RG, 06.11.1917 - III 279/17
Steht dem Theaterunternehmer die Kriegsklausel gegenüber den Angestellten ohne zeitliche Grenzen zu? Nach welchen Grundsätzen ist die Frist zu ihrem Gebrauche zu bestimmen?
Tatbestand
Der Kläger war von der beklagten Stadtgemeinde für die Zeit vom 1. August 1913 bis dahin 1916 als Opernsänger angestellt. Für diesen Vertrag war die in § 15 Abs. 5 der allgemeinen Bedingungen des Deutschen Bühnenvereins enthaltene Bestimmung maßgebend, daß bei Krieg die Bühnenleitung, ohne daß behördlicherseits eine Schließung des Theaters verfügt werde, das Recht habe, den Vertrag nach achttägiger Kündigung aufzulösen. Nach Kriegsausbruch wurde zunächst weitergespielt. Auf Grund der im September 1914 geführten Verhandlungen erklärten sich die Solomitglieder, darunter der Kläger, mit einer Kürzung ihrer Bezüge, die zunächst bis Ende 1914 dauern sollte, einverstanden. Im Dezember 1914 gab der Kläger die weitere Erklärung ab, daß er mit der Kürzung bis äußerstens 31. Juli 1915 einverstanden sei. Am 17. Juni 1915 kündigte die Beklagte dem Kläger unter Berufung auf § 15 Abs. 5 den Vertrag auf den 1. Juli 1915 und lehnte jede weitere Gehaltszahlung ab. Nachdem der Bürgerausschuß der Beklagten den Weiterbetrieb des Theaters für das Spieljahr 1915/16 verweigert hatte, wurde das Theater geschlossen. Der Kläger, der in Bern eine Stellung am dortigen Theater erlangt hatte, verlangte mit der Klage die Bezahlung seiner vertragsmäßigen Bezüge, abzüglich seines sonstigen Verdienstes, insgesamt 9.400 M. Das Landgericht wies die Klage ab. Das Berufungsgericht erklärte den Klaganspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt. Die Revision hatte keinen Erfolg.
Gründe
"Zwischen den Parteien besteht Streit über die Frage, ob die Beklagte berechtigt war, den für die Zeit vom 1. August 1913 bis dahin 1916 geschlossenen Anstellungsvertrag des Klägers gemäß der Kriegsklausel im Juni 1915 auf den 1. Juli 1915 zu kündigen. Das Berufungsgericht hat der Beklagten diese Kündigungsbefugnis unter der Annahme versagt, daß sie bei den zwischen ihr und den Künstlern des Theaters im September 1914 getroffenen Vereinbarungen, durch die die Bezüge der Künstler herabgesetzt wurden, auf die fernere Geltendmachung der Kriegsklausel verzichtet habe. Es mag dahingestellt bleiben, ob dieser Annahme die von der Revision erhobenen Bedenken entgegenstehen. Dem Ergebnis des Berufungsgerichts, daß die Beklagte zur Kündigungszeit sich auf die Kriegsklausel nicht mehr habe berufen dürfen, ist beizutreten.
