RG, 09.05.1919 - II 400/18
Kann sich der Empfänger einer befristeten Erklärung auf die Verspätung berufen, wenn der Absender alles getan hat, um das rechtzeitige Eintreffen zu bewirken, und der verspätete Eingang ausschließlich auf Umstände zurückzuführen ist, welche in der Person des Empfängers liegen?
Tatbestand
Durch notariellen Vertrag vom 25. Juni 1914 wurde der Kläger an der Union Wasserversorgungs- und Pumpenindustrie Gesellschaft m.b.H., deren bisheriger alleiniger Gesellschafter Leo C., der Sohn der Beklagten, war, mit einer Stammeinlage von 30000 M beteiligt. Leo C. verpflichtete sich aber, auf ein bis 1. April 1915 auszusprechendes Verlangen des Klägers dessen Stammeinlage Zug um Zug gegen Zahlung von 30000 M am 1. Juli 1915 zurückzuerwerben, und gewährleistete gleichzeitig dem Kläger für den nämlichen Fall, einen Mindestgewinn von 6%, also 1800 M. Außerdem verpflichtete sich die Beklagte ihrerseits für den Fall, daß Leo C. den Anteil des Klägers trotz eines von diesem bis zum 1. April 1915 geäußerten Verlangens am 1. Juli 1915 nicht erwerben oder auch dem Kläger an diesem Tage die 30000 M nicht zahlen sollte, am genannten Tage die Stammeinlage von 30000 M Zug um Zug gegen Zahlung von 30000 M vom Kläger zu erwerben.
Am 30. März 1915 sandte der Kläger einen Einschreibebrief an Leo C., worin er das im Vertrage vom 25. Juni 1914 vorgesehene Verlangen auf Wiederabnahme des Geschäftsanteils ausgesprochen hatte. Der Brief war an die bisherige Adresse des Empfängers in Charlottenburg gerichtet. Wohnung und Geschäftsräume der Gesellschaft m. b. H., deren Geschäftsführer er war, befanden sich vereint in demselben Hause. Der Brief konnte aber nicht bestellt werden, da C. vorher Wohnung und Geschäftsräume anderweit vermietet hatte und nach Bukarest gereist war. Aus diesem Grunde und weil niemand in den früheren Räumen C.s den Brief in Empfang nehmen wollte, legte der Postbote ihn auf dem Postamte nieder. Als dann C. am 5. April zurückkehrte und in einem Gasthof abstieg, erfuhr er von dem Pförtner seiner früheren Wohnung, daß ein Einschreibebrief für ihn abgegeben sei. Er holte sich diesen dann am 6. oder 7. April ab.
Der Kläger hat trotz dieses Vorganges von C. und der Beklagten Rückerwerb des Geschäftsanteils und Zahlung der 30000 M verlangt. Beide haben sich geweigert, diesem Verlangen zu entsprechen. Der Kläger hat deshalb Klage gegen die Mutter C.s erhoben und Verurteilung zur Zahlung von 30000 M, gegebenenfalls gegen Abtretung der Stammeinlage, beantragt. Er hat vortragen lassen, daß sich die Beklagte auf den verspäteten Empfang des Einschreibebriefes durch ihren Sohn nicht berufen dürfe, da dieser den rechtzeitigen Eingang arglistig verhindert habe. Im übrigen habe sie sowohl als ihr Sohn auf die Geltendmachung eines Einwandes auf Grund des verspäteten Eintreffens verzichtet und Rückerwerb der Einlage und Zahlung der 30000 M versprochen.
Die Beklagte hat bestritten, daß ihr Sohn den rechtzeitigen Eingang des Einschreibebriefes arglistig verhindert habe und daß von ihnen auf den Einwand der verspäteten Erklärung verzichtet und Zahlung versprochen worden sei. Zudem würde nach Wegfall des ursprünglichen Abkommens eine Neubegründung desselben wiederum gemäß § 15 GmbHG. notarieller oder gerichtlicher Form bedurft haben.
Während der erste Richter die Klage abwies, gab das Berufungsgericht ihr statt. Die Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg.
