RG, 02.11.1917 - III 329/17
1. Bindung des Berufungsgerichts durch das Revisionsurteil.
2. Begründet die nur vorläufige Gewährung von Einlaß und Unterkunft im Krankenhaus einer Gemeinde vertragliche Beziehungen zwischen ihr und der aufgenommenen Person? Haftung der Gemeinde für ihre Angestellten.
Tatbestand
Die Klägerin erkrankte am 6. Juni 1912 auf der Reise unter Zeichen einer geistigen Störung, wurde auf Ersuchen ihres Ehemanns vorläufig in das Krankenhaus der beklagten Stadtgemeinde aufgenommen und sprang dort, während sie nur mit einer hilfsweise zur Pflege verwendeten Kranken zusammen war, aus einem Fenster des zweiten Stockwerks, wodurch sie schwere Verletzungen erlitt. Sie verlangte auf Grund Vertrags und wegen unerlaubter Handlung Schadensersatz, nämlich Erstattung von Auslagen und Entrichtung einer Rente für Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit, ferner Feststellung der Ersatzpflicht wegen des weiteren Schadens. Das Landgericht wies die Klage ab. Nachdem ein bestätigendes Erkenntnis zweiter Instanz durch Urteil des Reichsgerichts vom 5. November 1915 aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückgelangt war, erhob dieses Beweis und entschied dann ebenso wie früher. Die neue Revision hatte nunmehr den Erfolg, daß der Leistungsanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und dem Feststellungsanspruche stattgegeben wurde.
Gründe
"Die der Aufhebung des früheren Berufungsurteils zugrundeliegende rechtliche Beurteilung ging nach dem Inhalte des Revisionsurteils abschließend dahin, daß der Unfall auf einem Verschulden der Oberschwester beruhe, das die Beklagte unter den Voraussetzungen des § 278 BGB. im gleichen Umfange zu vertreten habe wie eigenes Verschulden. Demgegenüber durfte das Berufungsgericht auf die Frage des Verschuldens und seiner Ursächlichkeit für den Unfall nicht mehr, auch nicht bei Behauptung neuer Tatsachen, eingehen. Der erkennende Senat hat in dem Urteile Bd. 90 S. 23 ausgeführt:
"Schließt auch § 565 Abs. 2 ZPO. die Berücksichtigung neuer Tatsachen nicht grundsätzlich aus, so läßt sich doch nur nach dem Inhalte des Revisionsurteils im einzelnen Falle beurteilen, inwieweit für eine wiederholte Erörterung der tatsächlichen Grundlagen noch Raum ist. Die rechtliche Beurteilung, die nach § 565 Abs. 2 für das Berufungsgericht maßgebend sein soll, umfaßt nicht bloß die Rechtsnormen und Rechtsgrundsätze, sondern auch ihre Anwendung auf den Sachverhalt. Hat also das Revisionsgericht diese Anwendung selbst vorgenommen, so ist dies auch für das Berufungsgericht bindend. Allerdings handelt es sich dabei zunächst um den Sachverhalt, der dem Revisionsgerichte vorlag. Der Gedanke, der dieser Bindung zugrunde liegt, ist aber folgender: Das Revisionsgericht sollte eigentlich den Rechtsstreit, der im Wege der Revision zu seiner Würdigung gelangt, selbst erledigen. Tut es dies nicht, was nach der auf Gründen der Zweckmäßigkeit beruhenden Ordnung des § 565 ZPO. die Regel bildet, dann erledigt das Berufungsgericht die Sache, soweit es einer Erledigung überhaupt noch bedarf, kraft der ihm vom Revisionsgericht erteilten Anweisung, und es ist deshalb auch an diese Anweisung gebunden. Hat das Revisionsgericht eine bestimmte Frage auf Grund des ihm vorliegenden Sachverhalts bereits abschließend bejaht, dann steht es dem Berufungsgerichte nicht mehr zu, ihre Beantwortung, sei es auch auf Grund neuer Tatsachen, in Zweifel zu ziehen. Die gegenteilige Auffassung würde eine unbeschränkte und unabsehbare Wiederholung der Erörterung bereits völlig und abschließend erledigter Streitpunkte ermöglichen, die nicht bloß der in § 565 Abs. 2 beabsichtigten Begrenzung der Aufgabe des Berufungsrichters widersprechen würde, sondern überhaupt mit den Anforderungen einer gesunden Prozeßführung unvereinbar wäre und insbesondere eine unerträgliche Prozeßverschleppung zur Folge haben müßte."
