RG, 07.04.1919 - VI 221/14
1. Was ist unter den "persönlichen Eigenschaften" des anderen Ehegatten in § 1333 BGB. zu verstehen?
2. Ist aus Vorgängen während der Ehe, die darauf hindeuten, daß ein Ehegatte trotz der ihm bekannt gewordenen sittlichen Verfehlungen des anderen Ehegatten die Ehe fortsetzen wolle, schlüssig zu entnehmen, daß der Ehegatte, wenn er von solchen Verfehlungen vor der Ehe Kenntnis erlangt hätte, die Ehe eingegangen sein wurde?
Tatbestand
Die Parteien sind seit 4. Dezember 1911 miteinander verheiratet; seit 11. Juli 1912 leben sie voneinander getrennt. Die Klägerin hat Klage erhoben auf Nichtigkeitserklärung ihrer Ehe mit dem Beklagten. Die Eheanfechtungsklage stützt sie auf die Behauptungen, daß der Beklagte widernatürliche Unzucht mit Männern treibe und auch vor der Eheschließung getrieben habe; Kenntnis davon habe sie erst am 9. Juli 1912 erlangt.
Das Landgericht wies die Anfechtungsklage ab.
Auf die Berufung der Klägerin änderte das Oberlandesgericht das Urteil der ersten Instanz ab und erklärte die Ehe der Parteien für nichtig.
Die Revision des Beklagten wurde zurückgewiesen aus folgenden Gründen:
Gründe
"Das Landgericht hat für erwiesen erachtet, daß der Beklagte seit dem Jahre 1904 mit dem Zeugen L. unsittliche homosexuelle Beziehungen unterhalten habe, daß er daher zur Zeit der Eheschließung mit einem sittlichen Makel behaftet war, der an und für sich geeignet gewesen wäre, die Klägerin bei Kenntnis der Sachlage von der Eheschließung mit ihm abzuhalten. Es erachtet aber nicht für dargetan, daß die Klägerin sich durch diesen Mangel von der Eheschließung hätte abhalten lassen, wenn er ihr bekannt gewesen wäre, und schließt dies aus Äußerungen der Klägerin, die diese nach Erlangung jener Kenntnis getan habe, und die ihre Bereitschaft zur Fortsetzung der Ehe trotz jenes Makels ausdrückten. ...
Das Berufungsgericht gelangt zu denselben Feststellungen über die vor der Ehe von dem Beklagten gepflogenen widernatürlichen geschlechtlichen Beziehungen zu männlichen Personen. Es nimmt tatsächlich an, daß es sich dabei nicht um Verfehlungen handle, die sich der Beklagte nur gelegentlich habe zuschulden kommen lassen; alle Verfehlungen bildeten vielmehr zusammen eine einzige Kette. Mit dem Landgerichte nimmt das Berufungsgericht ferner an, daß die festgestellten Verfehlungen des Beklagten an sich geeignet waren, die Klägerin bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Schließung der Ehe mit dem Beklagten abzuhalten. Im Gegensatze zum Landgerichte kommt es aber auch zu der Überzeugung, daß die Klägerin, wenn sie die Verfehlungen gekannt hätte, den Beklagten nicht geheiratet haben würde. Umstände, die dagegen sprechen, oder eine Bestätigung der Ehe lägen nicht vor. Die vom Landgerichte zugunsten der Erhaltung der Ehe verwertete Äußerung der Klägerin gegenüber der Zeugin N. und anderen Personen betreffe nur während der Ehe verübte Verfehlungen des Beklagten, von dessen vorehelichen Vergehungen sie noch keine Kenntnis gehabt habe. Es sei aber ein anderes, ob eine Frau davon absehe, einen sittlichen Makel ihres Ehemannes zur Anfechtung oder Scheidung der Ehe zu benutzen, oder ob sie ihn auch dann geheiratet haben würde, wenn sie den Makel, der die Ehe anfechtbar mache, bereits vor der Eheschließung erfahren hätte.
Die Revision des Beklagten gegen dieses Urteil war nicht für begründet zu erachten.
