RG, 08.04.1884 - III 363/84

Daten
Fall: 
Bedeutung von "Herkommen"
Fundstellen: 
RGZ 11, 212
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
08.04.1884
Aktenzeichen: 
III 363/84
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Braunschweig
  • OLG Braunschweig

Bedeutung von "Herkommen".

Tatbestand

Die beiden braunschweigschen Kirchengemeinden B. und S. sind seit Anfang des vorigen Jahrhunderts zu einem Pfarrsprengel vereinigt und haben die Bau- und Reparaturkosten des Pfarrhauses gemeinschaftlich zu tragen. Während sie früher dieselbe je zur Hälfte getragen hatten, legte das Konsistorium im Jahre 1837 die Kosten einer stattgefundenen größeren Reparatur der Kirche zu S. zu 2/3 und der Kirche zu B. zu 1/3 auf, anscheinend in Rücksicht darauf, daß die erstere ein bedeutendes Kapitalvermögen besaß, die letztere unbemittelt war. Von dem Jahre 1839 an bis zum Jahre 1880 wurden die häufig wiederkehrenden Reparaturausgaben von dem Konsistorium konstant in derselben Weise verteilt. Nachdem die beiden Gemeinden, welche bis dahin ohne Gemeindevertretung gewesen waren, infolge des Gesetzes vom 10. November 1851 eine Vertretung (Kirchenvorstand) erhalten hatten, remonstrierte der Kirchenvorstand zu S. im Jahre 1853 gegen die gleiche Verteilung der damaligen Kosten, weil seine Kirche nur zur Tragung der Hälfte derselben verpflichtet sei. Die Remonstration wurde vom Konsistorium verworfen, indem dasselbe aussprach, daß der angewandte Verteilungsfuß durch Observanz begründet sei. Späterhin übernahm in einigen Fällen der Kirchenvorstand zu S. freiwillig die gesamten Kosten, was vom Konsistorium genehmigt wurde, unter dem jedesmaligen Bemerken, daß hierdurch dem herkömmlichen Verteilungsfuße von 1:2 nicht präjudiziert werden solle. Als aber im Jahre 1882 die bedeutenden Kosten eines Umbaues wieder nach diesem Fuße verteilt wurden, remonstrierte der Kirchenvorstand zu S. abermals hiergegen; seine Remonstration wurde, unter Hinweis auf das bestehende Herkommen, wieder zurückgewiesen, unter Vorbehalt des Rechtsweges.

Nunmehr stellte der Kirchenvorstand zu S. gegen den Kirchenvorstand zu B. Klage an mit dem Antrage,

festzustellen, daß die gemeinschaftlichen Kosten von jeder Kirche zur Hälfte zu tragen seien, und den Beklagten zur Erstattung des Mehrbetrages des dem Kläger auferlegten und von ihm vorläufig bezahlten Kostenanteiles zu verurteilen.

Der Beklagte bestritt die Klage und beantragte widerklagend,

die Rechtsbeständigkeit des angewandten Verteilungsfußes von 1:2 festzustellen.

Er machte hierfür geltend, daß diese Verteilungsnorm durch Observanz (Herkommen) begründet worden sei. Beide Vorinstanzen waren darüber einverstanden, daß unter Observanz und Herkommen nur ein lokales oder partikulares Gewohnheitsrecht verstanden werden dürfe; sie hielten auch dafür, daß die Norm für die Verteilung derartiger gemeinschaftlicher Kosten zweier Gemeinden im Wege eines Gewohnheitsrechtes begründet und abgeändert werden könne. Die erste Instanz hielt den Beweis der gewohnheitsrechtlichen Abänderung des ursprünglichen Verteilungsfußes für erbracht und erkannte somit, nach Maßgabe des Antrages der Widerklage, auf Abweisung der Klage; die zweite Instanz erachtete diesen Beweis für nicht geführt und erkannte daher nach dem Klagantrage, unter Abweisung der Widerklage. Auf die Revision des Beklagten und Widerklagen wurde das zweitinstanzliche Urteil aufgehoben und die Berufung des Klägers und Widerbeklagten gegen das erstrichterliche Urteil zurückgewiesen aus folgenden Gründen:

Gründe

"Der Streit der beiden Kirchengemeinden S. und B. dreht sich lediglich um die Frage, ob sie die Baukosten für das gemeinschaftliche Pfarrhaus, wie dies bis zum Jahre 1837 geschehen, je zur Hälfte zu tragen haben, oder ob in Gemäßheit des seit dem Jahre 1839 zur Anwendung gebrachten Verteilungsmaßstabes von 1:2 die klagende Kirchengemeinde S. 2/3, die beklagte Kirchengemeinde B. 1/3 zu diesen Baukosten beizutragen hat.

