RG, 15.02.1919 - I 207/18

Daten
Fall: 
Begriff der Fahrlässigkeit
Fundstellen: 
RGZ 95, 16
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
15.02.1919
Aktenzeichen: 
I 207/18
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG I München
  • OLG München

Zum Begriffe der Fahrlässigkeit. Ist auf die Anschauungen Rücksicht zu nehmen, die in dem Personenkreise herrschen, dem der Täter angehört?

Tatbestand

Der Kläger hatte sich gegenüber Gr. zur Gewährung eines Darlehens gegen hypothekarische Sicherstellung verpflichtet. Zur Verrechnung auf den Betrag des Darlehens sollten zehn Paketfahrtaktien und drei Hansaaktien gegeben werden. Der Kläger händigte dem Gr. die Mäntel der dreizehn Aktien aus, damit er sie zu dem mit Besorgung der Hypothekenangelegenheit beauftragten Notar bringen sollte, während die Dividendenbogen und Talons vom Kläger zurückbehalten wurden. Gr. übergab aber die Mäntel entgegen dem ihm erteilten Auftrage dem Beklagten als Teil der Anzahlung aus einem Grundstückskaufe, zu der er sich in Höhe von 30000 M verpflichtet hatte. Der Kauf des Grundstücks wurde später rückgängig gemacht, auch die Darlehnshypothek für den Kläger ist nicht bestellt worden. Der Kläger verlangte mit der Klage vom Beklagten Herausgabe der Mäntel der dreizehn Aktien unter der Behauptung, daß der Beklagte nicht gutgläubig das Eigentum erworben, jedenfalls aber grob fahrlässig gehandelt habe. Der Beklagte verweigerte die Herausgabe auf Grund von Ansprüchen, die er aus dem streitigen Geschäfte gegen Gr. zu haben behauptete.

Beide Vorinstanzen wiesen die Klage ab. Die Revision des Klägers hatte keinen Erfolg.

Gründe

"Die Revision rügt, daß das Berufungsgericht bei Annahme der Gutgläubigkeit des Beklagten den Begriff der Fahrlässigkeit verkannt habe. Im Berufungsurteil ist ausgeführt, der Kläger müsse beweisen, daß dem Beklagten nur infolge grober Fahrlässigkeit entgangen sei, daß Gr. nicht Eigentümer der Aktien gewesen sei. Grobe Fahrlässigkeit liege in einer besonders schweren, für jedermann auf den ersten Blick einleuchtenden Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt; der grobfahrlässig Handelnde müsse sich über Verdachtsgründe leichtfertig hinweggesetzt haben. Dabei komme im Sinne eines objektiven Maßstabes insbesondere auch die Personengruppe in Betracht, der der Erwerber angehöre. Der Beklagte sei ein einfacher Bierbrauer auf dem platten Lande, der keine Geschäftserfahrung im Verkehr mit Wertpapieren habe. Besondere Umstände seien nicht gegeben, die auch diesen an sich einfachen Mann zur Anwendung gesteigerter Sorgfalt hätten anhalten müssen.

Die Revision rügt, daß mit Unrecht an den Begriff der groben Fahrlässigkeit ein relativer Maßstab - an Stelle eines objektiven - angelegt sei. Ein Mindestmaß an Vorsicht sei von jeder geschäftsfähigen Person im Interesse des Verkehrs zu verlangen. Dabei komme es nicht darauf an, ob der Erwerber ein Kaufmann sei oder nicht. Die Rücksicht auf die Sicherheit des Verkehrs und nicht die individuellen Fähigkeiten der einzelnen Persönlichkeit seien zugrunde zu legen. Danach liege in dem Erwerbe der Mäntel ohne die dazu gehörenden Zinsscheine ein grobfahrlässiges Verhalten.

Diese Rüge erscheint nicht begründet.

