RG, 31.05.1920 - VI 431/19

Daten
Fall: 
Zusamenrottung von Militärgefangenen
Fundstellen: 
RGZ 99, 196
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
31.05.1920
Aktenzeichen: 
VI 431/19
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Duisburg
  • OLG Düsseldorf

Haftet eine Gemeinde für Schäden, die bei einer Zusammenrottung von Militärgefangenen verursacht worden sind, auch dann, wenn das im Gemeindebezirk befindliche Gefangenenlager der tatsächlichen und rechtlichen Einwirkung der Gemeindebehörden entzogen war?

Tatbestand

Während des Kriegs war in St. ein Militärgefangenenlager eingerichtet, in dem Gefängnisstrafen auf Grund der Militärstrafvollstreckungsvorschrift verbüßt wurden. Das Lager war von einer hohen Mauer umgeben, Kommandant war ein Feldwebelleutnant, die Bewachung bestand aus Landsturmleuten. Im November 1918 war das Lager mit 700 bis 1000 Gefangenen belegt, die tagsüber bei der G.-Hütte beschäftigt waren. Mit dieser hatte die Klägerin einen Vertrag abgeschlossen, in dem sie die Beköstigung der Gefangenen übernahm. Zu diesem Zwecke hatte sie in dem Lager eine Küche und eine Kantine eingerichtet, außerdem betrieb sie mit ihrem Mann in der H.straße zu St. noch eine Gastwirtschaft. In dem gleichen Hause hatte sie auch ihre Wohnung.

Am 8. November 1918 kam es zu Unruhen. Schon auf der Hütte weigerten sich die Gefangenen, zu arbeiten, es gelang aber, sie sämtlich wieder in das Lager zurückzubringen. Am Abend verschafften sie sich jedoch von dem Kommandanten den Schlüssel des Gefängnisses, verließen es und brachen in der Nacht zunächst in die Kantine und das Vorratslager der Klägerin ein. Nachdem diese fast vollständig ausgeplündert waren, zogen die Gefangenen nach der Wohnung der Klägerin, verschafften sich dort durch Zertrümmern der Fenster gewaltsam Eingang und zerstörten das Mobiliar und das Inventar der Wohnung und der Gastwirtschaft. Nach der Behauptung der Klägerin hätten sich auch Ortseingesessene an der Plünderung der Lebensmittel beteiligt. Die Gefangenen waren gegen die Klägerin wegen der ihnen nicht genügenden Beköstigung erbittert.

Wegen des ihr hierdurch erwachsenen Schadens fordert die Klägerin auf Grund des Tumultgesetzes Ersatz. Beide Vordergerichte erklärten den Anspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt. Die Beklagte und der ihr als Nebenintervenient beigetretene Reichsmilitärfiskus haben erfolgreich Revision eingelegt.

Gründe

"Von beiden Revisionen wird die Verletzung der §§ 1, 2 TG. gerügt. Sie führen aus, daß das Gesetz auf die mit einer allgemeinen Staatsumwälzung verbundenen Zusammenrottungen und auf Beschädigungen, die infolge solcher Zusammenrottungen durch offene Gewalt herbeigeführt worden seien, keine Anwendung finde. Dieser Auffassung ist der Senat in seinem Urteile vom 22. Dezember 1919 (RGZ. Bd. 98 S. 3) entgegengetreten und hat ausgesprochen. daß die Anwendbarkeit des Gesetzes dadurch nicht ausgeschlossen wird, daß ein Auflauf mit der allgemeinen Staatsumwälzung in Verbindung steht. Ob anders zu entscheiden wäre, wenn der Aufruhr der Gefangenen unmittelbar den Sturz der bestehenden Regierung bezweckt hätte, kann dahingestellt bleiben, weil es sich nicht um eine derartige Bewegung gehandelt hat, die Gefangenen vielmehr hauptsächlich aus Erbitterung wegen der ihnen nicht genügenden Beköstigung geplündert zu haben scheinen. Es bedarf auch keiner Prüfung der Frage, ob die Gemeinden nach dem Tumultgesetze für rechtswidrige Ausschreitungen einer der militärischen Kommandogewalt unterstehenden Truppenabteilung aufkommen müssen und ob die Insassen eines Militärgefangenenlagers einer solchen Truppenabteilung unter normalen Verhältnissen gleichgestellt werden können. Eine solche Gleichstellung kann jedenfalls dann nicht mehr stattfinden, wenn sich die Gefangenen empören, sich der Schlüssel des Gefängnisses bemächtigen und sich tatsächlich befreien. Ob dies unter Anwendung von Gewalt oder Drohungen gegenüber den Vorgesetzten geschah oder ob der Befehlshaber des Lagers, wie die Beklagte behauptet, freiwillig die Schlüssel herausgegeben hat, ferner, ob sich die militärischen Vorgesetzten der Gefangenen an den Ausschreitungen beteiligt haben, erscheint für den jetzt zu entscheidenden Anspruch aus dem Tumultgesetz unerheblich. In keinem Falle sind die empörten Gefangenen mit einer dem militärischen Kommando gehorchenden Abteilung zu vergleichen. Daß die Gefangenen "unter der Führung ihrer Vorgesetzten" vorgegangen seien, also nach deren Anweisungen geplündert hätten, steht nicht in Frage. Plündernde Gefangene, die wegen angeblich ungenügender Beköstigung erbittert sind und sich gegen die Inhaberin der Kantine wenden, konnte das Berufungsgericht auch dann als eine Zusammenrottung im Sinne des § 1 TG. ansehen, wenn sich Vorgesetzte an der Ausschreitung beteiligt haben sollten. Unerheblich ist es auch, ob sich die zusammengerottete Menge, wie die Revision ausführt, zur Herrin der Lage gemacht hatte, denn an der Tatsache einer Zusammenrottung wird hierdurch nichts geändert. Ebenso kommt es darauf, ob das Lager als solches der Militärpolizei und nicht der Ortspolizei unterstand, für sich allein nicht an, denn es ist, wie der Senat in dem Urteile vom 22. Dezember 1919, RGZ. Bd. 98 S.3. ausgeführt hat, keine Voraussetzung für die Anwendung des Tumultgesetzes, daß sich die Gemeinde im Besitze der Polizeigewalt befindet.

