RG, 13.04.1880 - III 355/79
Umfang der Ausübung einer Servitut bei Vergrößerung des herrschenden Grundstückes. Verantwortlichkeit einer Gemeinde, zu deren Gunsten die Servitut besteht, für deren mißbräuchliche Ausübung durch einzelne Ortseinwohner. Veränderungen auf dem herrschenden und dienenden Grundstücke. Verhältnis beider zu einander.
Tatbestand
Der Stadt B. steht unbestritten das durch Verjährung erworbene Recht zu, aus bestimmten Straßen das sich ansammelnde Wasser durch verdeckte Kanäle in den an der Stadtmauer belegenen Garten der Klägerin abzuleiten ( servitus flumiuis recipiendi und clocae immitendae). Als nun die Stadt ein Nivellement ihrer Straßen vornahm, wurde sie von der Klägerin mit der negatorischen Klage wegen Eigentumsstörung unter der Behauptung belangt, daß durch jene Anlage und andere Eingriffe in das Eigentum am Garten die Servitut nach Umfang und Inhalt weit über die seither bestandenen Grenzen ausgeübt worden sei.
Von den vorgeschützten Einreden erachtete die erste Instanz nur diejenige des "mangelnden Klagerechtes", soweit sich solche auf den Erwerb des Servitutrechtes durch Verjährung stütze, für begründet und erkannte bei dem Widerspruche der Klägerin auf Beweis für die Beklagte, erwägend:
"daß Veränderungen, welche die Beklagte in öffentlichem Interesse oder mit Rücksicht auf das Bedürfnis des herrschenden Grundstückes an dem in Ansehung des Zuflußgebietes bestandenen Zustande getroffen habe, der Klägerin nicht zum Nachteile gereichen könnten."
Auf Appellation der Beklagten änderte die zweite Instanz ab und verstellte die Einreden in weiterem Umfange zum Beweise, indem sie unter Bezugnahme auf die bei illimitierten Weiderechten und deutschrechtlichen Holzberechtigungen an Waldungen geltenden Grundsätze ausführte:
"daß der bei Begründung der streitigen Servitut bestandene Zustand für deren Ausübung nicht fortwährend maßgebend sein könne, vielmehr mit dem Wachsen der Bevölkerung von selbst ein Steigen des Umfanges der Servitut eintreten müsse."
Das Reichsgericht stellte auf Oberappellation der Klägerin das erstinstanzliche Urteil im wesentlichen wieder her.
Gründe
"Die erhobene Beschwerde richtet sich nicht sowohl gegen die Fassung des Beweissatzes selbst, welcher von der Beklagten den Beweis ihrer Einrede, also wesentlich in Übereinstimmung mit dem Erkenntnisse erster Instanz, den Nachweis des Erwerbes der angesprochenen Dienstbarkeit durch Verjährung verlangt, als vielmehr gegen die Entscheidungsgründe des Appellationsrichters, insofern dieser, abweichend von dem Kreisgerichte, gewisse dem dienenden Grundstücke nachteilige Veränderungen des Zustandes des angeblich herrschenden Grundstückes für zulässig erachtet hat.
Die beklagte Stadt will bereits vor dem Jahre 1866 durch unvordenkliche Verjährung, jedenfalls seit rechtsverjährter Zeit, das Recht erworben haben, durch drei verdeckte Kanäle unter den zwischen dem Turmwege und dem v. S.'schen Garten belegenen Privatwohnhäusern und der Gartenmauer hindurch das Wasser vom Turmwege und der Nienburger-Straße, sowie aus allen mit diesen Straßen in Verbindung stehenden Straßen, Straßenteilen und öffentlichen Plätzen in jenen Garten zu leiten. Und zwar soll dieses Recht auf alles Wasser sich erstrecken, das in den Gossen sich sammelt, auch das Regenwasser aus den Straßen und Höfen und diejenigen Flüssigkeiten, welche die Bewohner der gedachten Straßen und Plätze in berechtigter Weise den Gossen zuführen.
