RG, 23.10.1917 - VII 224/17
Zur Frage, inwiefern bei einer Enteignung Entschädigung für Verlust oder Beeinträchtigung tatsächlicher Vorteile zu gewähren ist.
Tatbestand
Zugunsten des verklagten preußischen Staates sind zum Bau der linksseitigen Saareisenbahn Teile mehrerer Grundstücke der offenen Handelsgesellschaft F. Glashütte enteignet worden. Diese forderte mit der Klage Erhöhung der im Verwaltungsverfahren vom 17. Mai 1906 festgestellten Enteignungsentschädigung. Der Klaganspruch enthielt unter anderem das Verlangen einer Minderwertsentschädigung von 20.000 M dafür, daß infolge des Bahnbaues der von der Fabrik nach der Saar führende sog. schwarze Weg unterbrochen und dadurch die Verbindung der Fabrik der Klägerin mit ihrer Entladestelle, die auf einem ihr gehörigen Grundstück an der Saar lag, verlängert und erschwert worden sei. Der Beklagte erhob Widerklage auf Herabsetzung der festgestellten Entschädigung.
Das Landgericht verurteilte den Beklagten zur Zahlung von 642 M über den im Verwaltungsverfahren bestimmten Betrag hinaus und wies im übrigen Klage und Widerklage ab. Beide Parteien legten Berufung ein. Durch Teilurteil des Oberlandesgerichts wurde die Berufung des Beklagten gänzlich und die der Klägerin insoweit zurückgewiesen, als mit ihr nicht Erhöhung der Entschädigung wegen der Ladestelle an der Saar bezweckt war. Als solche Minderwertsentschädigung verlangte die Klägerin weiterhin 24.637,50 M. Im Laufe der Berufungsinstanz trat an Stelle der bisherigen Klägerin deren Rechtsnachfolgerin, die oben bezeichnete Aktiengesellschaft, in den Rechtsstreit ein. Durch ein zweites Teilurteil des Berufungsgerichts wurde der Beklagte verurteilt, an die Klägerin 5.000 M zu zahlen. Die hiergegen gerichtete Revision des Beklagten wurde zurückgewiesen.
Aus den Gründen
... "Die angefochtene Entscheidung erblickt im Bestande der Ladestelle auf dem Ufergrundstücke der Klägerin die geeignete, maßgebliche Grundlage für den Ansatz und die Bemessung der zunächst in der Teilhöhe von 5.000 M zugesprochenen Umwegsentschädigung. Die Ladestelle wird als ein den Wert des Fabrikanwesens der Klägerin beeinflussender Vorteil berücksichtigt, auf dessen Fortdauer zu rechnen war. Hiergegen versucht die Revision vornehmlich anzukämpfen, jedoch ohne Erfolg. Die Begründung des Berufungsurteiles beachtet, daß die Grundstückslage an der kanalisierten Saar, welche die Ausnutzung des Wasserwegs zur Heranschaffung und Löschung von Gütern ermöglichte, nicht ein Nutzungsrecht an dem öffentlichen Flusse, sondern nur einen tatsächlich vorteilhaften Zustand bedeutete. Wird der Genuß eines solchen mit begründeter Aussicht auf längere Dauer bestehenden Vorteils infolge einer den Grundstücksbesitzer treffenden Enteignung entzogen oder geschmälert, worunter namentlich auch Erschwerungen des Zugangswegs fallen, so ist dafür nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts grundsätzlich Entschädigung zu gewähren. Nach den Vorschriften der Regierungspolizeiverordnung vom 22. April 1876, betreffend die kanalisierte Saar, bedurfte freilich die ständige Benutzung des Ufergrundstücks zur Be- und Entfrachtung von Schiffen einer Genehmigung der Regierung, und es steht nicht fest, ob diese eingeholt und erteilt war. Der Berufungsrichter hat indes erwogen, daß die Ladestelle mit Duldung der Behörde errichtet, unterhalten und jahrzehntelang benutzt worden ist, daß kein Grund ersichtlich war, warum der Klägerin die Benutzung der für den allgemeinen Verkehr bestimmten öffentlichen Wasserstraße entzogen werden sollte, und daß sie sicher damit rechnen konnte, die behördliche Genehmigung zu erhalten oder zu behalten. Dabei ist der Berufungsrichter von den Verhältnissen um die Zeit des Entschädigungsfeststellungsbeschlusses, also vom Mai 1906 ausgegangen.