Diese Grundsätze treffen auch im vorliegenden Falle zu. Die Ausführungen, mit denen das Berufungsgericht jetzt das Verschulden der Oberschwester und die Ursächlichkeit dieses Verschuldens für den Unfall in Zweifel zieht, verstoßen daher gegen § 565 Abs. 2 ZPO. und sind bei der Entscheidung nicht zu berücksichtigen. Zu prüfen hatte das Berufungsgericht vielmehr, soweit es sich um die Anwendung des § 278 BGB. handelt, nur noch, ob ein Vertragsverhältnis vorlag, das eine Vertretung des Verschuldens der Oberschwester durch die Beklagte rechtfertigt. Demgemäß beschränkt sich auch die Prüfung des Revisionsgerichts.
Das Berufungsgericht nimmt an, die vorläufige Gewährung von Einlaß und Unterkunft durch die Oberschwester habe nur einen tatsächlichen Zustand herbeigeführt, nicht ein Vertragsverhältnis, das gesetzlichen Vorschriften unterliege. Das ist rechtsirrig. Die vorläufige Aufnahme durch die Oberschwester, die auch in § 3 der Krankenhausordnung als zulässig vorausgesetzt wird, war keine bloße Gefälligkeitshandlung, diente vielmehr der Vorbereitung des von der Klägerin und ihrem Manne gewünschten endgültigen "Krankenpflege- und Abwartungsvertrags" und begründete deshalb für die Dauer dieses vorläufigen Zustandes vertragliche Beziehungen mit der Verpflichtung der Beklagten, die Kranke einstweilen in Obhut und Fürsorge zu nehmen und das dafür Erforderliche zu tun. Vgl. RGZ. Bd. 65 S. 17, Bd. 78 S. 239. Wenn, wie das Berufungsgericht auf Grund der Vorschriften des badischen Landesrechts feststellt, die Klägerin als Geisteskranke nicht aufgenommen werden durfte, so mag dies unter Umständen für die der Oberschwester gegenüber der Beklagten obliegende Verantwortung von Bedeutung sein. Ihre Vollmacht gegenüber den die vorläufige Aufnahme begehrenden Personen wird dadurch nicht berührt. Eine vertragliche Haftung der Beklagten läßt sich auch nicht mit der Erwägung verneinen, daß die Oberschwester erkennbar eine Geisteskranke nicht habe aufnehmen wollen. Wie es sich mit dem Zustande der Klägerin verhielt, und ob sie sich danach zur Aufnahme eignete, mußte erst der Arzt feststellen. Bis zu seiner Entscheidung aber bedurfte es einer vorläufigen Regelung, deren Rechtsbestand nicht dadurch beeinträchtigt wurde, daß das Aufnahmeverlangen sich nachträglich als unbegründet erwies. Das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, daß die Aufnahme auf Grund einer öffentlichrechtlichen Fürsorgepflicht geschehen sei, insbesondere auch auf das badische Armengesetz nur als "allenfalls" anwendbar hingewiesen. Es bedarf deshalb nicht der Erörterung, ob eine solche Feststellung die Annahme vertraglicher Beziehungen und die Anwendung des § 278 BGB. ausschließen würde. Vgl. RGZ. Bd. 59 S. 197. Bd. 64 S. 231. Bd. 83 S. 71. Die Beklagte war also zum Ersatze des durch das Verschulden der Oberschwester verursachten Schadens vertraglich verpflichtet. Als anspruchsberechtigter Vertragsteil aber kam, da der Ehemann der Klägerin erkennbar zugleich in deren Interesse handelte und die Klägerin seine Geschäftsführung genehmigte, neben dem Manne auch die Klägerin in Betracht. Sie war daher berechtigt, den Ersatz allen Schadens zu verlangen, der ihr selbst entstanden ist. Soweit bei den von ihr erhobenen Ansprüchen etwa Schäden in Frage kommen, die in der Person des Mannes entstanden sind, ergibt sich ihr Klagrecht daraus, daß ihr der Mann seine Ansprüche unstreitig abgetreten hat. Es bedarf daher keiner Prüfung der einzelnen Klagansprüche nach dieser Richtung.
