RG, 09.10.1917 - VII 202/17
Kann das Prozeßgericht nach der Bekanntmachung des Bundesrats vom 18. August 1914 über die Folgen der nicht rechtzeitigen Zahlung einer Geldforderung (RGBl. S. 377) auf Antrag eines Versicherten, der mit der Prämienzahlung im Verzuge war, anordnen, daß die Befreiung des Versicherers als nicht eingetreten gilt?
Tatbestand
Der Erblasser der Kläger war bei der Beklagten seit dem Jahre 1908 gegen Unfall versichert. Er geriet im Jahr 1914 nach dem Ausbruche des Krieges mit der Zahlung der laufenden Prämie in Verzug und erlitt, ehe die Zahlung erfolgte, einen Unfall, der seinen Tod herbeiführte. Die Beklagte beantragte die Abweisung der auf Zahlung der Versicherungssumme erhobenen Klage, weil sie wegen der Nichtzahlung der Prämie von der Entschädigungspflicht frei geworden sei. Auf Antrag der Kläger wurde in den Vorinstanzen in Anwendung der Bekanntmachung des Bundesrats vom 18. August 1914 angeordnet, daß die Rechtsfolgen wegen der Nichtzahlung der verfallenen Prämie als nicht eingetreten gälten; die Beklagte wurde zur Zahlung der Versicherungssumme verurteilt. Die von ihr eingelegte Revision wurde in der Hauptsache zurückgewiesen.
Gründe
... "Im Schriftrum zu den Kriegsverordnungen ist die Frage, wie der Ausdruck die "besonderen" Rechtsfolgen in der Bekanntmachung vom 18. August 1914 auszulegen ist, vielfach erörtert. Es wird aus dieser Ausdrucksweise in einzelnen Abhandlungen gefolgert, daß die Rechtsfolgen, deren Aufhebung die Bekanntmachung zuläßt sich unterscheiden müßten von den durch Nichtzahlung eintretenden allgemeinen Folgen und daß die besonderen Rechtsfolgen meistens auf einem Willensakte des Schuldners beruhten, in dem er sich ihnen neben den allgemeinen Rechtsfolgen unterworfen habe. Auch die Beklagte hat diesen Standpunkt vertreten und geltend gemacht, daß die hier eingetretene Rechtsfolge keine besondere sei. Dem ist das Berufungsgericht mit zutreffenden Gründen entgegengetreten.
Der Streit über die Deutung des Wortes "besonderen" hat jetzt seine Erledigung schon darin gefunden, daß in der Neufassung der Verordnung vom 8. Juni 1916 (RGBl. S. 415) Art. 2 dieses Wort gestrichen ist. Ebenso ist das Wort "besonderen" bei der Neufassung der Bekanntmachung über die Geltendmachung von Hypotheken, Grundschulden und Rentenschulden vom 8. Juni 1916 (RGBl. S. 454) in dem von der Beseitigung der Rechtsfolgen handelnden § 8 gestrichen. In der Begründung zu diesem Paragraphen - Güthe-Schlegelberger, Kriegsbuch Bd. 3 S. 70 - ist gesagt, daß die Streichung des Ausdrucks "besonderen" keine sachliche Änderung bedeute. Die Beseitigung aller Verzugsfolgen zu ermöglichen, auch solcher, die auf Grund allgemeiner Vorschriften des bürgerlichen Rechtes eintreten, entspreche schon der Absicht der bisherigen Vorschriften. Damit ist auch der Bekanntmachung in der Fassung vom 18. August 1914 vom Bundesrate selbst eine die Unterscheidung zwischen allgemeinen und besonderen Rechtsfolgen ausschließende Auslegung gegeben.
