RG, 08.07.1920 - III 89/20
Zur Frage der sog. clausula rebus sic stantibus. Gibt eine außerordentliche Preissteigerung dem Vertragsteile, dem sie nachteilig ist, das Recht, sich vom Vertrage loszusagen?
Tatbestand
Der Kläger hat den drei Beklagten Räume seines Fabrikwesens nebst Betriebskraft und Beleuchtung vermietet. Diese Mietverhältnisse endigen vertragsgemäß in den Jahren 1921, 1922 und 1924. Am 22. April 1919 kündigte der Kläger ohne Einhaltung einer Frist die sämtlichen Mietverträge mit der Begründung, daß es ihm bei der außerordentlichen Steigerung der Preise für die Beschaffung von Elektrizität und Dampfkraft nicht zugemutet werden könne, die Mietverhältnisse fortzusetzen. Die auf Räumung und auf Verneinung weiterer Leistungspflicht gerichtete Klage wurde in allen Rechtszügen abgewiesen.
Gründe
"Die sog. clausula rebus sic stantibus ist als allgemeiner Grundsatz in das Bürgerliche Gesetzbuch nicht aufgenommen und auch von der Rechtsprechung des Reichsgerichts nicht anerkannt worden (vgl. RGZ. Bd. 86 S. 398 und die dort erwähnten Entscheidungen). Soweit eine Lossagung von Verträgen infolge der durch den Krieg bewirkten Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse gebilligt wurde, geschah dies regelmäßig aus der Erwägung heraus, daß mit den wirtschaftlichen Verhältnissen auch die einzelne Vertragsleistung derart verändert wurde, daß sie nicht mehr als die beim Vertragsschluß erwartete und gewollte Leistung zu erachten war, wie dies z. B. für den Fall einer zeitlichen Verschiebung durch den Krieg in RGZ. Bd. 94 S. 40 ausgeführt ist. Diese Auffassung läuft auf eine Auslegung des einzelnen Vertrags hinaus und findet, wie dort hervorgehoben ist, ihre innere Rechtfertigung darin, daß eine Leistungspflicht nicht mehr bestehen kann, wenn die Erfüllung des Vertrags unter solchen Umständen stattfinden müßte, daß sie dem, was die Beteiligten vernünftigerweise beabsichtigt haben, nicht mehr entsprechen würde, und der Erfüllungszwang mit der durch §§ 157, 242 BGB. gebotenen Rücksicht auf Treu und Glauben und auf die Verkehrssitte unvereinbar wäre. Daraus folgt aber nicht, daß jede größere Umwälzung auf wirtschaftlichem Gebiete, mag sie auch unvorhergesehen und unvorhersehbar gewesen sein, dem Vertragsteile, dem sie nachteilig ist, das Recht gibt, sich vom Vertrage loszusagen. Im Falle einer Preissteigerung, wie sie auch hier in Frage steht, ist ein solches Recht regelmäßig, und nicht nur bei Lieferungsverträgen des Großhandels, zu versagen, es müßte denn sein, daß mit einer außerordentlichen Steigerung der Preise eine außerordentliche Einwirkung auf die Verhältnisse des betreffenden Vertragsteiles verbunden ist, wie etwa, in dem vom Berufungsgericht erörterten Falle, daß die Durchführung eines langfristigen Vertrags infolge der wirtschaftlichen Veränderungen für diesen Vertragsteil "geradezu ruinös" zu werden droht. Das Berufungsgericht legt aber in wesentlich tatsächlicher Würdigung aller Umstände dar, daß ein solcher Fall nicht gegeben sei. Seine Ausführungen geben zu rechtlichen Bedenken keinen Anlaß. Insbesondere ist nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht u.a. auf die - inzwischen (vgl. VO. vom 11. März 1920) erweiterte - Verordnung über die schiedsgerichtliche Erhöhung den Preisen bei der Lieferung von elektrischer Arbeit usw. vom 1. Februar 1919 (RGBl. S. 135) hinweist. Was die Revision unter Berufung auf § 5 VO. dagegen vorbringt, beruht auf einem Mißverständnis dieser Vorschrift. § 5 regelt die Abwälzung von Mehrkosten, die Abnehmern von elektrischer Kraft usw. infolge der Anwendung der Verordnung entstehen. Für den Kläger, dessen Verpflichtungen auf vor dem Inkrafttreten der Verordnung abgeschlossenen Verträgen beruhen, kommt nicht § 5, sondern § 1 in Betracht. Es ist daher unerheblich, welchen Arten von Abnehmern ein Abwälzungsrecht im Sinne des § 5 zusteht. Was die Revision sonst noch geltend macht, würde zu dem Ergebnis führen, daß die Lösung eines Vertragsverhältnisses immer schon dann verlangt werden könnte, wenn die Fortsetzung dieses Verhältnisses unter den bisherigen Bedingungen wegen der Änderung seiner wirtschaftlichen Grundlagen eine Unbilligkeit für den einen Vertragsteil bedeuten würde. Eine so weit gehende Berücksichtigung veränderter Verhältnisse ist aber nicht anzuerkennen und, in der Rechtsprechung wenigstens, auch nicht anerkannt worden. Die Billigkeit würde auch nur verlangen, daß die Vertragsleistungen des anderen Teiles eine entsprechende Änderung erfahren. Nach dieser Richtung geht die Regelung in der schon erwähnten VO. vom 1. Februar 1919 und in ähnlichen Vorschriften. Soweit aber solche Vorschriften nicht eingreifen, muß im Interesse der Rechtssicherheit - auch bei Vertragsverhältnissen von längerer Dauer - an dem Grundsätze festgehalten werden, daß die Verträge zu wahren sind. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Natur der vorliegenden Verträge. Wenn sie sich, wie die Revision betont, nicht von vornherein als gewagte Geschäfte darstellten, so waren sie doch nicht im alleinigen Interesse des Vermieters abgeschlossen. Wie die Mieter sich nicht mit Erfolg darauf hätten berufen können, daß z, B. infolge eines außergewöhnlichen Preissturzes die vertragsmäßigen Leistungen des Vermieters dem vereinbarten Mietzinse nicht mehr gleichwertig seien, so kann umgekehrt der Vermieter nicht aus einer außergewöhnlichen Preissteigerung allein für sich das Recht ableiten, sich vom Vertrage loszusagen."