Mit Unrecht hat die Vorinstanz die Entscheidung dieses Streites davon abhängig gemacht, ob für das Herkommen, auf welches sich die beklagte Gemeinde für die Beschränkung ihrer Beitragspflicht auf 1/3 beruft, alle zur Bildung eines lokalen Gewohnheitsrechtes erforderlichen Voraussetzungen vorliegen. Denn es handelt sich hier nicht um eine auf lokales Gewohnheitsrecht zurückzuführende Rechtsregel, welche der Entscheidung zu Grunde gelegt werden könnte, sondern um ein Herkommen, durch welches nur ein konkretes Rechtsverhältnis zweier Gemeinden eine Umgestaltung erfahren haben soll. Für die Frage, welche Bedeutung man einem solchen Herkommen beilegen darf, kommt ein wesentlich anderer rechtlicher Gesichtspunkt in Betracht, als der ist, von dem man auszugehen hat, wenn ein objektiver Rechtssatz in Frage steht, welcher im lokalen Gewohnheitsrechte seine Quelle haben soll.

Wo die Regelung eines Verhältnisses, wie das hier in Frage stehende, lediglich der Privatautonomie der Kirchengemeinden überlassen war, letztere also dasselbe durch Vertrag ordnen konnten, ohne dafür an die Genehmigung einer kirchlichen Behörde gebunden zu, sein, da kann es kein Bedenken haben, in dem Herkommen, welches in die äußere Erscheinung getreten ist durch die in einer längeren Zeitperiode befolgte Norm, eine die vertragsmäßige Abmachung ersetzende gegenseitige Anerkennung dieser Norm als einer bindenden zu erblicken.

Nun sind zwar die jetzt streitenden Kirchengemeinden, welche einer weitgreifenden Aufsichtsführung des Herzoglichen Konsistoriums unterworfen, namentlich auch für die Feststellung und Verteilung der gemeinschaftlichen Ausgaben auf die Einholung der Genehmigung des Konsistoriums angewiesen waren und in dieser abhängigen Stellung auch verblieben, nachdem ihnen im Jahre 1851 eine Vertretung durch Kirchenvorstände gegeben worden, zweifellos auch für eine vertragsmäßige Ordnung ihres Verhältnisses an die Genehmigung des Konsistoriums gebunden gewesen. Aber die Umgestaltung der Norm für die Beitragspflicht zu den Baukosten ist von dem Konsistorium ausgegangen. Aus welchen Gründen diese Behörde ursprünglich die bisherige Verteilungsnorm verlassen und statt dessen der Kirche zu S. zwei Drittel, derjenigen zu B. ein Drittel der gemeinschaftlichen Reparaturkosten auferlegt hat, sowie ob sie sich dabei in den Grenzen ihrer Zuständigkeit gehalten, kann jetzt nicht mehr in Betracht kommen. Seit dem Fahre 1839 bis zum Jahre 1880 ist der Verteilungsmaßstab von 1:2 in allen Fällen zur Anwendung gebracht, in welchen die Kirchengemeinde S. nicht mit Genehmigung des Konsistoriums die Deckung des ganzen Kostenbetrages übernommen hat. Inzwischen ist zwar im Jahre 1853 von dem Kirchenvorstande für S. Widerspruch erhoben worden gegen die ihr auferlegte Verpflichtung, zwei Drittel der gemeinschaftlichen Baukosten zu tragen; seine Remonstration ist aber vom Konsistorium unter Hinweis auf die Herkömmlichkeit des angeordneten Verteilungsfußes zurückgewiesen worden, und bei dieser Entscheidung hat sich die Kirchengemeinde beruhigt. Seitdem ist die Verteilungsnorm von 1:2 in zwölf Fällen, ohne Widerspruch zu erfahren, in Anwendung gebracht worden, und in neun anderen Fällen, für welche die Gemeinde S. die alleinige Tragung der Kosten freiwillig übernommen gehabt, ist von dem Konsistorium bei Erteilung seiner Genehmigung darauf hingewiesen worden, daß damit jene herkömmliche Norm keine Änderung erleiden solle.

Unter diesen Umständen wird man kein Bedenken tragen dürfen, auch in diesem Falle dem Herkommen eine normgebende Bedeutung beizulegen. Denn waren auch die Gemeinden nicht berechtigt, ohne Genehmigung des Konsistoriums einen bindenden Vertrag einzugehen, so waren sie doch in der Lage, durch Unterwerfung unter die Anordnung des Konsistoriums und fortgesetzte Anerkennung derselben dieser dieselbe Rechtswirksamkeit zu geben, als einer von dem Konsistorium genehmigten vertragsmäßigen Abmachung."