Weiter trifft aber auch die Annahme des Berufungsgerichts zu, daß es sich hier um eine besondere Rechtsfolge handelt. Die allgemeinen Rechtsfolgen der nicht rechtzeitigen Erfüllung und der Nichterfüllung bestimmt das Bürgerliche Gesetzbuch. Die besonderen Rechtsfolgen, welche eintreten, wenn die fällige Prämie nicht bezahlt wird und der Versicherte auch nach ergangener Zahlungsaufforderung im Verzuge bleibt, sind im § 3 der Versicherungsbedingungen der Beklagten und im § 39 des Gesetzes über den Versicherungsvertrag enthalten. Nach den Bedingungen wie nach der Gesetzesbestimmung tritt für den trotz Zahlungsaufforderung mit der Berichtigung der Prämie in Verzug bleibenden Versicherten die Rechtsfolge ein, daß der Versicherer einen in dieser Zeit sich ereignenden Versicherungsfall nicht zu entschädigen hat.
Der Anwendung der Bekanntmachung auf einen solchen Fall soll nun nach den Ausführungen der Revision entgegenstehen, daß nach dem Wortlaut, ihrem Sinn und den gegebenen Beispielen nur die Wiedereinsetzung des Schuldners in Vertragsrechte, die er früher einmal gehabt, aber infolge der Nichtzahlung einer Geldschuld verloren habe, angeordnet werden könne. Beim Versicherungsvertrage dürfe deshalb vielleicht die Kündigung des Vertrags, zu welcher der Versicherer wegen nicht rechtzeitiger Zahlung der Prämie berechtigt sei, vom Richter außer Kraft gesetzt werden. Hier aber sollten dem Versicherten, der beim Eintreten des Versicherungsfalls Anspruch auf Entschädigung überhaupt nicht mehr gehabt habe, Rechte verliehen werden, die er niemals erworben hätte, dem Versicherer Verpflichtungen auferlegt werden, die für ihn niemals entstanden seien.
Diesen Ausführungen ist darin beizutreten, daß die Verordnung, den durch den Krieg hervorgerufenen wirtschaftlichen Nöten aus Billigkeitsgründen Rechnung tragend, allerdings nur Wiedereinsetzung des Schuldners in bereits entstandene, nicht aber die Verleihung neuer Rechte zuläßt. Nicht zutreffend dagegen ist die Auffassung, daß bei Anwendung der Verordnung auf den vorliegenden Fall neue Rechte auf der einen Seite verliehen, nicht entstandene Verpflichtungen der anderen Seite auferlegt wurden.
Durch den Abschluß des Versicherungsvertrags hat die Beklagte die Verpflichtung übernommen, den Kläger für einen erlittenen Unfall nach Maßgabe der Police gegen die bestimmte Prämie zu entschädigen. Dadurch, daß der Erblasser der Kläger mit einer fälligen Prämienzahlung in Verzug geriet, ist das Vertragsverhältnis nicht aufgehoben worden. Nach der zwingenden Vorschrift des § 39 VersVG. traten nur die dort bestimmten Änderungen des vertraglichen Verhältnisses ein. Der Versicherungsvertrag konnte ohne Einhaltung der Kündigungsfrist gekündigt werden und ein während des Verzugs eintretender Unfall war nicht zu entschädigen. Beides sind Rechtsfolgen des Verzugs bei der Entrichtung einer Geldforderung, der fälligen Prämie, und ein rechtlicher Unterschied zwischen ihnen ist nicht anzuerkennen. Wenn nun diese Rechtsfolgen als nicht eingetreten gelten, gelangt damit das Vertragsverhältnis in seiner durch den Verzug des Versicherten nicht beeinflußten Gestaltung wieder in Kraft. Der Versicherte erhalt nicht neue Rechte, sondern er wird nur in die Rechte, welche er vor dem Verzuge gehabt hat und für welche der Verzug ihn benachteiligende Folgen gehabt hat, wieder eingesetzt, er wird wieder, wie er es ohne Verzug war, nach dem Vertrag entschädigungsberechtigt. Dem Versicherer werden ebenfalls nicht neue Verpflichtungen auferlegt, sondern auch für ihn gilt der Vertrag nur wieder unbeeinflußt durch Verzug des Versicherten.
