RG, 12.06.1920 - I 54/20

Daten
Fall: 
Eisenbahn im internationalen Frachtverkehr
Fundstellen: 
RGZ 100, 50
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
12.06.1920
Aktenzeichen: 
I 54/20
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • Landgericht Beuthen
  • Oberlandesgericht Breslau

1. Hat die Eisenbahn im internationalen Frachtverkehr Schadensersatz zu leisten, wenn durch ein fahrlässiges Handeln ihrer Leute die Beförderung verzögert, die Lieferfrist aber doch noch eingehalten wird?
2. Zur Haftung der Eisenbahn für grobe Fahrlässigkeit gemäß Art. 41 des Internationalen Übereinkommens über den Eisenbahnfrachtverkehr vom 14. Oktober 1890 (RGBl. 1892 S. 793).

Tatbestand

Am 17. November 1916 sandte die Firma G. D. zu Ymuiden in Holland einen Waggon mit 19100 Pfund Schellfisch für Rechnung der Klägerin, die die Fische gekauft und bezahlt hatte, an die Schlesisch-Mährische Konservenfabrik in D. Während der Beförderung wurde der Frachtbrief von der Sendung getrennt, auch löste sich der Beklebezettel vom Wagen. Infolgedessen wurde die Sendung nach E. bei Leipzig verschleppt, wo sie am 21. November 1916 eintraf. Am 25. desselben Monats wurden die Fische auf Anordnung der Generaldirektion der Sächsischen Eisenbahnen in Leipzig verkauft. Der dabei erzielte Reinerlös wurde der Klägerin ausgezahlt. Die Firma G. D. hat die aus dem Frachtvertrag und der Versteigerung der Fische ihr erwachsnen Ansprüche an die Klägerin abgetreten. Diese hat geltend gemacht, daß die Verschleppung der Sendung und die Versteigerung der Fische auf grobe Fahrlässigkeiten der Angestellten des Beklagten zurückzuführen seien. Sie hat auf Schadensersatz in Höhe von 15278,58 M nebst Zinsen geklagt. Das Landgericht erkannte nach diesem Antrage. Dagegen wies das Oberlandesgericht die Klage ab. Die Revision der Klägerin wurde zurückgewiesen aus folgenden Gründen.

Gründe

Das Oberlandesgericht führt aus: Die Eisenbahn habe sich allerdings verschiedene Fahrlässigkeiten zuschulden kommen lassen. So sei der Beklebezettel des Wagens nicht ordnungsmäßig angebracht worden. Die Bahn habe es dazu kommen lassen, daß die Begleitpapiere von dem Wagen getrennt seien. Schließlich habe für eine schleunigere Aufklärung gesorgt werden müssen. Dadurch sei aber nur eine Verzögerung der Beförderung bewirkt worden. Am 25. November l916, einem Sonntage, sei dann der Verkauf der Fische in Leipzig vorgenommen worden. Während der Ausführung sei telegraphisch die Nachricht eingegangen, daß der Wagen nach D. habe gehen sollen. Damals habe aber bereite ein beginnender Verderb der Fische vorgelegen. Einige obenauf liegende Fische seien schon völlig unverwertbar, ein Teil der übrigen sei schon mit einem gelblichen Schleim behaftet gewesen. Bei einer Weiterversendung nach D, wo sie aller Voraussicht nach am 28. November eingetroffen wären, wären die Fische völlig verdorben und namentlich auch für die beabsichtigte Weiterverarbeitung zu Konserven unverwendbar geworden. Die um 10 Tage verlängerte Lieferfrist sei aber erst am 3. Dezember abgelaufen. Sie habe für die Weiterversendung genügt. Nun sei der Zustand der Fische nur eine Folge der Verzögerung der Beförderung gewesen. Dafür hafte aber die Bahn nicht, da sie die ganze Lieferfrist für die Beförderung habe ausnutzen dürfen. Frische Seefische seien nach ihrer eigentümlichen natürlichen Beschaffenheit der besonderen Gefahr ausgesetzt, inneren Verderb zu erleiden. Der Verkauf am 25. November habe verhindert, daß die Fische wertlos oder doch fast wertlos geworden seien, und so für die Klägerin gerettet, was sich noch habe erzielen lassen. Der Kaufpreis von 94 Pf für das Pfund sei ein recht guter gewesen. Er habe also nicht zu einem Verlust für die Klägerin geführt, sondern sie vor Schaden bewahrt.