In § 15 Abs. 5 der allgemeinen Bedingungen des Deutschen Bühnenvereins, die auch dem Anstellungsvertrage des Klägers zugrunde liegen, ist gesagt, daß bei Krieg ... die Bühnenleitung, ohne daß behördlicherseits eine Schließung des Theaters verfügt wird, das Recht habe, den Vertrag nach achttägiger Kündigung aufzulösen. Eine nähere Vorschrift darüber, innerhalb welchen Zeitraums nach Kriegsausbruch von diesem Kündigungsrechte Gebrauch zu machen sei, ist nicht gegeben. Für das Gebiet der Lieferungsverträge hat das Reichsgericht bereits ausgesprochen (RGZ. Bd. 88 S. 143), daß nach den Grundsätzen von Treu und Glauben dem Verkäufer die Berufung auf die Kriegsklausel nur binnen der Frist zuzugestehen sei, deren er bedürfe, um nach dem Eintritte des Krieges seine Lage zu überblicken und zu erwägen, ob ihm die Erfüllung des Vertrags trotz des Krieges möglich sei. Auch bei den Dienstverträgen ist den Grundsätzen von Treu und Glauben in billiger Abwägung der beiderseitigen Interessen der Parteien die Entscheidung darüber zu entnehmen, ob die Berufung auf die Kriegsklausel zeitlich unbeschränkt zulässig oder ob sie namentlich bei einem länger andauernden Kriege an eine Zeitgrenze gebunden sei. Beim Theateranstellungsvertrag ist die Kriegsklausel zunächst im Interesse des Theaterunternehmers vereinbart. Er soll, da die Befürchtung einer Lahmlegung des Theaterbetriebes durch den Kriegsausbruch besteht, die Möglichkeit haben, ihm drohende erhebliche Nachteile durch die Kündigung der vielfach auf längere Zeit geschlossenen Anstellungsverträge abzuwenden. Das Interesse des Theaterunternehmers erfordert es aber nicht, daß ihm die Kriegsklausel in unbegrenzter Zeitdauer zur Seite stehe; regelmäßig wird schon innerhalb nicht allzu langer Zeit nach Kriegsausbruch ein Überblick darüber zu gewinnen sein, ob der Theaterbetrieb aufrecht erhalten und mit Erfolg fortgesetzt werden kann. Anderseits haben die Künstler ein dringendes Interesse daran, daß sie nicht länger als notwendig darüber im unklaren gelassen werden, ob ihr Anstellungsvertrag der einer Begründung nicht bedürftigen Kündigung im Wege der Kriegsklausel ausgesetzt sei und ob sie so ihres Lebensunterhalts verlustig gehen können. Die zeitliche Begrenzung der Geltungsdauer der Kriegsklausel ist um so mehr gerechtfertigt, als dem Theaterunternehmer auch dann, wenn er sich auf die Kriegsklausel nicht mehr berufen kann, die Geltendmachung eines wichtigen Grundes im Sinne des § 626 BGB. freisteht, sofern ihm durch die Gestaltung der Verhältnisse die Fortsetzung des Theaterbetriebes und die Aushaltung der Vertrage nicht mehr zugemutet werden kann. Innerhalb welcher Zeitgrenze von der Kriegsklausel Gebrauch gemacht werden kann, läßt sich nur nach den tatsächlichen Verhältnissen des einzelnen Falles beurteilen.
Nach der gegebenen Sachlage war aber die erst im Juni 1915 erklärte Kündigung der Beklagten verspätet. Es herrschte, wie die Feststellungen des Berufungsgerichts erkennen lassen, zu Beginn des Krieges im Stadtrate der Beklagten aus ethischen und wirtschaftlichen Gründen eine starke Strömung gegen die Fortsetzung des Theaters. Die im September 1914 zwischen den Vertretern der Beklagten und den Künstlern gepflogenen Verhandlungen wurden auf der Grundlage geführt, daß die Beklagte nur dann von der Geltendmachung der Kriegsklausel absehe, wenn die Künstler sich bestimmte Abzüge an ihren Vergütungen gefallen ließen; die Künstler haben die verlangten Abzüge bewilligt. Daß die Beklagte zur Zeit dieser Verhandlungen, die dem Kriegseintritte nahe stand, zur Geltendmachung der Kriegsklausel befugt war, kann einem berechtigten Zweifel nicht unterliegen. Anderseits war aber die Sachlage schon damals eine solche, daß die Beklagte die Möglichkeit hatte, sich darüber schlüssig zu machen, ob die Fortführung des Theaters den von ihr zu wahrenden Interessen entspreche. Damals stand sie vor dem Entschlusse, ob sie sich auf die Kriegsklausel berufen oder den Theaterbetrieb fortsetzen wolle. Entschloß sie sich zu letzterem, so war für sie die künftige Geltendmachung der Kriegsklausel ausgeschlossen. Bei etwaiger künftiger Umwandlung der Verhältnisse konnte sie nur gemäß § 626 BGB. zur Kündigung schreiten. Diese Annahme entspricht auch der Auffassung, die die Parteien selbst zur Zeit jener Verhandlungen gehabt haben. Der Kläger hat ausdrücklich erklärt, daß er die Abzüge nur bis äußerstens 31. Juli 1915 bewillige; er hat also von da ab die Wiederherstellung der ursprünglichen Bedingungen verlangt. Die Beklagte hat im Prozesse zugestanden, daß sie sich noch im Januar 1915 zur Kündigung auf Grund der Kriegsklausel nicht für befugt erachtet habe und daß sie erst durch zwei im Mai 1915 veröffentlichte oberlandesgerichtliche Urteile umgestimmt worden sei." ...