Die Klägerin räumt nur ein, daß zu Lasten ihres Gartengrundstückes der Stadt B. das Recht zur Leitung des von der Ecke des Turmweges und in der Nienburger-Straße sich sammelnden Wassers zustehe; sie behauptet unter Widerspruch der Beklagten, daß in den Jahren 1867 und 1868, sowie 1875 und 1876 der Zustand des herrschenden Grundstückes durch städtische Anlagen derart verändert worden sei, daß ihr Garten durch das in größerer Menge und rascheren Zügen abfließende Wasser in einen Sumpf verwandelt werde. Jene Veränderungen sollen namentlich bestehen: in der Neu- und Umpflasterung der Alt- und Neustadt B., der Nivellierung der Straßen, der Herstellung zusammenhängender Gossenflüsse für sämtliche Straßen, der Leitung von Gossenläufen nach dem Turmwege, die früher nicht dahin führten, in der Entfernung eines Kanales, welcher vor der Neupflasterung des Turmweges einen Teil des aus letzterem kommenden Regenwassers in den neuen dem Gartengrundstück der Klägerin gelegenen K.'schen Garten geleitet habe, endlich in der Erstreckung der B.'er Wasserleitung auf die Alt- und Neustadt, bez. in der Hineinführung der Wasserröhren in die Wohnungen zu Haushaltungszwecken. Auch macht Klägerin die Beklagte für die mißbräuchliche Benutzung der Gossenläufe durch Zuführung stinkender Flüssigkeiten seitens einzelner Besitzer der an den betreffenden Straßen belegenen Gebäude verantwortlich.
Unbestritten hat das auf dem Gartengrundstück der Klägerin sich sammelnde Wasser keinen weiteren Abfluß. Dasselbe ergoß sich früher in einen Teich, der etwa in der Mitte des Gartens sich befand; seit Anfang der 1870er Jahre hat Klägerin diesen Teich an eine andere Stelle ihres Gartens verlegt und es schützt die Beklagte vor, daß, wenn das dienende Grundstück durch neue Anlagen auf dem herrschenden mehr belastet werde, die Klägerin selbst diese Beeinträchtigung ihres Eigentumes verschulde.
Bei der Beurteilung des sich hiernach ergebenden Streitverhältnisses bedürfen folgende Punkte einer Erörterung: der geographische Umfang der angesprochenen Dienstbarkeit; deren Ausdehnung und Inhalt mit Rücksicht auf den Erwerb des Rechtes durch Verjährung; die Zulässigkeit der seit 1867 auf dem herrschenden und dienenden Grundstücke vorgenommenen Veränderungen; endlich das Verhältnis dieser Grundstücke zu einander mit besonderem Bezug auf die Rechtsregel, daß Servituten schonend (civiliter) auszuüben sind.
Anlangend zunächst das bestrittene Zuflußgebiet, so ist nach den Gesetzen, insbesondere nach I. 12 Cod. de servit. et aqua (3,34) für den Anfang der Dienstbarkeit nicht die Größe des herrschenden oder dienenden Grundstückes, sondern die Art und Weise der Begründung maßgebend, und es kann nach I. 24 Dig. de S.P.R. (8, 3) die Ausübung einer bestehenden Servitut räumlich nicht durch den Hinzutritt neuer Grundflächen zum herrschenden Grundstücke erweitert werden. Die Beklagte wird daher den Beweis führen müssen, daß sich das angesprochene Wasserableitungsrecht über die von der Klägerin zugestandenen Grenzen hinaus, und zwar über alle diejenigen Straßen und Plätze erstrecke, zu deren Gunsten dasselbe nach dem Inhalte der Vernehmlassung bestehen soll. Hat vor der seit 1867 angeblich stattgehabten Ebnung (dem Nivellement) und der Umpflasterung jenes Straßenzuges ein Wasserabfluß aus diesem nach dem Garten der Klägerin überhaupt nicht stattgefunden, so konnte die Stadt oder deren Rechtsvorgänger (Fiskus) die Örtlichkeiten zum Nachteile der Klägerin nicht ändern, gleichviel ob und in welchem Maße dadurch eine Mehrbelastung des Gartens herbeigeführt wurde. Denn in einer solchen Neuerung lag in dem vorausgesetzten Falle nicht sowohl eine Ausdehnung der Dienstbarkeit innerhalb der räumlich für solche bestehenden Grenzen, als vielmehr eine Hinausrückung dieser Grenzen selbst. In dieser Beziehung ist es auch unzulässig, daraus, daß die Servitut von der Stadtgemeinde B. als juristische Person ausgeübt wurde, zu folgern, daß es der letzteren mit Rücksicht auf die Bestimmung der Straßen und öffentlichen Plätze gestattet sein müsse, das sich in solchen sammelnde Wasser, je nach Bedürfnis, nach Anlage und Art der Instandhaltung der Straßen, beliebig abzuleiten, da in betreff der räumlichen Ausdehnung einer Servitut, die zu Gunsten eines bestimmten Grundstückes besteht, kein Unterschied gemacht werden kann, ob die Person des Berechtigten ein Privater, eine Ortsgemeinde oder eine bestimmte Klasse von Ortseinwohnern ist.
