RG, 10.04.1919 - VI 31/19
Inwiefern kann für die Feststellung des ursächlichen Zusammenhanges einer Handlung oder Unterlassung mit einem Schaden die hohe Wahrscheinlichkeit die Gewißheit ersetzen?
Aus den Gründen
... "Allerdings kann die Feststellung einer Wahrscheinlichkeit, auch einer hohen Wahrscheinlichkeit, für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einer Handlung oder Unterlassung und einem eingetretenen schädlichen Erfolge nicht die richterliche Feststellung dieses Ursachenzusammenhanges selbst darstellen oder ersetzen: sie kann nur die Grundlage für diese, d. i. für die Gewinnung der richterlichen Überzeugung, daß ein bestimmter Erfolg auf ein bestimmtes Handeln oder Unterlassen zurückzuführen sei, abgeben. Diese Überzeugung selbst muß in dem Urteile des Richters zum Ausdrucke gelangen. Soll eine Person für einen durch ihre Handlung einer anderen zugefügten Schaden verantwortlich gemacht werden, so ist die Feststellung unerläßlich, daß der Schaden auch wirklich durch diese Handlung verursacht worden sei; die bloße Wahrscheinlichkeit einer Schadenszufügung ist kein zum Schadensersatz verpflichtender Tatbestand. Ein sicheres Erkennen ist aber in vielen menschlichen Verhältnissen nicht zu erzielen, weil die menschlichen Erkenntnismittel versagen. Ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit muß dann bei Abwesenheit anderer gleich starker Möglichkeiten dem Richter genügen, seine Überzeugung zu bilden, daß die Handlung des Beklagten, da sie den schädlichen Erfolg herbeizuführen geeignet gewesen sei, den Schaden auch wirklich verursacht habe. Der Kläger hat seiner Beweispflicht genügt, wenn er eine solche Wahrscheinlichkeit dargetan hat, die die Entstehung des Schadens zu erklären geeignet ist; Sache des Gegners ist es dann, eine andere Ursache als tatsächlich wirksam geworden nachzuweisen (vgl. Warneyer 1908 Nr. 303, 1910 Nr. 1911 Nr. 219, 1915 Nr. 50; Jur. Wochenschr. 1908 S. 196 Nr. 10). Niemals kann aber materiellrechtlich eine bloß wahrscheinliche Schadenszufügung eine Schadensersatzverpflichtung begründen; die Wahrscheinlichkeit kann nur das prozeßrechtliche Hilfsmittel sein, die tatsächliche Schadenszufügung als erwiesen anzunehmen und festzustellen. In diesem Sinne sind aber auch die Ausführungen des Berufungsgerichts zu verstehen, das ausdrücklich sagt, ein zwingender Beweis für die Ursächlichkeit der zu geringen Entfernung der Lokomobile vom Scheunendach für die Entstehung des Brandes könne bei der Beschränktheit der menschlichen Erkenntnis nicht verlangt werden, ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit genüge "für die Feststellung dieser Verursachung". Damit ist die Feststellung selbst getroffen und die Überzeugung des Gerichts ausgesprochen, daß dieser Umstand, der zur Erklärung der Entstehung des Feuers nach dem natürlichen Laufe der Dinge geeignet sei, auch wirklich ursächlich geworden sei." ...