Zu Bedenken geben dagegen andere Erwägungen des Berufungsgerichts Anlaß. Die Beklagte weist darauf hin, daß die Gemeinden nach § 2 TG. dann nicht haften, wenn Beschädigungen durch eine von außen her in den Gemeindebezirk eingedrungene Menschenmenge verursacht worden sind und die Einwohner des letzteren zur Abwehr des Schadens außerstande waren. Unter dem Gemeindebezirk im Sinne der §§ 1, 2 TG. aber will sie nicht den geographischen Bezirk, sondern den Bezirk verstehen, innerhalb dessen die Polizei von der Gemeinde oder bei Staatspolizei für Rechnung der Gemeinde ausgeübt werde. Das abgeschlossene Lager sei eine Art Enklave in dem Gemeindebezirk, eine von dorther eindringende Menge komme im Sinne des § 2 von außen her. Weiter sei zu beachten, daß die Plünderungen teils innerhalb, teils außerhalb des Lagers stattgefunden hätten, für die ersteren habe die Beklagte keinesfalls einzustehen.

Diesen Ausführungen ist insoweit jedenfalls nicht zuzustimmen, als sie das Lager wegen seiner Abschließung nicht zu dem Gemeindebezirke rechnen, in dem es geographisch liegt. Zu einer solchen Einschränkung des Begriffs des Gemeindebezirks gibt weder der Wortlaut noch der Sinn des Gesetzes ausreichende Veranlassung. Aber die völlige Abschließung des Lagers von jeder, nicht nur der polizeilichen, Einwirkung der Gemeinde sowie überhaupt von der Außenwelt, die für diese Instanz zu unterstellen ist, kann in anderer Hinsicht Bedeutung gewinnen. Wie der Senat in dem Urteile vom 31. März 1920, VI. 445/19 (RGZ. Bd. 99 S. 2) ausgeführt hat, ist nach der Entstehungsgeschichte des Gesetzes an Zusammenrottungen und Zusammenläufe gedacht, die mit einer Bedrohung oder Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung verbunden sind. Bei Unruhen, die sich innerhalb einer geschlossenen Anstalt abspielen, wird eine solche Störung oder Bedrohung meist nicht anzunehmen sein, indessen können besondere Umstände für das Gegenteil sprechen. Es kommt hinzu, daß das Gesetz auf die Verhütung von Tumulten in der Weise hinwirken wollte, daß die Gemeindebehörden rechtzeitig auf Bewegungen aufmerksam gemacht würden, die drohende Gefahr des Gemeindeschadens im Auge behielten und es nicht zum Ausbruche von Unruhen kommen ließen, daß sie ferner "bei Erwägung und Anwendung der Mittel zur Abwendung dieser Gefahr bei allen Wohlgesinnten in der Gemeinde Unterstützung" finden möchten (Stenogr. Berichte der Ersten Kammer. 1850 S. 2429, Rede des Ministers v. Manteuffel. vgl. RGZ. Bd. 98 S. 204). Bei dem nicht nur der polizeilichen, sondern überhaupt jeder Einwirkung der Gemeindebehörden und der Gemeindeangehörigen in tatsächlicher und auch rechtlicher Hinsicht entzogenen Gefangenenlager treffen diese Erwägungen nicht zu. Die Behörden und Angehörigen der Gemeinde werden auch bei pflichtmäßiger Aufmerksamkeit in solchen Fällen regelmäßig nicht imstande sein, Gefahren zu erkennen, die von seiten der Gefangenen drohen könnten, und noch weniger, den Ausbruch von Unruhen in der Strafanstalt zu verhüten oder ihnen dort entgegen zu treten.

Ob und inwieweit diese Erwägungen der Klage entgegenstehen, läßt sich nicht sicher beurteilen. Nach dem Tatbestände muß angenommen werden, daß die Klägerin im Orte St. selbst wohnte, während sich die Kantine mit Küche in dem Lager befand; ob sich dort auch das Vorratslager der Klägerin befunden hat, ist nicht unzweifelhaft. Auch der Verlauf der Unruhen steht nicht näher fest. Gesagt wird, die Gefangenen hätten sich am Abend den Schlüssel des Gefängnisses verschafft und dieses verlassen, dann hätten sie noch in der Nacht Kantine und Warenlager geplündert und seien hierauf zur Wohnung der Klägerin gezogen. Hier bleibt unklar, ob unter dem "Gefängnis" ein im Innern des Lagers befindliches besonderes Gefängnis zu verstehen ist oder ob das Lager als solches gemeint wird; weiter ist nicht ersichtlich, ob die Plünderungen im Lager vor oder nach der Beseitigung der Abschließung des ganzen Lagers nach außen hin stattgefunden haben. Nach der Behauptung der Klägerin hätten sich Ortseingesessene den Gefangenen angeschlossen und an der Plünderung der Lebensmittel beteiligt, ein Umstand, der namentlich dann, wenn sich die Einwohner an der Plünderung nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Lagers beteiligt haben, von Bedeutung für die rechtliche Beurteilung der Vorgänge sein kann. Alle diese Verhältnisse bedürfen näherer tatsächlicher Aufklärung."