Was sodann die sonstige Ausdehnung und den Inhalt des fraglichen Wasserableitungsrechtes angeht, so behauptet die Beklagte mit Unrecht, daß es zum Nachweise des Erwerbes dieser Dienstbarkeit genüge, wenn sie innerhalb rechtsverjährter Zeit überhaupt Wasser aus dem beanstandeten Gebiete in das Gartengrundstück der Klägerin geleitet habe, - und ebensowenig ist die Ansicht der vorigen Instanz begründet, daß das Hauptgewicht auf das Bedürfnis des herrschenden Grundstückes zu legen sei. Die hierfür angezogenen Analogieen der bei illimitierten Weiderechten und deutschrechtlichen Holzgerechtsamen obwaltenden Verhältnisse sind für Fälle der vorliegenden Art nicht zutreffend, zumal wenn es sich, wie hier, nicht um die Bestellung einer Servitut durch Vertrag oder letztwillige Anordnung, sondern um deren Begründung durch Verjährung handelt. In dieser Beziehung, und zwar ohne Unterschied, ob die Servitut durch unvordenkliche oder durch die im sächsischen Rechte zugelassene Verjährung von 31 Jahren 6 Monaten und 3 Tagen entstanden ist, bestimmt sich der Erwerb derselben nach dem Umfange der seitherigen Ausübung (_tantum praescriptum quantum possessum). Dieser Rechtsgrundsatz drückt aus, daß durch die Verjährung kein stärkeres Recht erworben werden kann, als es das Wesen der betreffenden Besitzeshandlungen, der durch die Ausübung selbst kund gegebene Wille der Beteiligten mit sich bringt. Allerdings wird zum Nachweise des Verjährungserwerbes nicht erfordert, daß für jeden einzelnen denkbaren Fall der Ausübung besondere Besitzeshandlungen innerhalb der Verjährungszeit vorliegen müßten, so daß letztere nur ihrer äußeren Erscheinung nach, ohne alle Beziehung zu dem Rechte, das in ihnen zum Ausdruck gelangte, zu dem wirtschaftlichen Zwecke, der damit erreicht werden soll, zu der besonderen Bestimmung des herrschenden Grundstückes, überhaupt zu der natürlichen Lage und Beschaffenheit der beiderseitigen Grundstücke in Betracht kämen. Allein immerhin ist eine gewisse Gleichartigkeit der einzelnen Ausübungshandlungen erforderlich, wenn aus einzelnen Vorkommnissen und begrenztem Besitze der Inhalt des erworbenen Rechtes festgestellt werden soll. Nicht in demselben Maße gilt dies für die Erhaltung der durch Verjährung einmal erworbenen Servitut; denn hierzu ist es nach ausdrücklicher Vorschrift der Gesetze:
l. 18. Dig. de servit. praed. rust. (8, 3) l. 8. §. 1 I. 9. Dig. quemadum. serv. amitt. (8, 6)
nicht nötig, daß die Dienstbarkeit stets bis zur äußersten Grenze des Rechtes ausgeübt wird.
Diesen Grundsätzen gemäß wird die Beklagte im Beweisverfahren darzulegen haben, einerseits, daß seit rechtsverjährter Zeit nicht bloß das Regenwasser aus den Straßen und Höfen des beanstandeten Gebietes in den Garten der Klägerin abgeleitet worden, sondern auch, daß dies bezüglich des von den Bewohnern jener Straßen und Plätze in die Gossen geschütteten Haushaltungs- und sonstigen unreinen Wassers geschehen sei, indem in dem Rechte der Ableitung von Regenwasser die letzterwähnte Befugnis nicht von selbst enthalten ist; andererseits aber, daß während der Dauer der Verjährungszeit die Leitung des Wassers selbst nach der Beschaffenheit der Straßen und Gossen im allgemeinen dem zur Zeit der Klageerhebung bestandenen Zustande entsprochen habe. Wie sich dabei im einzelnen die Sache gestaltet, kann zur Zeit noch nicht beurteilt werden; es muß vielmehr dem Endurteile vorbehalten bleiben, darüber nach Maßgabe der erwiesenen Besitzeshandlungen unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles zu befinden.
Hervorzuheben ist nur noch, daß, wenn die Klägerin die Zuführung stinkender Flüssigkeiten durch die Gossen untersagt haben will, dieser Antrag sich im wesentlichen dadurch erledigt, daß die Beklagte selbst dies für eine mißbräuchliche Ausübung der bestehenden Dienstbarkeit erklärt, und die Verhinderung solcher Ausschreitungen an sich der Fürsorge der zuständigen Polizeibehörde zu überlassen ist. Doch wird sich die Beklagte der Haftbarkeit für derartige Eigentumsstörungen wenigstens alsdann nicht entziehen können, wenn sie es an der erforderlichen Überwachung der Hausbewohner fehlen läßt oder jene Mißbräuche nur sonst zu beseitigen vermag. Indem die Gemeinde zugleich in ihrem Interesse und demjenigen der betreffenden Ortseinwohner die streitige Servitut in Anspruch nimmt, muß sie insoweit auch für Eingriffe in das Eigentum der Klägerin aufkommen, deren sich einzelne Bewohner über den Inhalt der bestehenden Servitut hinaus schuldig machen.