Die Revision macht hiergegen geltend: Die Klage werde auf eine grobe Fahrlässigkeit der Angestellten des Beklagten gegründet, die zur Folge gehabt habe, daß das Gut verdorben sei. Auf eine Versäumung der Lieferfrist gründe sie sich nicht. Die Eisenbahn habe keinen Freibrief, den regelrechten Lauf der Güter zu verlangsamen und dadurch inneren Verderb herbeizuführen. Der aus der Vernichtung der Ware sich ergebende Schaben sei ein anderer, als Schaden durch Versäumung der Lieferfrist.

Den Erwägungen des Oberlandesgerichts war jedoch beizutreten.

Es handelt sich um eine in Holland aufgegebene und nach einem Orte in Österreich-Ungarn gerichtete Sendung, die durch Deutschland als Durchfuhrgut ging. Auf das Rechtsverhältnis des Beklagten zum Absender und Empfänger finden daher die Vorschriften des Internationalen Übereinkommens über den Eisenbahnfrachtverkehr Anwendung. Dieses kommt hier als deutsches Recht in Betracht, so daß seine richtige Anwendung nachzuprüfen ist. Keine seiner Bestimmungen kann aber den Klaganspruch rechtfertigen. Aus Art. 29 ergibt sich nur, daß die Bahn für die Handlungen ihrer Angestellten aufzukommen hat, als ob sie ihre eigenen Handlungen wären. Sie kann sich nicht damit entlasten, daß sie bei der Auswahl ihrer Leute die erforderliche Sorgfalt beobachtet habe. Nach Art 30 haftet die Bahn grundsätzlich für den Schaden, welcher in der Zeit von der Annahme des Guts zur Beförderung bis zur Ablieferung entstanden ist. Danach ist an sich ihre Haftung gegeben. Nach Art. 31. Abs. 1 Nr. 4 haftet die Bahn aber in Ansehung der Güter, welche vermöge ihrer natürlichen Beschaffenheit der besonderen Gefahr ausgesetzt sind, Beschädigung, insbesondere inneren Verderb, zu erleiden, nicht für Schaden, welcher aus dieser Gefahr entstanden ist, und es ist nach Abs. 2 daselbst bis zum Beweise des Gegenteils anzunehmen, daß die aus ihrer natürlichen Beschaffenheit sich ergebende Gefahr sich tatsächlich verwirklicht hat. Die Gefahr des inneren Verderbs, die bei vielen Sachen gegeben ist, folgt daraus, daß sie infolge ihrer natürlichen Eigenschaften im Laufe eines Zeitraums von größerer oder geringerer Dauer sich ändern, daß sie verderben. Diese Gefahr hat sich auch im vorliegenden Falls verwirklicht. Daraus ergibt sich, daß der Klaganspruch nicht nach Art 30 gerechtfertigt ist.

