RG, 08.07.1920 - III 53/20

Daten
Fall: 
Haftung des Reiches für Handlungen der Arbeiter- und Soldatenräte
Fundstellen: 
RGZ 100, 25
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
08.07.1920
Aktenzeichen: 
III 53/20
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • Landgericht Frankfurt a.M.
  • Oberlandesgericht Frankfurt

1. Haftet das Reich gemäß des Gesetze vom 22. Mai 1910 für Handlungen der Mannschaften der Arbeiter- und Soldatenräte ?
2. Zur Anwendung des preußischen Gesetzes über den Waffengebrauch des Militärs vom 20. März 1837.

Tatbestand

Der Kläger beansprucht auf Grund des Reichsgesetzes vom 22. Mai 1910 vom Beklagten Schadensersatz mit der Behauptung, daß am 12. November 1918 in Frankfurt a. M. Wachmannschaften des Soldatenrats, die am Hauptbahnhof zu Sicherheitszwecken aufgestellt gewesen seien, durch scharfe Schüsse ihm gehörige Häuser beschädigt hätten.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil die Wachmannschaften nicht in Ausübung einer ihnen anvertrauten öffentlichen Gewalt gehandelt hätten. Das Berufungsgericht hat zwar die Ausübung anvertrauter öffentlicher Gewalt bejaht, die Zurückweisung der Berufung jedoch damit begründet, daß den Wachmannschaften eine vorsätzliche oder fahrlässige Dienstpflichtverletzung nicht nachgewiesen sei.

Die Revision war erfolglos aus folgenden Gründen:

Gründe

1.

Der Annahme des Berufungsgerichts, daß auf die Handlungen der Wachmannschaften des Frankfurter Soldatenrats das Gesetz vom 22. Mai 1910 zur Anwendung komme, ist beizutreten. Die in Deutschland seit dem 7. November 1918 einsetzende Revolution hatte die Begründung einer deutschen Republik zum Ziele. In den einzelnen Gemeinden bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte, die die lokale politische und militärische Gewalt an sich rissen. Bereits am 10. November erstand in Berlin als Zentralorgan eine sechsköpfige, aus den Mitgliedern der Mehrheitssozialisten und der Unabhängigen zusammengesetzte neue Reichsregierung, der Rat der Volksbeauftragten, die am gleichen Tage von den Berliner Arbeiter- und Soldatenräten bestätigt wurde. Sie erließ am 12. November einen Aufruf, in dem sie ihre Richtlinien kundgab. Am gleichen Tage erfolgte auch der Aufruf des Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte Groß-Berlins, wonach alle bisherigen Behörden ihre Tätigkeit im Auftrag des Vollzugsrats fortsetzen sollten und jedermann ihnen Folge zu leisten habe. Am 23. November fand eine Verständigung zwischen dem Rat der Volksbeauftragten und diesem Vollzugsrate dahin statt, daß die politische Gewalt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte der deutschen sozialistischen Republik liege, daß der Berliner Vollzugsrat bis zur Wahl eines deutschen Vollzugsrats die Funktionen eines solchen ausübe und daß der Rat der Volksbeauftragten die Exekutive habe. Am 29. November wurde der Reichsausschuß des Vollzugsrats gebildet; am 16. Dezember fand ein Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte statt, der die Schaffung eines Zentralrats dieser Räte beschloß und die gesetzgebende und vollziehende Gewalt an den Rat der Volksbeauftragten übertrug. Auf Grund einer Wahlordnung vom 30. November wurde am 19. Januar 1919 die Nationalversammlung gewählt, deren erste Sitzung am 6. Februar stattfand und die dem Reiche die jetzt bestehende Verfassung gab (vgl. Jellinek im Jahrb. des öffentl. Rechts 1920 S. 4).

Hiernach ist nicht zu verkennen, daß schon am 10. November 1918 eine neue Reichsregierung gegründet wurde, die auf dem lokalen Unterbau der Arbeiter- und Soldatenräte in dem Rat der Volksbeauftragten ihre Spitze hatte. Die Gründung erfolgte auf gewaltsamem Wege, aber sie fand keinen Widerstand in der bisherigen Reichsgewalt. Kaiser, Bundesrat und Reichstag haben sich, wenn auch innerlich widerstrebend, der Macht der Tatsachen gefügt, ebenso die Behörden, die im Auftrage der neuen Regierung ihre Tätigkeit fortsetzten, und der der Umwälzung nicht zugeneigte Teil der Bevölkerung. Auch im bisherigen Reichsheer fand die neue Regierung keinen ernsthaften Widerstand; die oberste Heeresleitung erklärte in ihrem Erlasse vom 11. November 1918, daß sie im Verein mit der neuen Regierung für Ruhe und Ordnung sorgen wolle. So hat sich die neue Regierung ohne irgend erheblichen Kampf durchgesetzt und sich in dieser Machtstellung unangefochten erhalten, bis sie freiwillig ihre Befugnisse auf die Nationalversammlung übertrug.

Der durch die Umwälzung geschaffenen neuen Staatsgewalt kann die staatsrechtliche Anerkennung nicht versagt werden. Die Rechtswidrigkeit ihrer Begründung steht dem nicht entgegen, weil die Rechtmäßigkeit der Begründung kein wesentliches Merkmal der Staatsgewalt ist. Der Staat kann ohne Staatsgewalt nicht bestehen. Mit der Beseitigung der alten Gewalt tritt die sich durchsetzende neue Gewalt an deren Stelle. Der geschilderte Verlauf der Revolution zeigt aber, daß die neue Gewalt sich nach Zerstörung der früheren Gewalt in herrschender Weise begründet und in stetiger organischer Fortentwicklung aufrechterhalten hat. Auf demselben Standpunkte stehen mehrfache Entscheidungen der Strafsenate (RGSt. Bd. 53 S. 39, 52, 65, Bd. 54 S. 4, 87, 149, 152).