Die Frage sodann, ob der Beklagten diejenigen Veränderungen innerhalb des Zuflußgebietes zu gestatten seien, welche sie nach der Behauptung der Klägerin seit 1867 darin vorgenommen haben soll, kann ebenfalls endgültig erst dann entschieden werden, wenn nach dem Ergebnisse der Beweisführung die Art und der Umfang dieser künstlichen Anlagen und zugleich feststeht, daß hierdurch dem Garten der Klägerin nicht unerheblich mehr Wasser zugeführt, die Dienstbarkeit in belästigenderer Weise ausgeübt wird, als es vordem der Fall war. Auch ist nicht außer Acht zu lassen, daß es für die Grenzen der Dienstbarkeit in der hier fraglichen Beziehung wesentlich darauf ankommt, ob das Recht zur Zeit der Vornahme jener Neuerungen schon durch Verjährung begründet war, oder ob der Verjährungserwerb erst durch Hinzurechnung dieser Besitzeshandlungen zu früheren gleichartigen vollendet wurde. Im ersteren Falle ist im Zweifel der Umfang der Servitut ein beschränkterer, deren gesetzlicher Inhalt nicht auf eine außergewöhnliche Benutzung des dienenden Grundstückes zu erstrecken. Das Bedürfnis des herrschenden Grundstückes kann unter Umständen ebenfalls von Belang sein; doch ist zu bemerken, daß der Servitutberechtigte die Dienstbarkeit nicht über den bestimmten Zweck hinaus und nicht zum Nachteile des belasteten Grundstückes ausdehnen darf, es sei denn, daß diese Erweiterung unter veränderten Verhältnissen bereits bei Begründung der Servitut erweislich in dem mutmaßlichen Willen der Beteiligten lag. I. 20 §§. 4 und 5 Dig. de S.P.U. (8, 2). I. 2. Dig. de aqua quot. (43, 20).
Das Erkenntnis erster Instanz gewährt in seinem entscheidenden Teile wenigstens der Beweisführung der Beklagten in allen hier hervorgehobenen Richtungen den freiesten Spielraum.
Soviel endlich das Verhältnis des dienenden zum herrschenden Grundstücke, und die auf jenem von der Klägerin vorgenommenen Neuerungen betrifft, so ist den Ausführungen der v. J. beizutreten, daß die Fassungskraft des dienenden Grundstückes auch gegenüber einer an sich zulässigen Veränderung des Zustandes des herrschenden Grundstückes eine Schranke biete, welche die Beklagte nicht überschreiten dürfe, daß jedoch, wenn ein gegen früher gesteigerter Wasserzufluß nicht vorliege und die in der Klage erwähnten schädlichen Folgen dieser Ableitung durch Änderungen in der Anlage des Gartens herbeigeführt worden seien, der Klägerin ein privatrechtlicher Schutz nicht gewährt werden könne. Die Vorschrift, daß Dienstbarkeiten in einer den Eigentümer des dienenden Grundstückes am wenigsten belästigenden Weise (civiliter) ausgeübt werden sollen (I. 9. Dig. de servit, 8, 1), hat nicht die Bedeutung, den Berechtigten in der gesetzlichen Ausübung seines Rechtes innerhalb der bestehenden Grenzen zu beschränken, legt vielmehr demselben nur die Verpflichtung auf, sein Recht mit möglichster Schonung nach Maßgabe der bei dem Erwerbe der Servitut vorhandenen Beschaffenheit des dienenden Grundstückes geltend zu machen. Es darf daher einerseits der Eigentümer des letzteren keine solche Veränderungen vornehmen, welche das Recht zu schmälern geeignet sind, es ist aber auch andererseits der Eigentümer des herrschenden Grundstückes nicht für den etwaigen Schaden verantwortlich, der aus der rechtmäßigen Ausübung der Servitut entsteht. Ergeben sich infolge der beiderseitigen Beweisführung über das Maß der zulässigen Ausdehnung der Servitut Zweifel, so sind solche, wie bei nachbarlichen Irrungen überhaupt, durch billiges richterliches Ermessen unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles zu lösen, argum. I. 13 § 1 Dig. de S.P.R. (8, 3)."