RG, 13.11.1917 - II 246/17

Daten
Fall: 
Verweigerung der Lieferung der vollen verkauften Mengen
Fundstellen: 
RGZ 91, 332
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
13.11.1917
Aktenzeichen: 
II 246/17
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Hamburg, Kammer für Handelssachen
  • OLG Hamburg

Zu der Frage, ob der Verkäufer eines notwendigen Gegenstandes des allgemeinen Bedarfs die Lieferung der vollen verkauften Mengen verweigern darf, weil das Interesse der Allgemeinheit die gleichmäßige Verteilung seiner Vorräte unter seine Kundschaft gebiete.

Tatbestand

Die Beklagte betreibt den Verkauf von Petroleum an Kleinhändler. Während sie früher ohne Kriegsklausel abzuschließen pflegte, hat sie seit dem Sommer 1912 eine solche Klausel in ihre Verträge aufgenommen. Demzufolge waren bei Ausbruch des Krieges nur 1654 ältere Verträge ohne Kriegsklausel gegen 27400 neue mit Kriegsklausel in Geltung. Mit der Klägerin bestand ein Vertrag vom 12. April 1912, der keine Kriegsklausel enthielt. Danach sollte die Klägerin den ganzen Bedarf ihrer Filialen an Petroleum bis zum 31. Dezember 1915 ausschließlich von der Beklagten beziehen, und zwar zu deren jeweiligem Literpreise, auf den eine Vergütung von 1 3/4, später 1 1/3 Pf gewährt wurde. Vom 1. Oktober 1914 ab lieferte die Beklagte weniger, als die Klägerin verlangte, und weniger als in der gleichen Zeit des Vorjahres. Die Klägerin berechnete den Ausfall für die Monate Oktober bis Dezember 1914 auf 98.304 Liter. Da der Verdienst 5,375 Pf für das Liter betrug, verlangte sie mit der Klage einen Schadensersatz von 5283,62 M.

Die Beklagte wandte ein, durch den Krieg sei die Zufuhr alles Petroleums teils abgeschnitten, teils wesentlich erschwert. Deswegen sei sie nicht in der Lag" gewesen, alle ihre Verträge zu erfüllen. Um Beschlagnahmen zu vermeiden, habe sie einen bedeutenden Teil des Vorrats an das Reichsmarineamt und andere Behörden abgeben müssen. Den Rest habe sie nach Verhältnis gleichmäßig unter ihre Kunden verteilt, ohne zwischen Kunden mit und ohne Kriegsklausel zu unterscheiden. Hiernach habe die Klägerin nur teilweise, soweit geschehen, befriedigt werden können. Richtig sei, daß die Beklagte ihre Verträge ohne Kriegsklausel voll hätte erfüllen können, wenn sie die Verträge mit Kriegsklausel aufgehoben hätte. Dazu sei sie aber nicht verpflichtet gewesen. Es würden dadurch weite Kreise der Bevölkerung, deren Versorgung dann unterbrochen wäre, in eine Notlage gebracht worden sein; auch hätte die Beklagte damit ihre ganze Verkaufsorganisation zerstört.

Beide Vorinstanzen gaben der Klage statt. Die Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg.

Gründe

"Die Beklagte gibt zu, daß sie zur Lieferung an die Klägerin imstande gewesen wäre, wenn sie gegen die Kunden, deren Verträge die Kriegsklausel enthielten, von diesem Vorbehalte Gebrauch gemacht hätte. Sie verteidigt sich damit, daß ihr ein solches Verfahren wegen der sowohl für die Allgemeinheit wie für sie selbst zu befürchtenden Folgen nach § 242 BGB. nicht zuzumuten gewesen sei. Sie stützt sich darauf, daß, wenn sie die Kunden ohne Kriegsklausel nach Ausbruch des Krieges voll befriedigt hätte, für die Kunden mit Kriegsklausel nur 17 %, ihres Bedarfs übrig geblieben wären, und daß hierdurch weite Kreise der deutschen Bevölkerung in eine unerträgliche Lage gebracht wären. Sie macht ferner geltend, sie würde durch ein solches Verfahren ihre ganze Verkaufsorganisation vernichtet haben.

