankfurt a/O. mit einer Erhöhung des Hintergebäudes seines Grundstückes. Die Besitzerin des Nachbargrundstückes, Witwe W., widersprach, weil durch die beabsichtigte Aufsetzung eines Stockwerkes das - nach dem nur einen Meter breiten Hofe führende - Fenster ihrer Hinterstube im Erdgeschoß mit gänzlicher Verdunkelung bedroht wurde. Sie klagte auf Verurteilung des v. G., den neuen Oberbau soweit abzutragen, und nur so hoch zu bauen, daß aus dem ungeöffneten Fenster der hinteren Parterrestube ihres Wohnhauses in vertikaler Richtung der Himmel erblickt werden könne.

Der Beklagte verlangte Abweisung; eventuell hielt er sich zur Zurückziehung nur soweit für verpflichtet, daß man aus den Fenstern des zweiten Stockwerkes den Himmel zu erblicken vermöge.

Die Instanzrichter erkannten nach dem Klageanträge. Die Nichtigkeitsbeschwerde des Beklagten ist zurückgewiesen.

Aus den Gründen

... "Die Bestätigung des verurteilenden ersten Erkenntnisses beruht auf §. 142 A.L.R. I. 8. Die Nichtigkeitsbeschwerde rügt Verletzung der §§. 142. 148 a. a. O. und der aus denselben sich ergebenden Rechtsgrundsätze:

1.

Das Lichtrecht entsteht nur in betreff solcher Fenster, welche schon mindestens 10 Jahre in solcher Weise bestanden haben, daß man aus ihnen den Himmel erblicken konnte, und welche zugleich zu Behältnissen gehören, die nicht von einer anderen Seite, als derjenigen, in welcher sich die Fenster befinden, auf irgend eine Weise Licht erhalten.

2.

Liegen die unter 1 aufgestellten Bedingungen vor, so ist zu unterscheiden, ob das Gebäude, zu welchem die Fenster gehören, noch von einer anderen Seite Licht erhält, oder ob dies nicht der Fall; im ersteren Falle muß der Anblick des Himmels aus den Fenstern des zweiten Stockwerkes, im letzteren Falle aber aus den Fenstern des ersten Stockwerkes unverhindert bleiben.

Dieser Verletzung soll sich der zweite Richter namentlich deshalb schuldig machen, weil er es für unerheblich halte:

a) ob sich in einer anderen Front des Gebäudes der Klägerin Fenster befinden;
b) daß in das fragliche Hinterzimmer vom Laden her durch die Thüröffnung Licht eindringe.

Die Beschwerde erscheint bezüglich des Punktes b begründet. Der Streit betrifft die Auslegung der §§. 142 und 143 a. a. O. Die von der Beschwerde unter 1 und 2 aufgestellten sogenannten Rechtsgrundsätze geben nur den Sinn wieder, welchen sie den Paragraphen beilegt. Dieser Auffassung kann aber nicht beigetreten werden.

Nachdem im §. 141 a. a. O. verordnet ist, daß in der Regel jeder auf seinem Grund und Boden so nahe an der Grenze und so hoch bauen kann, als er will, bestimmen:

§. 142. Sind jedoch die Fenster des Nachbars, vor welchen gebaut werden soll, schon seit zehn Jahren oder länger vorhanden und die Behältnisse, wo sie sich befinden, haben nur von dieser Seite her Licht, so muß der neue Bau so weit zurücktreten, daß der Nachbar noch aus den ungeöffneten Fenstern des unteren Stockwerkes den Himmel erblicken könne.

§. 143. Hat in diesem Falle das Gebäude des Nachbars, in welchem die Fenster sich befinden, noch von einer anderen Seite Licht, so ist es genug, wenn der neue Bau nur soweit zurücktritt, daß der Nachbar aus den ungeöffneten Fenstern des zweiten Stockwerkes den Himmel sehen könne.

§. 144. Sind aber die Fenster des Nachbars, vor welchen gebaut werden soll, noch nicht zehn Jahre vorhanden, so ist der Bauende bloß an die §. 139 bestimmte Entfernung gebunden.