Die neue Gewalt ist eine Reichsgewalt, da sie sich auf die Gesamtheit von Deutschland erstrecke. Das Ziel der Umwälzung war die Errichtung einer einheitlichen deutschen Republik, nicht die Gründung einzelner Städterepubliken; sie gipfelte nicht in der neuen lokalen Gewalt der Arbeiter- und Soldatenräte der einzelnen Gemeinden.

Die neue Staatsgewalt bestand auch schon am 12. November, dem Tage, an dem der Kläger den Schaden erlitten hat, dessen Ersatz er beansprucht. Der bereits zwei Tage vorher errichtete Rat der Volksbeauftragten hat sofort die Reichsgewalt ergriffen und sich bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung im Besitze der Macht erhalten. Die in der Zukunft fortdauernde und unangefochtene Aufrechterhaltung der Machtstellung bildet den Beweis dafür, daß die Macht von Anfang an eine festbegründete war. Der von dem Beklagten gezogene Vergleich mit der Münchener Räterepublik versagt, weil diese nur lokaler und vorübergehender Natur war.

Zu den Organen der neuen Reichsregierung gehörten die Wachmannschaften, denen die Beschädigung der klägerischen Häuser zur Last gelegt wird. Sie waren Angehörige der früheren Frankfurter Garnison und von dem Frankfurter Soldatenrat als dem lokalen Unterorgan der Reichsgewalt zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit auf dem Bahnhofsplatz aufgestellt. Der Soldatenrat hatte aber seit dem 9. November in Frankfurt a. M. die vollziehende Gewalt vollständig in seinen Händen, nachdem das stellvertretende Generalkommando, der Magistrat und die bisherigen staatlichen und städtischen Behörden dessen Autorität anerkannt hatten (vgl. Ahnert, Entwicklung der deutschen Revolution S. 203). Für Dienstpflichtverletzungen, die sich diese Organe zuschulden kommen lassen, tritt daher gemäß dem in Fortgeltung gebliebenen Reichshaftungsgesetz die Verantwortlichkeit des Reiches ein.

2.

Zuzustimmen ist aber auch der weiteren Annahme des Berufungsgerichts, daß gemäß den Bestimmungen des Preuß. Gesetzes über den Waffengebrauch des Militärs vom 20. März 1837 eine Dienstpflichtverletzung der Wachmannschaften nicht nachgewiesen sei. Das genannte Gesetz ist noch in Geltung; es ist weder durch die lediglich zu seiner Erläuterung aufgestellte Dienstvorschrift vom 19. April 1914, noch seit der Revolution abgeändert oder aufgehoben worden. Nach § 7 das. hat das Militär von seinen Waffen nur insoweit Gebrauch zu machen, als es zur Erreichung der im Gesetze angegebenen Zwecke erforderlich ist. Der Gebrauch der Schußwaffe ist nur dann gestattet, wenn ein besonderer Befehl hierzu erteilt worden ist oder wenn die anderen Waffen unzureichend erscheinen. Der Zeitpunkt, wann der Waffengebrauch eintreten soll, sowie die Art und Weise seiner Anwendung muß von dem handelnden Militär jedesmal selbst erwogen werden. § 10 besagt: "daß beim Gebrauch der Waffen das Militär innerhalb der Schranken seiner Befugnisse gehandelt habe, wird vermutet, bis das Gegenteil erwiesen ist", hiernach spricht also eine gesetzliche Vermutung für die Pflichtmäßigkeit des militärischen Vorgehens; die Vermutung gilt als Beweisregel des materiellen Rechts so lange, bis sie durch den Nachweis des Gegenteils entkräftet ist. Die Darlegungen des Berufungsgerichts, daß dieser Beweis nicht gelungen sei, sind frei von Rechtsirrtum. Die Wachmannschaften waren, wie der Kläger selbst behauptet hatte, des Glaubens, daß sie einem Angriff aus den beschossenen Häusern gegenüberständen. Ein dienstpflichtwidriges Verhalten wäre also nur gegeben, wenn ihr Irrtum kein entschuldbarer gewesen wäre und auf Fahrlässigkeit beruht hätte. Der vom Kläger nach Maßgabe des Gesetzes von 1837 zu erbringende Beweis mußte sich also darauf erstrecken, daß die Wachmannschaften fahrlässig eine Beschießung aus den Häusern des Klägers angenommen hätten. Das Berufungsgericht hat aber tatsächlich dargelegt, daß dieser Beweis nicht erbracht und mit den benannten Beweismitteln nicht zu erbringen sei. Abwegig ist der Hinweis der Revision darauf, daß nach den für die sog. Putativnotwehr maßgebenden Grundsätzen (RGZ. Bd. 88 S. 118) dem Täter der Beweis obliege, daß er in entschuldbarer Weise einen Angriff angenommen habe. Diese Grundsätze können im vorliegenden Falle keine Anwendung finden, weil sie durch die im Gesetze von 1837 aufgestellte Beweisvermutung ausgeschlossen sind.