RG, 20.05.1920 - VI 90/20
Liegt ein Bescheid im Sinne des § 5 des preuß. Tumultgesetzes vor, wenn die Gemeinde dem Verletzten auf die Anmeldung seiner Schadensersatzforderung eröffnet, sie wolle unter allen Umständen erst das Zustandekommen des neuen, damals der Nationalversammlung vorliegenden Gesetzes abwarten?
Tatbestand
Nach der Behauptung des Klägers fanden am 4. Mai 1919 in St. schwere Unruhen und Plünderungen statt. Eine zusammengerottete Menschenmenge habe die Schaufenster seines Geschäftslokales eingeschlagen, die Eingänge gestürmt und das Lager ausgeräumt. Für den erlittenen Schaden macht er die Beklagte auf Grund des Preuß. Tumultgesetzes verantwortlich und hat ihn mit Schreiben vom 6. Mai 1919 vorläufig in Höhe von 2500000 M bei der Beklagten angemeldet. Die Beklagte hat keine Zahlung geleistet, sondern unter dem 29. Juli 1919 dem Kläger folgendes geschrieben: "Die Rechtslage ist zurzeit völlig ungeklärt sowohl in bezug auf die Auslegung und Anwendung des alten Gesetzes von 1850, als auch ganz besonders dadurch, daß bei der Nationalversammlung ein Gesetzentwurf eingegangen ist, welcher die Regelung des Schadens voraussichtlich mit rückwirkender Kraft auf ganz neue Grundlagen stellen wird. Wir wollen unter allen Umständen das Zustandekommen des neuen Gesetzes abwarten (es kann sich dabei nur noch um Wochen handeln) und können Ihnen daher einen Bescheid im Sinne des § 5 des Gesetzes vom 11. März 1850 nicht erteilen. Wir empfehlen Ihnen dringend, um unnötige Prozeßkosten zu vermeiden, auch Ihrerseits mit der uns angekündigten Klagerhebung zu warten, da, wie gesagt, dem neuen Gesetze voraussichtlich rückwirkende Kraft beigelegt wird."
Auf dieses Schreiben hin hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben, die Beklagte aber hat die Einlassung zur Hauptsache verweigert, weil sie dem Kläger den im § 5 TG. vorgesehenen Bescheid noch nicht erteilt habe, vorher aber die Klage verfrüht und unzulässig sei. Beide Vorinstanzen haben den Einwand für unbegründet erachtet. Die Revision der Beklagten blieb erfolglos aus folgenden Gründen:
Gründe
"Von der Revision wird Verletzung des § 5 TG. gerügt. Dort werde vorgeschrieben, daß der Verletzte seine Schadensersatzforderung zunächst bei dem Gemeindevorstand anmelden müsse, dieser erteile darauf einen Bescheid und nun habe der Verletzte innerhalb einer präklusivischen Frist von vier Wochen nach dem Zugehen des Bescheids erforderlichenfalls gerichtlich zu klagen. Ein solcher Bescheid sei noch nicht ergangen, seine Erteilung werde vielmehr in dem Schreiben vom 29. Juli 1919 ausdrücklich abgelehnt. Die Klagefrist habe mithin noch nicht begonnen, vor ihrem Anfange könne aber nicht geklagt werden. Der Bescheid sei ein behördlicher Akt, der im Verwaltungsverfahren ergehe; der Kläger hätte im Instanzenweg auf seine Erteilung hinwirken müssen.