Diese Gründe sind, auch wenn man die Richtigkeit der behaupteten Tatsachen unterstellt, nicht durchschlagend. Vor allem sind nicht nur die Interessen der Beklagten und der Allgemeinheit, sondern ebensowohl die der Klägerin zu würdigen.

Die Klägerin war nicht verpflichtet, von ihren vertraglichen Ansprüchen abzustehen, weil deren Erfüllung für die Beklagte aus Gründen, die sich ausschließlich aus der besonderen Gestalt der mit andern Kunden geschlossenen Verträge ergaben, besonders lästig wurde. Auch wenn man die Sache von der Seite der Beklagten ansieht, erscheint es nicht unbillig, daß sie die Folgen der Ungleichheit der von ihr geschlossenen Verträge selbst tragen muß und sie nicht auf andere, insbesondere die Klägerin, abwälzen kann.

Was das allgemeine Interesse angeht, so kann der Klägerin kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß sie durch Ausnutzung ihrer Vertragsrechte für sich und ihre Kundschaft zu sorgen gesucht hat. Eine verwerfliche Rücksichtslosigkeit gegen das allgemeine Interesse ist darin nicht zu finden. Aber auch wenn man die Sache vom Standpunkte der Allgemeinheit betrachtet - das Interesse der Beklagten scheidet hier aus -, kann nicht anerkannt werden, daß wichtige öffentliche Interessen verletzt worden waren, falls die Beklagte die Kunden ohne Kriegsklausel voll, die übrigen nur zu 17 % befriedigt hätte. In den allgemeinen Verkehr wird das Petroleum auch auf diese Weise gebracht. Die Beklagte hatte aber weder die Aufgabe noch die Möglichkeit, eine gleichmäßige Verteilung des unentbehrlichen Brennstoffes unter die ganze in Betracht kommende Bevölkerung durchzuführen. Dies konnte nur von einer Zentralstelle aus geschehen, welche den gesamten Bedarf und die vorhandenen Deckungsmittel zu überblicken in der Lage war. Es ist fraglich, ob das allgemeine Interesse, auf das die Beklagte sich beruft, durch die gleichmäßige Verteilung ihrer verfügbaren Vorräte unter die von ihr versorgten Kleinhändler wirklich wesentlich gefördert wurde. Zudem ist gerade in stürmischen Zeiten die Erfüllung bestehender Vertrage für die Erhaltung eines geordneten Wirtschaftslebens erforderlich.

Die Beklagte hat ohne Rücksicht auf die ihr gegenüber den Klägern obliegende Verbindlichkeit an Händler geliefert, die wegen der Kriegsklausel keine Rechte mehr gegen sie hatten, und rechtfertigt ihr Verfahren damit, daß sonst die Abnehmer dieser ihrer Kunden in eine Notlage geraten wären. Wollte man dies billigen, so könnte man ihr folgerichtig auch nicht das Recht bestreiten, überall, wo eine Notlage abzuwenden ist, ihre Vorräte an ganz fremde Personen ohne Rücksicht auf ihre vertraglichen Verbindlichkeiten abzugeben. Durch allgemeine Anwendung des von bei Beklagten verteidigten Grundsatzes würde danach die Sicherheit des wirtschaftlichen Verkehrs und die Versorgung der Bevölkerung leicht mehr gefährdet sein als durch eine ungleichmäßige Verteilung der Vorräte der Beklagten innerhalb des Kreises der ihr angeschlossenen Händler.

Die Grundsätze von Treu und Glauben führen somit nicht dahin, daß der Beklagten nicht zuzumuten gewesen wäre, durch Gebrauch der Kriegsklausel gegenüber der Mehrzahl ihrer Kunden die vollständige Erfüllung des mit der Klägerin geschlossenen Vertrags zu ermöglichen. Daher ist sie mit Recht zum Schadensersatze wegen Nichterfüllung verurteilt worden."