Die Bahn würde allerdings nach Art 89 den entstandenen Schaden zu ersetzen haben, wenn er durch eine Versäumung der Lieferfrist entstanden wäre Das ist aber nicht der Fall. Die Lieferfrist war zur Zeit der Entstehung des Schadens noch nicht abgelaufen. Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts hätte sogar die Zeit bis zu ihrer Beendigung noch reichlich genügt, die Ablieferung rechtzeitig zu bewirken. Wird aber die Lieferfrist eingehalten, so ist nach den Vorschriften des IntÜb. eine Haftung für die Verzögerung der Beförderung, auch wenn sie sich hätte vermeiden lassen, nicht gegeben. In Frage kann nur kommen, ob nach Art. 41 etwas anderes anzunehmen ist. Er bestimmt, daß in allen Füllen die Vergütung des vollen Schadens gefordert werden kann, wenn er infolge der Arglist oder der groben Fahrlässigkeit der Bahn entstanden ist. Die Entscheidung hängt insofern davon ab, ob der Artikel nur für solche Fälle, in denen schon nach anderen Bestimmungen eine Haftung der Bahn begründet ist, die Beschränkung der Ersatzpflicht auf einen Teil des Schadens aufheben und das Recht auf volle Entschädigung gewähren soll, sofern der Schaden durch Arglist oder grobe Fahrlässigkeit der Bahn oder ihrer Leute verursacht worden ist, oder ob er unter dieser Voraussetzung die Bahn haftbar machen will auch dann, wenn nach den sonstigen Bestimmungen des IntÜb. eine Haftung der Bahn überhaupt nicht gegeben ist. Für die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, welche Bedeutung die Lieferfristen bei Frachtverträgen haben. Indem die Bahn die tarifmäßige Beförderung eines Guts übernimmt, verpflichtet sie sich, die Beförderung nach den Bestimmungen des Tarifs auszuführen. Sie hat daher die Pflicht, die Lieferfrist einzuhalten; sie hat aber auch das Recht dazu. Die Sache liegt insoweit nicht anders als bei sonstigen Verträgen, in denen die Erfüllung innerhalb einer Frist vereinbart wird. Nur diese Auffassung wird auch dem Zwecke gerecht, dem die Lieferfristen dienen sollen. Das Oberlandesgericht weist zutreffend darauf hin, daß die Lieferfristen gerade wegen der Möglichkeit, daß das Frachtgut oder der Güterwagen, in dem es sich befindet, irgendwo eine Zeitlang liegen bleibt, über die notwendige Zeit bemessen sind, und daß bei Schutz, den diese Bestimmung der Lieferfristen der Bahn gewähren soll, vielfach vereitelt würde, wenn die Bahn trotzdem für den Schaden aufzukommen hätte, der durch ein vorübergehendes Stehenbleiben der Wagen am Frachtgut entsteht. Es ist zu berücksichtigen, daß es sich bei einer Bahn um einen Massenbetrieb handelt. Unregelmäßigkeiten und Versehen lassen sich dabei vielfach nicht vermeiden. Deshalb übernimmt die Bahn nach ihren Tarifen die Beförderung nur innerhalb einer zu ihren Gunsten reichlich bemessenen Frist. Dazu kommt noch, daß die Bahnverwaltung besonders bei Versendungen über weite Strecken nicht in der Lage ist, die einzelnen Sendungen individuell zu behandeln. Sie muß klare, leicht zu übersehende Verhältnisse haben. Daher kann sie nur einzelne Abstufungen vornehmen, wie sie durch die Unterscheidung von Frachtgut- und Eilgutsendungen gegeben sind (in Deutschland war auch die Versendung als beschleunigtes Eilgut möglich, bei dem sehr kurze Lieferfristen vorgesehen waren); sie kann aber nicht die Lieferfristen nach der jeweiligen Beschaffenheit des Guts bemessen.

Hat aber die Lieferfrist die dargelegte Bedeutung, so kann ein Schaden, der aus einer Verzögerung der Beförderung entstanden ist, die Bahn nicht haftbar machen, wenn die Verzögerung nicht zu einer Überschreitung der Lieferfrist geführt hat. Denn ein schuldhaftes Handeln für sich allein begründet keinen Schadensersatzanspruch. Wenn gesagt ist, daß der Schuldner für Fahrlässigkeit oder grobe Fahrlässigkeit aufzukommen habe, so ist damit nur der subjektive Tatbestand bezeichnet, der vorliegen muß, wenn ein Ersatzanspruch bestehen soll. Der objektive Tatbestand muß hinzukommen. Es muß, von besonderen. hier nicht in Betracht kommenden Fällen abgesehen, eine Rechtsverletzung vorliegen. Eine Pflicht, zu handeln oder zu unterlassen, muß verletzt sein (vgl. Planck. BGB, § 276 Anm. 1a; Komm. v. RGR., § 276 Anm. 1).