Die Bestimmung des § 1333 BGB. erfordert für die Anfechtung der Ehe den Irrtum eines Ehegatten über die Person oder über persönliche Eigenschaften des anderen Ehegatten. Nur die letzteren kommen im gegebenen Falle in Frage. Unter einer persönlichen Eigenschaft ist eine Beschaffenheit zu verstehen, die der Person, von der sie ausgesagt wird, derart wesentlich zukommt, daß sie als Ausfluß und Betätigung ihres ganzen Wesens erscheint (RGZ. Bd. 52 S. 306). Eine geistige oder sittliche Beschaffenheit einer Person ist aber nicht unmittelbar wahrnehmbar; sie wird erschlossen aus den Handlungen. Wird eine Mehrheit gleichartiger Handlungen festgestellt, so wird der Schluß auf eine Eigenschaft des Menschen, sich nach der Richtung dieser Handlungen zu betätigen, gerechtfertigt erscheinen. Eine Einzelhandlung schlimmster Art kann immer noch eine Gelegenheitshandlung sein, etwa auf Verführung von außen beruhen und den Eigenschaften der Person fremd bleiben. Bei einer Reihe von Handlungen ist dagegen von vornherein ein Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen, von dem sie ausgingen, anzunehmen. Wenn das Berufungsgericht im gegebenen Falle ausspricht, es handle sich bei den widernatürlich unzüchtigen und bei den sonstigen unzüchtigen Handlungen des Beklagten, die festgestellt wurden, nicht um Verfehlungen, die sich der Beklagte nur gelegentlich habe zuschulden kommen lassen, vielmehr bildeten alle diese Verfehlungen eine einzige Kette, so ist damit zum Ausdrucke gebracht, daß das Berufungsgericht eine Eigenschaft des Beklagten, ein Handeln aus einer Wesensrichtung heraus annimmt. Daß dabei ausdrücklich das Wort "Eigenschaft" gebraucht wird, ist nicht erforderlich, wenn nur das Wesen des Begriffs getroffen ist (vgl. Jur. Wochenschr. 1907 S. 257 Nr. 17, 1911 S. 543 Nr. 20; Warneyer 1917 Nr. 43).
Die weitere Voraussetzung für die Anfechtung der Ehe nach § 1333 BGB. ist, daß der anfechtende Ehegatte, wenn er bei der Eheschließung Kenntnis von der persönlichen Eigenschaft des andern gehabt hätte, bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung der letzteren sich würde haben abhalten lassen. Das Berufungsgericht tritt hier mit Recht dem Landgericht entgegen, das aus Äußerungen der Klägerin gegenüber dritten Personen während der Ehe, die sich lediglich darauf beziehen, ob die Klägerin die einmal geschlossene Ehe fortzusetzen willens sei oder nicht, einen schlüssigen Beweis dafür entnehmen wollte, daß sie, weil sie zur Fortsetzung der Ehe mit dem Beklagten bereit gewesen sei, auch gegen deren Eingehung keine Bedenken gehabt haben würde, selbst wenn sie von allen Sittlichkeitsverfehlungen des Beklagten Kenntnis gehabt haben würde. Zutreffend führt das Berufungsgericht aus, daß es etwas anderes sei, ob eine Ehefrau aus natürlicher Scheu davon absehe, einen sittlichen Makel des Ehemannes zum Anlaß einer Anfechtung oder eines Scheidungsbegehrens zu nehmen, nachdem die Ehe einmal geschlossen sei, oder ob sie bei Kenntnis dieses sittlichen Makels vor Eingehung der Ehe diese geschlossen haben würde. Es darf und muß von vornherein davon ausgegangen werden, daß eine richtig empfindende Frau mit einem unnatürlichen Geschlechtsneigungen ergebenen Manne eine Ehe nicht eingehen wird. Es ist deshalb auch als eine genügende Begründung der Überzeugung des Berufungsgerichts, daß die Klägerin bei Kenntnis der Sachlage die Ehe mit dem Beklagten nicht eingegangen sein würde, anzusehen, wenn das Berufungsgericht, nachdem es festgestellt, daß die Verfehlungen des Beklagten an sich geeignet gewesen seien, eine Frau bei solcher Kenntnis von der Eingehung der Ehe abzuhalten, ausspricht, daß Umstände, die dagegen sprächen, weder aus der Zeit vor der Eheschließung noch aus der Zeit nach ihr vorliegen. Das natürliche Empfinden mußte, wie anzunehmen ist, die Klägerin von der Eingehung der Ehe unter solchen Umständen abschrecken. Wenn deshalb keine besonderen Umstände gegeben sind, die dennoch den tatsächlichen Schluß ergeben, die Klägerin würde auch bei rechtzeitiger Kenntnis von den sittlichen Verirrungen und Eigenschaften des Beklagten die Ehe mit ihm geschlossen haben, so war das Berufungsgericht berechtigt, daraufhin die Feststellung zu treffen, daß die Klägerin, wenn sie die Verfehlungen gekannt hätte, den Beklagten nicht geheiratet haben würde."