Mit diesen Ausführungen kann die Revision nicht durchdringen, weil das Schreiben vom 29. Juli 1919 einen endgültigen ablehnenden Bescheid enthält. Der Kläger verlangte von der Beklagten Schadensersatz auf Grund des Tumultgesetzes. Da er zunächst keinen Bescheid erhielt, erinnerte er wiederholt an dessen Erteilung, und nunmehr erhielt er die Antwort vom 29. Juli 1919, in der ihm mitgeteilt wurde, daß die Beklagte "unter allen Umständen" das Zustandekommen des neuen, damals der Nationalversammlung vorgelegten Gesetzes abwarten wolle, daher könne sie ihm einen Bescheid im Sinne des § 5 TG. nicht erteilen. Hiermit ist klar ausgesprochen, daß die Beklagte dem erhobenen Anspruche, so wie er geltend gemacht wurde, keinesfalls genügen wolle, damit aber hat sie einen dem § 5 genügenden Bescheid tatsächlich erteilt. Daß sie hinzusetzt, sie könne einen solchen Bescheid nicht erteilen, und bemerkt, daß das neue Gesetz die Schadensregelung voraussichtlich mit rückwirkender Kraft auf ganz neue Grundlagen stellen werde, es könne sich bei seinem Zustandekommen ihres Erachtens nur noch um Wochen handeln, ändert hieran nichts, sondern zeigt deutlich, daß die Beklagte dem auf das alte Gesetz gestützten Anspruch in keinem Falle zu entsprechen gedachte. Wie zu entscheiden wäre, wenn die Beklagte die Erteilung eines Bescheids nur zeitweilig, etwa bis zur Beendigung des im § 4 TG. vorgesehenen Verfahrens, abgelehnt hätte, kann dahingestellt bleiben; eine angemessene Frist muß der Gemeinde für ihre Entschließung jedenfalls gelassen werden.
Das Berufungsgericht hat auch geprüft, ob die Beschreitung des Rechtswegs vor der Erteilung des im § 5 vorgesehenen Bescheids zulässig sei, und hat diese Frage verneint. Es führt aus, die §§ 4, 5 könnten in ihrem Zusammenhange nur dahin ausgelegt werden, daß in jedem Falle zunächst ein vorläufiges Ermittlungsverfahren durch den Gemeindevorstand in seiner öffentlichrechtlichen Stellung als Verwaltungsbehörde stattfinden und ein Bescheid dieser Behörde über die bei ihr anzumeldenden Ansprüche ergehen müsse, bevor eine gerichtliche Geltendmachung im ordentlichen Rechtswege stattfinden könne. Ein Ermittlungsverfahren muß aber nach § 4 nur stattfinden, wenn der Beschädigte darum ansucht, im übrigen ist der Vorstand der Gemeinde zu seiner Einleitung lediglich berechtigt, kann somit auch davon absehen. Dieses Verfahren kann daher keine notwendige Klagevoraussetzung bilden, mag aber tatsächliche Bedeutung dann gewinnen, wenn es sich darum handelt, ob die Gemeinde zu einem gegebenen Zeitpunkte die Erteilung eines Bescheids ablehnen darf. Ob aber der Bescheid des Gemeindevorstands als privatrechtlicher Akt der in Anspruch genommenen ersatzpflichtigen Gemeinde oder als öffentlichrechtliche Vorabentscheidung einer Behörde aufzufassen ist, ferner, ob niemals früher geklagt werden kann, als bis der Bescheid erlassen ist, bedarf jetzt keiner Entscheidung. Wie oben ausgeführt, ist ein dem § 5 genügender Bescheid ergangen und daher liegen keine Bedenken gegen die Zulässigkeit des Rechtswegs vor.
An diesem Ergebnis wird durch das neue Gesetz über die durch innere Unruhen verursachten Schäden vom 12. Mai 1920 nichts geändert.
Nach § 19 ist es mit dem Tage der Verkündung, d.i. am 14. Mai 1920, in Kraft getreten. Wegen solcher Schäden, die nach diesem Zeitpunkte verursacht sind, können gemäß § 11 das. Ansprüche auf Grund landesgesetzlicher Vorschriften über den Ersatz von Aufruhrschäden gegen Länder oder Gemeinden nicht mehr geltend gemacht werden. In bezug auf Schäden hingegen, die in der Zeit vom 1. November 1918 bis zum Inkrafttreten des Gesetzes im Zusammenhange mit inneren Unruhen durch offene Gewalt oder ihre Abwehr verursacht sind, gilt das Gleiche nur dann, wenn es sich um Schäden an Leib und Leben handelt, § 14, im übrigen werden für diese Schäden im § 15 einschränkende Bestimmungen über den Schadensersatz getroffen, die grundsätzliche Zulässigkeit des Rechtswegs wird aber nicht berührt."