Gründe
"Das Berufungsgericht geht davon aus, daß der Kläger den Rückerwerb seiner Stammeinlage und die Rückzahlung der 30000 M nicht, wie es im Vertrage vom 25. Juni 1914 vorgesehen war, vor dem 1. April 1915 verlangt habe, und daß, falls etwa der Empfänger C. das rechtzeitige Eintreffen des das Verlangen aussprechenden Einschreibebriefes arglistig verhindert haben sollte, ein solches Verhalten nicht der Beklagten entgegengehalten werden könne. Es ist aber der Auffassung, daß die Beklagte sowohl als auch ihr Sohn nachträglich auf die Geltendmachung eines Einwandes wegen der verspäteten Erklärung verzichtet und die Wiederabnahme der Stammeinlage und Zahlung der 30000 M zugesagt hätten. Die Revisionsangriffe wenden sich nur gegen diese Feststellung, wohingegen der Revisionsbeklagte im Gegensatze zum Berufungsgerichte den Standpunkt vertritt, daß die nach seiner Behauptung von Leo C. verübte arglistige Verhinderung des rechtzeitigen Eintreffens des Einschreibebriefes auch der Beklagten zur Last falle.
Es bedarf keiner Erörterung der Revisionsangriffe. Das angefochtene Urteil ist schon deshalb aufrechtzuerhalten, weil die Beklagte das verspätete Eintreffen des Einschreibebriefes, in welchem der Kläger das Verlangen auf Rücknahme und Auszahlung der Stammeinlage ausgesprochen hatte, nicht zu ihren Gunsten geltend machen kann. Der Kläger hat unstreitig die im Vertrage vom 25. Juni 1914 vorgesehene Willenserklärung am 30. März 1915 durch eingeschriebenen Brief an die letzte Adresse des Leo C. befördert. Wohnung und Geschäftsräume befanden sich im selben Hause. Der Kläger konnte sonach damit rechnen, daß ein für den Empfänger bestimmter Brief unter allen Umständen hier bestellt werden würde. Darauf, daß dieser zu jener Zeit auf Reisen war, kann es nicht ankommen. Ein Kaufmann, der noch dazu Geschäftsführer einer Gesellschaft m. b. H. ist. trifft in solchen Fällen dafür Sorge, daß an seine Geschäftsadresse gerichtete Briefe ihn oder einen Vertreter erreichen (vgl. Brodmann in Ehrenbergs Handbuch Bd. 4, Abt. II, S. 20). Jedenfalls liegt dem Geschäftsmanne die Pflicht, sich in genannter Hinsicht vorzusehen, dann ob, wenn er Verträge abgeschlossen hat, welche ihn in die Lage bringen, bis zu einem festgesetzten Termin entscheidende Erklärungen des anderen Teiles zu erwarten. Hat derjenige, welchem der Vertrag eine befristete Rechtsausübung einräumt, alles getan, was in seinen Kräften stand, um unter Anpassung an die gegebenen Einrichtungen seine Erklärung dem anderen Vertragsteile rechtzeitig zugehen zu lassen, und ist der Mißerfolg, d. h. das verspätete Eintreffen dieser Erklärung, lediglich auf Umstände zurückzuführen, welche in der Person des Empfängers lagen, so muß die Erklärung als rechtzeitig zugegangen erachtet werden (vgl. auch RGZ. Bd. 58 S. 406).
So aber liegt die Sache nach den oben wiedergegebenen Feststellungen des Berufungsgerichts hier. Der Kläger hatte seine Erklärung rechtzeitig durch eingeschriebenen Brief an die letzte Adresse des Leo C. abgesandt. Die Postbestellung hat dort nicht bewirkt werden können, weil der Empfänger vorher Wohn- und Geschäftsräume aufgegeben hatte, ohne den Absender zu benachrichtigen oder Sorge dafür zu tragen, daß Postsendungen ihn oder einen Vertreter in gewöhnlichem Verlauf erreichten. Erst einige Tage nach Ablauf der Erklärungsfrist hat er Schritte getan, um sich in den Besitz des die Erklärung enthaltenden Briefes zu setzen. Unter diesen Umständen muß dieser als ihm rechtzeitig zugegangen erachtet werden."