Es kommt wesentlich darauf an, wie die Worte des §. 143 "in diesem Falle" und "Gebäude" zu verstehen sind. Die richtige Bedeutung ergiebt sich nur bei Zusammenhaltung der gedachten drei Paragraphen. Danach behandeln die §§. 142 und 143 den Fall, wenn die Fenster des Nachbars schon seit mindestens zehn Jahren vorhanden, der §. 144 aber den Fall, wenn sie noch nicht so lange vorhanden sind. An den Hauptbedingungssatz in den §§. 142 und 143 hinsichtlich der Dauer der Fensteranlage schließen sich unterscheidend die Gegensätze:

a) im §. 142: wenn die Behältnisse, wo sich die Fenster befinden, nur von dieser Seite her Licht haben,
b) im §. 143: wenn das Gebäude, in welchem sich die Fenster befinden, noch von einer anderen Seite Licht hat.

Der Beschwerde ist nicht zuzugeben, daß die Worte des §. 143 "in diesem Falle" sich auch auf den Unterscheidungssatz 2, erstrecken. Es muß dies vielmehr mit dem früheren preußischen Obertribunale (Entsch. Bd. 45 S. 68) verneint werden, ohne daß die dortige Annahme einer inkorrekten Fassung des §. 143 geboten ist.

Die Beschwerde (vgl. Gruchot's Beitr., Bd. 24 S. 67 ff.) legt ferner ohne zureichenden Grund besonderes Gewicht darauf, daß im §. 142 von "Behältnissen" und im §. 143 vom "Gebäude" die Rede ist. Ihrer Folgerung, daß die Anwendung des §. 143 nicht gerechtfertigt wird, wenn die Behältnisse noch von einer anderen Seite Licht haben, sondern daß es darauf ankomme, ob das Gebäude überhaupt von einer anderen Seite Licht empfange, läßt sich nicht beitreten. Von dem preußischen Obertribunale ist a. a. O. und in vielen Entscheidungen konsequent angenommen, daß unter dem Worte "Gebäude" im §. 143 "Behältnisse" wie im §. 142 gemeint sind. Derselben Ansicht sind: Förster, Theorie, 3. Aufl., Bd. 3 S. 152, und Dernburg, preuß. Privatr., 2. Aufl., Bd. 1 S.505. Die Gesetzrevisoren, Pensum XIII. S. 72. 73, halten das Wort "Gebäude" nur für eine Ungenauigkeit des Ausdruckes. Heydemann, preußisches Zivilrecht, Bd. 1 S. 439, bezeichnet dies Wort als eine unnötige Abwechslung des Ausdruckes, und Temme, preußisches Civilrecht, Bd. 1 S. 274, als irrtümlich, statt "Behältnis". Es erscheint auch im wesentlichen richtig, das Wort "Gebäude" als gleichbedeutend mit "Behältnissen" aufzufassen. Man braucht aber nicht bis zu der Annahme zu gehen, daß im §. 143 der Ausdruck "Gebäude" ohne besonderen Grund, oder gar irrig, gewählt sei. Denn der §. 142 setzt voraus, daß die Behältnisse, vor denen gebaut werden soll, nur von der Bauseite durch Fenster unmittelbares Licht erhalten. Der §. 143 aber betrifft den Fall, wenn die Behältnisse auch von einer anderen Seite Licht haben, ohne daß es principiell von Erheblichkeit ist, ob das Licht, falls es ein genügendes, dem Räume gerade durch Fenster, ob es unmittelbar oder nur mittelbar zugeführt wird; vergl. Entscheid, des Obertribunales, Bd. 80 S. 273, Striethorst's Archiv, Bd. 87 S. 21, Gruchot's Beitr., Bd. 16 S. 238, Dernburg, a. a. O. S. 506. Da bei der Beurteilung in dieser Hinsicht unter Umständen die Konstruktion des ganzen Gebäudes, nicht bloß der einzelnen Teile, in Betracht gezogen werden muß, so erscheint es vollkommen entsprechend, daß hier statt des ohnedies nur uneigentlichen Ausdruckes "Behältnisse" (vgl. Adelung's deutsches Wörterbuch) das Wort "Gebäude" steht.

Endlich läßt es sich auch nicht für zutreffend erachten, wenn die Beschwerde ihre abweichende Auslegung auf die Absicht des Gesetzes stützt. Die Materialien zu den Vorschriften in Rede, namentlich die Äußerung von Suarez bei der revisio monitorum, sind in Pensum XIII S. 69 ff. der Gesetzrevision, Entscheidungen des Obertribunales Bd. 64 S. 31 ff. und Bd. 80 S. 271 ff. mitgeteilt. Allerdings wird nach ihnen (einen bestimmten Sprachgebrauch betreffs der hier fraglichen Begriffe ergeben sie nicht) vom Gesetze beabsichtigt, zu verhindern, daß Gebäude, beziehungsweise Räume, welche bisher Licht hatten, durch Vorbau ganz unbrauchbar gemacht werde". Auch sind die den Lichtschutz bezweckenden Vorschriften nicht ausdehnend zu erklären, weil sie die aus dem Eigentume des Nachbars fließende Befugnis zum Bauen einschränken. Dadurch rechtfertigt sich aber nicht eine Auslegung, eine Art der Unterscheidung, welche - hinsichtlich der Frage einer anderen Lichtseite von den durch Vorbau betroffenen einzelnen Behältnissen und deren möglicher gänzlicher Unbrauchbarkeit absehend - mit dem Sinne der positiven Bestimmungen des Gesetzes in Widerspruch tritt, §. 46 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht, Savigny's System, Bd. 1 S. 321 ff.