Nun ist ja an sich die Auffassung denkbar, daß der Art. 41 den Lieferfristen eine andere Bedeutung verleiht, als sie nach der vorstehenden Darlegung haben. Allein zunächst ist er doch jedenfalls dazu bestimmt, die Haftung der Bahn für den Fall zu erweitern, daß eine Ersatzpflicht nach den Art. 30 bis 40 begründet ist und nun noch der erschwerende Umstand hinzukommt, daß der Schaden arglistig oder grob fahrlässig verursacht worden ist. Diese Bestimmung hat einen guten Sinn. Unter der angegebenen Voraussetzung hat eine Beschränkung der Haftung, wie sie z. B. in den Art. 34, 40 vorgesehen ist, keine innere Berechtigung. Wollte man aber annehmen, der Art. 41 begründe für den Fall, daß Arglist oder grobe Fahrlässigkeit vorliege, allgemein einen Anspruch auf Schadensersatz, so würde damit den Bestimmungen des Übereinkommens über die Lieferfristen ein ganz anderer Sinn verliehen. Das Ergebnis wäre, daß die Bahn nicht mehr das Recht hätte, die Lieferfristen auszunutzen. Daß aber eine Bestimmung, welche die Folgen von Arglist und grober Fahrlässigkeit regelt, zugleich dazu dienen soll, eine sonst nicht bestehende Rechtspflicht zu begründen, kann nicht angenommen werden.

Dazu kommt, daß auch die Stellung des Art. 41 für die dargelegte Auffassung spricht. Er folgt unmittelbar auf Vorschriften, die nur eine beschränkte Haftung der Bahn vorsehen. Im Gegensatz dazu gewährt er unter Umständen einen Anspruch auf vollen Schadensersatz. Danach kann nur angenommen werden, daß sein Zweck lediglich darin besteht, die in den vorangehenden Artikeln vorgesehene Haftung zu erweitern. Daß der Artikel so aufzufassen ist, wird auch durch die §§ 457 Abs. 3, 466 Abs. 3 HGB. bestätigt. Diese sind unzweideutig dahin gefaßt, daß durch sie nur eine aus anderen Bestimmungen sich ergebende Haftung erweitert wird. Es erscheint ohne weiteres ausgeschlossen, daß der Gesetzgeber - das IntÜb. kommt hier, ebenso wie das HGB., als Reichsrecht in Frage - für internationale Beförderungen den Bahnen eine weitergehende Haftung hätte auferlegen wollen, als sie bei Beförderungen besteht, die nur innerhalb Deutschlands vorgenommen werden. Im internationalen Verkehr ist naturgemäß mit erhöhten Schwierigkeiten zu rechnen.

Daß die Art. 30 bis 40 in der schließlichen Fassung des Art. 41 nicht erwähnt sind, wie in dem ursprünglichen Entwurf beabsichtigt war, steht der hier gegebenen Auslegung nicht entgegen. Es kann sich einfach dadurch erklären, daß die Erwähnung für überflüssig erachtet wurde. Auch wäre nicht ohne weiteres maßgebend, was einzelne bei der Abfassung des Übereinkommens beteiligte Personen mit der Änderung des Entwurfs bezweckt haben.

Ebensowenig kann es auf das Bedenken ankommen, daß die Bahn selbst bei einer vorsätzlichen Schädigung nicht hafte, wenn nur die Frist eingehalten werde. Eine solche Möglichkeit ist so fernliegend, daß der Gesetzgeber keinen Anlaß hatte, sie besonders in Betracht zu ziehen, zumal die gewöhnlichen Eilgutfristen so bemessen waren, daß die Bahn schon in ihrem eigenen Interesse eine unnötige Verzögerung vermeiden mußte. Es bedarf daher auch keiner Untersuchung, wie ein solcher Fall zu beurteilen wäre, ob und wie weit insbesondere die Bestimmungen über unerlaubte Handlungen eingreifen würden.

Hiernach ist in Übereinstimmung mit der Entscheidung RGZ. Bd. 89 S.338 anzunehmen, daß auch bei grob fahrlässiger Verzögerung der Beförderung die Bahn für den dadurch verursachten Schaden nicht haftet, wenn sie nur die Lieferfrist einhält.

Mit der Revision wird allerdings geltend gemacht, der durch die Vernichtung des Guts entstandene Schaden sei ein anderer als ein Schaden durch Versäumung der Lieferfrist. Allein es handelt sich eben nur um einen Schaden, der auf die Verzögerung der Beförderung zurückzuführen ist. Es fehlt daher, wie die vorstehenden Darlegungen ergeben, an einer Rechtsverletzung. auf welche der Ersatzanspruch gegründet werden könnte. Der Schaden ist entstanden, ehe der Beklagte zur Ablieferung des Guts verpflichtet war. Daß die Fische dann versteigert worden sind, hat lediglich die Klägerin vor einer Vergrößerung des Schadens bewahrt.