Der Ausführung der Revision, daß bei dieser Auffassung einem Versicherer auch, wenn ihm schon die erste Prämie nicht gezahlt sei, doch die Zahlung der Versicherungssumme auferlegt werden könne, und dem Hinweis auf die darin liegende Unbilligkeit ist entgegenzuhalten, daß das Versicherungsvertragsgesetz, wie dies aus den Bestimmungen der §§ 35, 38, 39 hervorgeht, die Folgen der Nichtzahlung der ersten Prämie wesentlich anders regelt, als die nicht rechtzeitige Entrichtung der laufenden Prämie. Um die Nichtzahlung der letzteren allein handelt es sich hier, und es ist deshalb nicht näher darauf einzugehen, ob auch bei Nichtzahlung der ersten Prämie die Verordnung anwendbar ist.
Aus dem Gesichtspunkte, daß es sich bei dem Versicherungsvertrag um Leistung und Gegenleistung handle, ist, wie dies nach einer im Schrifttum vertretenen Auffassung geschieht, die Nichtanwendbarkeit der Verordnung ebenfalls nicht herzuleiten. Denn Leistung und Gegenleistung stehen sich auch bei der Miete, welche die Verordnung als Beispiel ihrer Anwendbarkeit anführt, gegenüber. Der Anspruch auf die Prämie ist der Beklagten auch geblieben. Der von der Revision in der mündlichen Verhandlung betonte Umstand, daß die Versicherungsgesellschaften zur Aufrechterhaltung ihres Geschäftsbetriebs auf den pünktlichen Eingang der Prämien angewiesen und deshalb der Verordnung nicht zu unterwerfen seien, kann deren Nichtanwendung auf Versicherungsverträge nicht rechtfertigen. Es hätte dazu einer sie ausschließenden Bestimmung bedurft.
Hiernach stehen der Auffassung des Vorderrichters, daß die Bekanntmachung an sich auch auf den vorliegenden Versicherungsfall anzuwenden ist, Bedenken nicht entgegen.
Auch die Bemängelung der Ausführungen des angefochtenen Urteils, mit denen die weiteren Voraussetzungen der Bekanntmachung für dargetan erachtet werden, entbehren der Berechtigung. Der Anspruch der Beklagten auf die am 24. November 1914 fällige Prämie ist eine vor dem 31. Juli 1914 entstandene Geldforderung. Denn hinsichtlich der Entstehung der Forderung kommt es nicht auf den Zeitpunkt der Fälligkeit an, sondern auf den der rechtlichen Begründung. Begründet aber ist der Anspruch durch den schon 1908 geschlossenen Versicherungsvertrag. Dem Vorderrichter ist weiter darin beizutreten, daß ein Bedenken gegen die Anwendung daraus nicht herzuleiten ist, daß hier der Antrag nicht dem Wortlaute der Verordnung entsprechend vom Schuldner, sondern von seinen Rechtsnachfolgern, seinen Erben gestellt ist. Sie sind an die Stelle des Schuldners getreten. Ob endlich die Lage des Schuldners die Anwendung rechtfertigt, ist eine Frage der tatsächlichen Würdigung. Daß bei ihrer Bejahung die Beweislast, wie die Revision geltend macht, verkannt ist, trifft nicht zu. Die Kläger haben die wirtschaftlichen Verhältnisse ihres Erblassers, wie sie vor dem Kriege waren, und die Verschlechterung, welche sie durch den Ausbruch des Krieges erfahren haben, dargetan. Dafür waren sie beweispflichtig. Wenn die Gegenpartei diese Angaben entkräften will und behauptet, daß Ersparnisse vorhanden gewesen seien, muß sie, wie das Berufungsgericht zutreffend annimmt, dies beweisen." ...