RG, 23.11.1920 - III 235/20

Daten
Fall: 
Armenrechtsgesuch
Fundstellen: 
RGZ 100, 268
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
23.11.1920
Aktenzeichen: 
III 235/20
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Gleiwitz
  • OLG Breslau

1. Kann die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen den Ablauf der Berufungsfrist versagt werden, weil der Gesuchsteller, der im ersten Rechtszuge das Armenrecht gehabt hatte, seinem Armenrechtsgesuche für den zweiten Rechtszug kein neues Armutszeugnis beigefügt hat?
2. Umfang der Behauptungs- und Glaubhaftmachungspflicht nach § 236 Abs. 1 Nr. 1, § 234 Abs. 2 ZPO. im Falle der Verzögerung der Ausstellung des Armutszeugnisses.

Tatbestand

Der durch Urteil des Landgerichts vom 14. Mai 1919, zugestellt am 2. Juni 1919, abgewiesene Kläger hat in einem Gesuche vom 19. Juni 1919, eingegangen bei dem Oberlandesgericht am 23. dess. Mts., um Bewilligung des Armenrechts für die Berufung; ein Armutszeugnis hatte er, da ihm für den ersten Rechtszug das Armenrecht bewilligt war, dem Gesuche nicht beigefügt. Die von dem Berufungsgericht am 24. dess. Mts. eingeforderten Akten gingen erst am 3. Juli 1919 ein. Am 7. dess. Mts. forderte das Oberlandesgericht, welches das bei den Akten befindliche Armutszeugnis vom 31. Mai 1917 für zu lange zurückliegend erachtete, die Einlieferung eines neuen. Durch Schreiben vom 19. Juli, beim Gericht eingegangen am 20. dess. Mts., teilte der Kläger mit, daß er sofort nach Eingang der Aufforderung vom 7. den Amtsvorsteher um Erteilung eines Armutszeugnisses gebeten, dieses indessen noch nicht erhalten habe; er werde um Beschleunigung der Erteilung bemüht sein und das Zeugnis nach Eingang sofort einreichen. Am 1. August ging mit Schreiben des Klägers vom 31. Juli das vom 29. Juli datierte Armutszeugnis bei dem Oberlandesgericht ein. Durch Beschluß vom 5. August wurde sodann dem Kläger das Armenrecht bewilligt. Am 9. legte der Armenanwalt für den Kläger Berufung ein und beantragte gleichzeitig unter Anführung der vorstehenden Tatsachen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist. Das Oberlandesgericht verwarf die Berufung als unzulässig. Auf die Revision des Klägers wurde das Urteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gründe

Das Berufungsgericht meint zunächst, man könne ein Verschulden des Klägers darin finden, daß er seinem Armenrechtsgesuche vom 19. Juni 1919 kein neues Armutszeugnis beigefügt habe, obwohl er sich bei ordentlicher Überlegung habe sagen müssen, daß das Zeugnis vom 21. Mai 1917 kaum noch als beweiskräftig erachtet werden könnte, zumal sich gerade während des Krieges bedeutende Änderungen in den Vermögens- und Einkommensverhältnissen vollzogen hätten. Es läßt dies aber dahingestellt, weil es jedenfalls Pflicht des Klägers gewesen sei, sofort nach Empfang der Verfügung vom 7. Juli 1919 die ihm aufgegebene Einreichung eines neuen Armutszeugnisses mit allen Mitteln zu betreiben. Der Zeitraum bis zum 31. Juli sei an sich lang genug, um eine Versäumnis des Klägers annehmen zu lassen, und daß ihm eine frühere Einreichung nach dem Geschäftsgange bei dem Amtsvorsteher nicht möglich gewesen sei, habe er in dem Wiedereinsetzungsgesuch nicht behauptet, auch Mittel zur Glaubhaftmachung weder in diesem angeführt noch in dem Verhandlungstermin überreicht. Das Gesuch entspreche daher nicht den gesetzlichen Erfordernissen des § 236 ZPO.

