RG, 12.11.1920 - VII 232/20

Daten
Fall: 
Eheanfechtungsklage
Fundstellen: 
RGZ 100, 208
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
12.11.1920
Aktenzeichen: 
VII 232/20
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Göttingen
  • OLG Celle

Kann eine mit der Eheanfechtungsklage durchgedrungene Partei Berufung einlegen, um im zweiten Rechtsgange in erster Linie die Scheidung zu begehren ?

Tatbestand

Gegenüber der Scheidungsklage ihres Ehemannes hatte die Beklagte Abweisung beantragt und Widerklage erhoben mit dem Antrage, in erster Linie die zwischen den Parteien geschlossene Ehe für nichtig zu erklären, hilfsweise die eheliche Gemeinschaft der Parteien aufzuheben und den Kläger für den schuldigen Teil zu erklären. Das Landgericht wies die Klage ab und erkannte nach dem Hauptantrage der Widerklage, indem es die auf Irrtum über persönliche Eigenschaften des Klägers gestützte Anfechtungsklage für begründet hielt. Die Beklagte legte Berufung ein mit dem Antrag, in erster Linie die Ehe der Parteien zu scheiden und den Kläger für den allein schuldigen Teil zu erklären, hilfsweise die Ehe der Parteien für nichtig zu erklären. Die Berufung wurde als unzulässig verworfen. Die Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg.

Gründe

Nach feststehender Rechtsprechung des Reichsgerichts, der sich auch das Schrifttum mit nur noch ganz wenigen Ausnahmen angeschlossen hat, setzt die Zulässigkeit der Berufung eine Beschwerung des Berufungsklägers voraus, und eine solche liegt nicht vor, wenn vollständig nach seinen Anträgen erkannt ist; er ist alsdann schon formell gar nicht in der Lage, gegen das Urteil ein Rechtsmittel einzulegen. Es ist in der Rechtsprechung weiter daran festgehalten, daß trotz der durch § 529 Abs. 2 ZPO. gegebenen Möglichkeit, im Rahmen des § 268 Nr. 2 und 3 ZPO. den Klagantrag noch in der Berufungsinstanz zu erweitern und zu ändern, die Berufung vom siegreichen Kläger nicht lediglich zum Zwecke der Erweiterung oder Veränderung des Klaganspruchs eingelegt werden darf. Dasselbe gilt von der nach § 614 ZPO. in Ehesachen auch noch in der Berufungsinstanz zugelassenen Geltendmachung neuer Klagegründe und dem danach zulässigen Übergang von einer Klage zur anderen, so von der Anfechtungsklage zur Scheidungsklage und umgekehrt. Die Bestimmung des § 614 setzt ebenso wie die des § 529 Abs. 2 eine zulässige Berufung voraus; eine Erweiterung oder eine Umformung des Klaganspruchs kann durch den Berufungskläger nur vorgenommen werden, wenn er zugleich durch das erste Urteil beschwert und infolgedessen die Berufung überhaupt zulässig ist. Die Erweiterung oder Änderung des Klagantrags kann wohl der Erfolg, sie darf aber nicht der ausschließliche Zweck der Berufung des in erster Instanz siegreichen Klägers sein. Das Reichsgericht hat diese Grundsätze in ständiger Rechtsprechung im allgemeinen auch auf Ehesachen angewendet und ausgeführt, daß die durch § 616 ZPO. (§ 570 a. F.) verfügte Einschränkung neuer Scheidungs- und Ungültigkeitsklagen zwischen den Parteien eines beendigten Scheidungs- oder Ungültigkeitsprozesses keineswegs dahin führen kann, die Berufung von der ihr sonst gesetzten Schranke zu befreien und auch ohne die Voraussetzung einer formellen Beschwerung des Berufungsklägers zuzulassen (vgl. RGZ. Bd. 36 S. 352, Bd. 45 S. 321, auch Bd. 13 S. 390, Bd. 29 S. 377, Bd. 55 S. 244, Bd. 59 S. 347, Warneyer 1916 Nr. 143; Stein ZPO. 10. Aufl. Bd. 2 S. 10 Anm. II 1 zu § 511; Skonietzki-Gelpke Bd. 2 S. 1276 Anm. 4. II zu § 511 und S. 1329 Anm. 7 zu § 529; Petersen Bd. 2 S. 4 Anm. 3 zu § 511). Nur zugunsten der Aufrechterhaltung der Ehe ist vom Reichsgericht von dem Erfordernis der formellen Beschwerung des Rechtsmittelklägers eine Ausnahme für den Fall zugelassen, daß das Rechtsmittel lediglich zum Zwecke der Zurücknahme der Nichtigkeits- oder Scheidungsklage oder zum Zwecke des Verzichts auf den Urteilsanspruch oder zum Zwecke des Übergangs von der Scheidungsklage zur Klage auf Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft eingelegt wird. Die Ausnahme ist damit begründet, daß zugunsten der Aufrechterhaltung der Ehe auch der siegreiche Kläger die Möglichkeit haben muß, seinen Verzicht auf die Urteilsfolgen zur Geltung zu bringen (vgl. RGZ. Bd. 27 S. 371, Bd. 36 S. 351, Bd. 91 S. 365; JW. 1913 S. 1041 Nr. 17; Warneyer 1913 Nr. 172. 1916 Nr. 143).

Hiernach kann die Revision nicht auf Verletzung der §§ 614, 616 ZPO. gestützt werden. Auch im übrigen ist sie nicht begründet. Das Landgericht hat dem prinzipalen Antrage der Widerklage stattgegeben. Damit hat die Beklagte erreicht, was sie erstrebt; ihr Hilfsantrag auf Scheidung der Ehe konnte nur in Frage kommen, wenn dem Hauptantrage nicht entsprochen wurde. Es fehlt somit für die Zulässigkeit der Berufung an dem Erfordernis einer Beschwerung. Ein Ausnahmefall der obenbezeichneten Art liegt nicht vor; die Beklagte will nicht für den Fall der Abweisung ihrer an die erste Stelle gerückten Scheidungsklage die Ehe fortsetzen, sondern sie hält für diesen Fall ihre Anfechtungsklage aufrecht und macht sie hilfsweise geltend. Sie erstrebt also mit der Berufung in jedem Falle die Auflösung und nicht die Aufrechterhaltung der Ehe. Die Erwägung, daß im Falle der Scheidung die Ehe bis zur Rechtskraft des Scheidungsurteils rechtsgültig bestanden haben würde, während sie im Falle bei erfolgreichen Anfechtung als von Anfang an nichtig anzusehen ist, rechtfertigt nicht die Zulassung der Ausnahme, für welche vielmehr lediglich die Rücksicht auf die Aufrechterhaltung der Ehe bestimmend sein kann. Die Berufung ist deshalb mit Recht als unzulässig verworfen. Das Berufungsgericht kommt der Beklagten schon zu weit entgegen, wenn es die Berufung unter der Voraussetzung als zulässig ansehen will, daß das landgerichtliche Urteil schon zur Zeit seiner Verkündung dem Interesse der Beklagten nicht entsprochen habe, oder daß das Interesse nachher weggefallen sei. Mangels einer formellen Beschwerung der Beklagten kam es auf die Prüfung der Frage, ob das Urteil materiell ihrem wahren Interesse entsprach, überhaupt nicht an. ...