Die Beschwerde ist also, soweit sie die in den beiden sogenannten Rechtsgrundsätzen niedergelegte Auslegung geltend macht und ausschließliches Gewicht darauf legt, ob in einer anderen Front des Gebäudes der Klägerin Fenster vorhanden, ob dasselbe von einer anderen Seite Licht hat, zu verwerfen. Dagegen erscheint die Rüge begründet, daß der Appellationsrichter den §. 143 a. a. O. durch die Ausführung verletze: die Thüröffnung, durch welche zur Zeit der Einnahme des Augenscheines aus dem nach vorn gelegenen Laden in das fragliche Hinterzimmer Licht eingedrungen, komme nicht in Betracht, da das im §. 143 gedachte Licht ein solches sei, welches durch Öffnungen oder Fenster in einer unmittelbar an das Freie stoßenden Wand eingelassen werde, nicht bloß ein solches, welches aus einem Vorgemache durch eine Thürfalle (Schles. Archiv Bd. 1 S. 365). Es ist bereits oben hervorgehoben, daß im Falle des §. 143 eine unmittelbare Lichtzuführung von der anderen Seite nicht erforderlich, sondern es nur wesentlich erscheint, daß das von der anderen Seite zufließende Licht ein hinreichendes ist, d. h. genügt, um dem Räume, beziehungsweise Behältnisse, die für seinen Gebrauch notwendige Helligkeit zu gewähren. Die vom zweiten Richter bezogenen Erkenntnisse 1. und 2. Instanz im Schlesischen Archiv stützen ihre abweichende Ansicht besonders auf den §. 137 Tit. 8 a. a. O. Dieser spricht aber von dem anderen Falle, wenn ein Eigentümer Licht in sein Gebäude bringen will. Hier handelt es sich um eine Verhinderung der Entziehung des vorhandenen Lichtes, wobei der bauende Nachbar nicht weiter eingeschränkt werden darf, als es das Gesetz für die Brauchbarkeit des im Lichtrechte befindlichen Gebäudes erfordert. Ob ein Raum von der anderen Seite hinreichendes Licht hat, ist im einzelnen Falle tatsächlich zu prüfen. Der Appellationsrichter hat aber eine solche Prüfung nicht vorgenommen, sondern den Einwand des Beklagten lediglich aus einem principiellen Grunde verworfen. Deshalb war die in dieser Richtung erhobene Rüge für zutreffend zu erachten.

Ist somit die Beschwerde zwar zum Teil begründet, so muß doch bei freier Beurteilung der Sache das zweite Urteil aufrecht erhalten werden.

Die Klage richtet sich gegen die Erhöhung des Seitengebäudes des Beklagten. Auch auf Erhöhungen alter Gebäude finden die §§. 142 und 143 a. a. O. Anwendung, wie mit dem Plenarbeschlusse des preußischen Obertribunales vom 11. Mai 1846 (Entsch. Bd. 13 S. 28) anzunehmen ist.

Das durch den Bau bedrohte Fenster der Hinterstube der Klägerin ist, wie die Parteien einig, schon seit länger als zehn Jahren vorhanden.

Es fragt sich, ob das Gemach der Klägerin, worin das Fenster, noch von einer anderen Seite Licht hat. Dies ist nach dem Ergebnisse der Beweiserhebung zu verneinen. Der Raum ist eine Stube. Außer dem Fenster hat dieselbe Lichtöffnungen nicht. Nach der Einnahme des Augenscheines fällt in die Stube nur Licht von dem Laden her durch die dem Fenster gegenüberliegende Öffnung einer - zur Zeit ausgehobenen - Thüre. Es läßt sich dies Licht für ein hinreichendes nicht erachten.

Daher liegt der Tatbestand des §. 142 a. a. O. vor, wodurch die Verurteilung des Beklagten gerechtfertigt wird."