In diesen Erwägungen, die sich wesentlich auf tatsächlichem Gebiete bewegen, wird ein Rechtsirrtum nicht erkennbar. Sie genügen an sich, für die Zeit, auf die es vorliegend für die Wertermittelung ankam (vgl. RGZ. Bd. 27 S. 264), die Auffassung als berechtigt erscheinen zu lassen, daß begründete Aussicht auf längere Fortdauer des Bestandes der Ladestelle und ihrer bestimmungsgemäßen Benutzbarkeit sowie auf Erteilung einer förmlichen behördlichen Genehmigung, insofern solche wichtig wurde, gegeben war. Die Revision betont das Erfordernis der behördlichen Erlaubnis und sucht mit Hinweis auf die Verfügung des Regierungspräsidenten in Tr. vom 3. Mai 1907, worin die etwa erteilte Genehmigung zur Benutzung des Saarufers als Ladestelle zurückgezogen wurde, darzulegen, es habe sich um einen durchaus unsicheren Vorteil gehandelt, der im wesentlichen vom Ermessen der zuständigen Behörde des Staates, in dessen Interesse auch die Enteignung stattgefunden habe, abhängig gewesen sei. Das angedeutete Bedenken würde durchgreifen, wenn es in der freien Willkür des Staates gelegen hätte, ob der erörterte Vorteil erhalten oder beseitigt werden sollte. So lagen die Rechtsfälle, wo das Reichsgericht Entschädigungsansprüche wegen Entziehung von Vergünstigungen abgelehnt hat, die von dem Staat als Eigentümer benachbarter Grundstücke widerruflich eingeräumt waren (RGZ. Bd. 74 S. 295 und Urteil vom 21. Juni 1912 Rep. VII. 112/12. vgl. dazu RGZ. Bd. 84 S. 254 und Urteil vom 7. Januar 1913 Rep. VII. 338/12). Der vorliegende Fall erfordert jedoch eine andere Beurteilung. Hier war der Fortgenuß des Vorteils, welchen die Ladestelle am öffentlichen Flusse bot, nicht einfach in ein auf der vollen Macht privatrechtlichen Eigentums beruhendes, freies Belieben des Staates gestellt. Wie das Berufungsurteil mit Recht erwägt, verdankte die Klägerin den tatsächlichen Vorteil in erster Linie dem Umstände, daß sie dicht am Kanal Grundbesitz hat, in zweiter Linie der Tatsache, daß sie als Staatsbürgerin wie jeder andere die öffentliche Wasserstraße benutzen darf, sofern sie kein Verhalten zeigt, das die Strompolizei aus Gründen des öffentlichen Wohles zu der Versagung oder Entziehung der Erlaubnis zur Benutzung berechtigt.
Nach den hier noch anwendbaren Art. 538, 714 Code civil war das Herrschaftsrecht des Staates über den öffentlichen Fluß ( domaine public) nicht als Privateigentum, sondern als ein Hoheitsrecht aufzufassen, kraft dessen der Staat dazu berufen und befugt war, die Benutzung des zum Gemeingebrauche bestimmten und dem Privatrechtsverkehr entzogenen öffentlichen Wasserlaufs im öffentlichen Interesse polizeilich zu beaufsichtigen und zu regeln. Diese maßgebliche Rechtsbeziehung, worauf auch die Verfügung vom 3. Mai 1907 mit den Ausdrücken "strom- und schiffahrtspolizeilich" hindeutet, bot aber vorliegend keinen geeigneten Rahmen für eine auf Beseitigung der Ladestelle zielende Stellungnahme der zuständigen Behörde. Weder am öffentlichen Flusse noch am Ufergrundstücke der Klägerin war irgendeine Änderung vorgenommen oder sonstwie eingetreten, die den Fortbestand der Ladestelle mit Rücksicht auf das polizeilich zu wahrende Gemeinwohl in Frage stellte. Namentlich konnte insofern nicht ins Gewicht fallen, ob die Ladestelle von der Fabrik der Klägerin aus auf einem Wege in gerader Richtung oder auf einem um 350 bis 400 m längeren Umweg erreichbar war. Den Anlaß zu der Verfügung vom 3. Mai 1907 hat tatsächlich das ganz außerhalb des Wirkungskreises einer Stromaufsichtsbehörde liegende Bestreben gebildet, eine dem Staat in seiner Eigenschaft als Träger von Vermögensrechten und Vermögensverbindlichkeiten erwachsene und obliegende Entschädigungsverpflichtung in fiskalischem Interesse günstig zu gestalten. Daß die Dinge diese Entwicklung nehmen würden, war zu der Zeit, auf die es ankam, nämlich im Mai 1906, nicht vorauszusehen, und darum muß die erwähnte Verfügung für die Sachbeurteilung ganz ausscheiden.
Im übrigen hat das angefochtene Urteil dem Erfordernis der behördlichen Genehmigung ausreichende Würdigung zuteil werden lassen. Daß, wie die Revision noch bemerkte, der Vorteil durch die Bahnanlage als solche hinfällig geworden sei, ist nicht zuzugeben. Die Bahnanlage hatte den Umweg zur Folge, und dessen etwaiger Nachteil für den Restbesitz der Klägerin ist zweifellos zu vergüten. Es fragte sich nur, ob aus dem Bestande der Ladestelle ein Maßstab für die Bemessung der Minderwertsentschädigung entnommen werden durfte. Die Frage wird im Anrufungsurteile rechtlich einwandfrei bejaht. "Äußerstenfalls" vertritt das Urteil eine entsprechende Anwendbarkeit des privatrechtlichen Schikaneverbots (§ 226 BGB.). Ob auch diesem, lediglich eventuellen Entscheidungsgrunde beizustimmen wäre, kann auf sich beruhen." ...