Über die Begriffsbestimmung der Fahrlässigkeit herrscht in einem wesentlichen Punkte Streit. Nach § 276 BGB. handelt fahrlässig, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht läßt. Es ist anerkannt, daß der Grad der danach anzuwendenden Sorgfalt nach objektivem Maßstabe zu bestimmen ist (Planck-Siber, § 276 Erl. 2 b β a a,) nämlich nach demjenigen, was der normale und gesunde Verkehr erfordert. Dabei kommt freilich insofern ein relatives Moment zur Geltung, als der normale Verkehr je nach den begleitenden Umständen größere oder geringere Anforderungen stellen muß, um Verkehrssicherheit zu gewährleisten und die Verletzung der Interessen Dritter nach Möglichkeit auszuschließen. Das wird auch von denjenigen anerkannt, die im übrigen die Anlegung eines objektiven Maßstabes für durchaus geboten erachten (vgl. Staudinger, Vorbem. zu §§ 275 flg. 2 a). Maßgebend sind nämlich die Erfordernisse desjenigen Verkehrs, der bei dem Typus des einzelnen konkreten Rechtsverhältnisses in Betracht kommt. Streit herrscht aber darüber, ob es auf die individuellen Verhältnisse des Täters für die Entscheidung der Frage ankommt, ob ihm die Außerachtlassung der objektiv erforderlichen Sorgfalt zum Verschulden anzurechnen ist. Die herrschende Meinung will auf die individuellen Verhältnisse keine Rücksicht nehmen; sie erachtet vielmehr, daß der Täter dafür einstehen müsse, wenn er nach seiner Persönlichkeit dazu neige, ein geringeres Maß von Sorgfalt anzuwenden. Beachtenswerte Schriftsteller stehen freilich auf dem entgegengesetzten Standpunkte (vgl. Planck-Siber a. a. O. β b b, S. 221). Aber auch die herrschende Meinung gibt zu, daß auf typische Verhältnisse der Beteiligten, auf die Anschauungen der Gruppen oder Kreise von Menschen, zu denen jene gehören, Rücksicht genommen werden muß (vgl. Staudinger. § 276 I 2 b; RGZ. Bd. 68 S. 423; Jur. Wochenschr. 1912 S. 856 Nr. 9). Ohne daß auf die Streitfrage weiter einzugehen ist, ergibt sich demnach für die Entscheidung des vorliegenden Streitfalles das Folgende. Es muß diejenige Sorgfalt ermittelt werden, die im Verkehr mit Wertpapieren erforderlich ist, um Sicherheit zu gewährleisten und die Verletzung der berechtigten Interessen Dritter nach Möglichkeit zu vermeiden. Dabei ist in objektiver Richtung zu berücksichtigen, daß es sich nicht um den handelsmäßigen Verkehr zwischen Kaufleuten oder Bankiers handelt, der an die Aufmerksamkeit der Beteiligten höhere Anforderungen stellt, sondern um den Verkehr zwischen Privatpersonen, die in einem Einzelfalle zur Deckung, oder Sicherstellung einer Kaufpreisforderung Wertpapiere übereignen. Weiter ist zu berücksichtigen, daß der Beklagte dem Kreise kleinerer oder mittlerer Besitzer und Gewerbetreibender auf dem platten Lande angehört. Nach diesen Grundsätzen ist das Maß von Aufmerksamkeit festzustellen, das der Beklagte aufwenden mußte. Hat er dieses Maß in besonders schwerer Weise verletzt, dann liegt grobe Fahrlässigkeit vor.

Nun muß anerkannt werden, daß das Berufungsgericht sich von den vorstehend entwickelten Grundsätzen hat leiten lassen. Es hat nicht auf die individuellen Fähigkeiten und Gewohnheiten des Beklagten Bezug genommen, sondern nur auf die Anschauungen, die in dem Kreise von Gewerbetreibenden herrschend sind, denen der Beklagte angehört. Wenn danach das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangt ist, daß dem Beklagten eine besonders schwere Verletzung der gebotenen Sorgfalt nicht zur Last gelegt werden kann, so ist das vom Rechtsstandpunkt aus, der hier allein in Betracht kommt, nicht zu beanstanden. Allerdings ist der Revision zuzugeben, daß der Beklagte, solange er seine Bierbrauerei betrieb, formell Kaufmann war. Aber diese formelle Eigenschaft kann, da es sich bei ihm um einen Gewerbetreibenden auf dem Lande handelte, der nicht im eigentlich kaufmännischen Handelsverkehr stand, nicht erheblich ins Gewicht fallen.

Wenn die Revision betont hat, das Berufungsgericht stelle Gutgläubigkeit des Beklagten fest, das sei aber unzureichend, da es sich darum handle, ob die Gutgläubigkeit nicht auf grober Fahrlässigkeit beruhe, so ist dem entgegenzuhalten, daß das Berufungsgericht den Ausdruck Gutgläubigkeit offensichtlich in dem Sinne angewendet hat, in dem er in § 932 Abs. 2 BGB. verstanden ist; nach dieser Bestimmung ist guter Glaube nicht anzunehmen, wenn ihm eine grobe Fahrlässigkeit zugrunde liegt." ...