Bei diesen Ausführungen hat der Vorderrichter nicht beachtet, daß die Berufungsfrist bereits am 2. Juli, also vor dem Erlasse der Verfügung vom 7. dess. Mts. abgelaufen war und daß für die spätere Zeit nicht die Vorschrift des § 233 Abs. 1 ZPO., sondern die des § 234 in Betracht kommt, nach der die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand innerhalb einer zweiwöchigen Frist von der Hebung des Hindernisses ab beantragt werden muß. Aus dem Wiedereinsetzungsgesuch und den Gerichtsakten ergab sich ohne weiteres, daß das Armenrechtsgesuch rechtzeitig vor Ablauf der Berufungsfrist bei Gericht eingelaufen war und ein Bescheid darauf innerhalb dieser Frist deshalb nicht ergangen ist, weil die Akten erst nach deren Ablaufe bei Gericht eingelaufen sind. Die Voraussetzung des § 233 Abs. 1 ZPO., daß der Kläger durch einen unabwendbaren Zufall an der Einhaltung der Berufungsfrist verhindert war, war danach dargetan. Das Berufungsgericht hätte nun prüfen müssen, ob die zweiwöchige Frist gewahrt war, insbesondere, wann das der Einlegung der Berufung entgegenstehende Hindernis, die unverschuldete Anwaltlosigkeit (RGZ, Bd. 47 S. 377, Bd. 67 S. 186; JW. 1902 S. 604, 1909 S. 728; Warneyer 1915 S. 188, 1918 S. 29; LZ. 1919 Sp. 259). behoben war. Kam es zu dem Ergebnisse, daß die Anwaltlosigkeit des Klägers erst innerhalb der letzten zwei Wochen aufgehört habe, eine unverschuldete zu sein, dann hätte die Wiedereinsetzung bewilligt werden müssen, ohne daß es einer näheren Darlegung der Gründe für die Verspätung der Einlieferung des Armutszeugnisses und der Angabe der Mittel für deren Glaubhaftmachung bedurft hätte. Nur wenn Zweifel blieben, ob nicht das Hindernis bereits mehr als zwei Wochen vorher behoben gewesen sei, konnte das Wiedereinsetzungsgesuch abgewiesen werden, weil es nicht diese Gründe und die Mittel für ihre Glaubhaftmachung enthalte; denn auch die Tatsachen, die die Einhaltung der Frist des § 234 ergeben, gehören zu den die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen im Sinne des § 236 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. (RGZ. Bd. 31 S. 400; JW. 1902 S. 604; Warneyer 1908 S. 444, 1915 S. 188).

Der Berufungsrichter stellt aber ferner auch zu hohe Anforderungen an den Kläger hinsichtlich der Beschaffung des Armutszeugnisses und an seine Behauptungs- und Glaubhaftmachungspflicht in dem Wiedereinsetzungsgesuche. Nach § 119 Abs. 2 Satz 1 ZPO. bedarf es bei einem Gesuch um Bewilligung des Armenrechts für die höhere Instanz des Nachweises des Unvermögens nicht, wenn das Armenrecht in der vorherigen Instanz bewilligt war. Deshalb kann man hier dem Kläger nicht zum Vorwurfe machen, daß er seinem Armenrechtsgesuche vom 19. Juni 1919 nicht ein neues Armutszeugnis beigefügt hatte, obwohl das in dem ersten Rechtszug eingereichte Zeugnis bereits über 2 Jahre alt war und im Kriege vielfach starke Veränderungen in den Vermögensverhältnissen eingetreten sind; der Kläger durfte vielmehr abwarten, ob das Berufungsgericht das alte Zeugnis für genügend erachten oder ein neues fordern würde. Ob im Anschluß an das Urteil des Reichsgerichts V 218/19 vom 15. November 1919 vielleicht dann etwas anderes anzunehmen wäre, wenn sich die Verhältnisse des Klägers inzwischen günstiger gestaltet hätten, so daß er nicht von seiner Armut im Sinne des § 114 ZPO, überzeugt sein konnte, bedarf keiner Entscheidung, weil sich ausweislich der beiden Armutszeugnisse seine Vermögensverhältnisse inzwischen nicht gebessert hatten.

Ebensowenig zu billigen ist die Ansicht des Berufungsgerichts, daß schon die Länge des Zeitraums vom 7. bis 31. Juli für eine Versäumnis des Klägers spreche und deshalb von diesem darzulegen gewesen sei, daß ihm nach dem Geschäftsgange bei dem Amtsvorsteher eine frühere Einreichung des Armutszeugnisses nicht möglich gewesen sei. Eine solche Vermutung für ein Verschulden eines Gesuchstellers der erst nach etwa drei Wochen das eingeforderte Armutszeugnis einreicht, kann nicht anerkannt werden. Sie würde mit den tatsächlichen Verhältnissen unvereinbar sein. Auch ohne jedes Verschulden des Gesuchstellers kommt eine derartige Verspätung der Erledigung von Gesuchen um Ausstellung von Armutszeugnissen vor. Insbesondere kann auch nicht allgemein eine Verpflichtung des Gesuchstellers angenommen werden, auf rasche Erledigung seines Gesuchs hinzuwirken. Er wird sich vielmehr regelmäßig darauf verlassen dürfen, daß sein Gesuch von der Behörde ordnungsmäßig erledigt wird (vgl. RG. VI 359/18 vom 10. Februar 1919, LZ. 1919 Sp. 888), und nur unter besonderen Umständen fahrlässig handeln, wenn er nicht auf Beschleunigung drängt.