Rechtsirrig sind auch die Ausführungen des Berufungsgerichts über das Verschulden des Ehemannes und seinen Einfluß auf die Ersatzpflicht der Beklagten. Die im Anschluß an Staudinger, Bürgerl. Gesetzbuch § 254 Anm. 5, vertretene Auffassung, wonach der in Abs. 2 des § 254 erwähnte § 278 auf das ganze Gebiet des § 254 anzuwenden sei, steht im Widerspruche mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts, das die Anwendung des § 278 auf den Fall des Abs. 1 des § 254 BGV. auf dem Gebiete der unerlaubten Handlung ablehnt (RGZ. Bd. 75 S. 257), unter welchem Gesichtpunkte das Berufungsgericht die Ansprüche der Klägerin überhaupt nicht geprüft hat. Nicht minder rechtsirrig ist die Annahme, daß der Ehemann der Klägerin im Sinne des § 278 wie ein gesetzlicher Vertreter zu behandeln sei. Die bei Staudinger § 278 Anm. I 2a erörterte Streitfrage bezieht sich auf den Fell, daß der Mann kraft des ehelichen Güterrechts Verwaltungsbefugnisse in Ansehung des eingebrachten Gutes oder des Gesamtgutes hat. Das Berufungsgericht ist aber auf die güterrechtlichen Verhältnisse nicht eingegangen, und nach dem Tatbestande des ersten Urteils leben die Klägerin und ihr Mann unstreitig in Gütertrennung. Eine Berücksichtigung schuldhaften Verhaltens des Mannes wäre damit allerdings nicht ausgeschlossen. Denn wenn die Klägerin die Geschäftsführung ihres Mannes genehmigte und daraus Rechte für sich ableiten will, muß sie auch ein in seinem Verhalten liegendes Verschulden gegen sich gelten lassen. Der Mann ist insoweit, als er die Geschäfte seiner Frau führte, als deren Erfüllungsgehilfe anzusehen. Soweit ferner Schadensersatzansprüche in der Person des Mannes entstanden und durch Abtretung auf die Klägerin übergegangen sein sollten, ergibt sich die Erheblichkeit seines Verschuldens von selbst. Dem Berufungsgerichte kann jedoch darin nicht beigetreten werden, daß den Ehemann der Klägerin ein für die Entscheidung erhebliches Verschulden träfe. Hatte einmal die Beklagte durch die Oberschwester die Obhut der Klägerin, wenn auch nur vorläufig, übernommen, dann mußte sie auch für die Klägerin sorgen, und deren Ehemann durfte sich darauf verlassen, daß diese Fürsorge auch in seiner Abwesenheit sachgemäß geübt werden würde. Ein Verschulden des Mannes kann daher weder darin gefunden werden, daß er sich entfernte, noch darin, daß er länger ausblieb als nötig war. Ein sonstiges Verschulden nimmt das Berufungsgericht selbst nicht an.
Damit erweist sich aber nach dem festgestellten Sachverhältnis die Sache als zur Entscheidung insoweit reif, als es sich um die Feststellung der Ersatzpflicht und den Anspruch auf Leistung bestimmter Zahlungen dem Grunde nach handelt." ...