RG, 25.09.1917 - II 100/17
Welchen Zeitpunkt hat der Käufer, der nach Fristbestimmung von dem säumigen Verkäufer Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangt und den Schaden abstrakt berechnet, der Berechung zugrunde zu legen?
Tatbestand
Im Juni 1914 kaufte die Klägerin von der Beklagten sechs Wagen Sonnenblumenkuchenmehl, lieferbar "Oktober/März 1915, monatlich je ein Wagen". Die Beklagte hat trotz der Bestimmung von Nachfristen nichts geliefert. Die Nachfristen wurden von der Klägerin jeweils nach Ablauf des Monats, in dem die Lieferung hätte erfolgen sollen, gesetzt. Mit der Klage verlangte die Klägerin Schadensersatz wegen Nichterfüllung. Landgericht und Oberlandesgericht gaben der Klage statt. Die Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg.
Gründe
"Die Ersatzpflicht der Beklagten hat das Berufungsgericht, entsprechend dem Verlangen der Klägerin, nach der sog. abstrakten Schadensberechnung bestimmt. Dabei hat es bezüglich der einzelnen Monatslieferungen den Ablauf der dafür gesetzten Nachfrist als den für die Bemessung des Schadens maßgebenden Zeitpunkt angesehen. Die Revision ist der Ansicht, daß bei richtiger Anwendung der Vorschrift des § 249 BGB. nicht der Verkaufswert berücksichtigt werden dürfe, den die Ware zur Zeit des Ablaufs der Nachfrist gehabt habe, sondern daß zu vergleichen sei, wie die Klägerin stehen würde, wenn die Beklagte vertragsmäßig gehandelt, d. h. die einzelnen Lieferungen nicht nur überhaupt, sondern auch zu den im Vertrage vorgesehenen Zeiten ausgeführt hätte, und wie die Klägerin nunmehr dadurch steht, daß die Erfüllung überhaupt unterblieben ist. Das würde im vorliegenden Falle für die abstrakte Berechnung zu dem Ergebnis führen, daß als Zeitpunkt, der bei der Ermittelung des Schadens zu berücksichtigen ist, an die Stelle des Ablaufs der mehreren Nachfristen, der jeweils zu den dem Lieferungsmonate folgenden Monat fällt, der Anfang des letzteren Monats oder auch das Ende des Lieferungsmonats zu treten hätte.
Die Revision tritt mit dem Angriff in Gegensatz zu der in der Rechtsprechung herrschenden und namentlich auch vom Reichsgerichte schon vielfach anerkannten Auffassung, daß der Käufer, der den ihm aus der Nichterfüllung erwachsenen Schaden abstrakt berechnet, grundsätzlich die Wahl hat, ob er den Zeitpunkt des Eintritts des Verzugs oder des Ablaufs der Nachfrist heranziehen will. Ein Anlaß, von dieser Auffassung abzugehen, liegt nicht vor, insbesondere kann nicht anerkannt werden, daß sie der Vorschrift des § 249 BGB. widerstreite. Die Revision übersieht, daß - abgesehen von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmefällen - das über die Zeit der Leistung des Verkäufers Vereinbarte den Inhalt der Leistung nicht berührt, daß auch die verspätet bewirkte Leistung, sofern sie nur sonst dem Vertrag entspricht, die Vertragsleistung ist. Die Tatsache, daß die Leistung nicht zur vereinbarten Zeit erfolgt, ist für sich allein in den Regelfällen überhaupt bedeutungslos und gewinnt erst durch den an besondere Voraussetzungen gebundenen Hinzutritt des Verzugs Einfluß auf das Vertragsverhältnis. Aber auch dieser Einfluß besteht nicht etwa darin, daß an die Stelle des ursprünglichen Vertragsverhältnisses etwas anderes tritt, sondern das alte Vertragsverhältnis dauert weiter, bis der Käufer die im § 326 BGB. vorgesehene Umwandelung herbeiführt. Hat aber der Käufer bis dahin den ursprünglichen Erfüllungsanspruch gehabt, dann entspricht es der Vorschrift des § 249 Satz 1, wenn bei der Berechnung seines Schadens nicht die im Vertrage vorgesehene Leistungszeit, also die Einigkeit, als entscheidend angesehen wird, sondern die Folgen der Nichterfüllung nach dem Zeitpunkte beurteilt werden, in dem der Erfüllungsanspruch erlischt und durch den Schadensersatzanspruch ersetzt wird. Statt dieses Zeitpunktes kann der Käufer freilich auch den ihm vielleicht vorteilhafteren Zeitpunkt des Eintritts des Verzugs seiner Berechnung zugrunde legen. Diese Vergünstigung rechtfertigt sich daraus, daß der säumige Schuldner, wie die Vorschriften der §§ 286, 287 BGB. ergeben, für die dem Gläubiger nachteiligen Folgen seines Verzugs einzustehen hat.
Gegen eine mißbräuchliche Ausnutzung der danach dem Käufer gebotenen Möglichkeit, durch die Wahl des Zeitpunktes der Fristbestimmung oder die Bemessung der Frist auf die Höhe des zu ersetzenden. Schadens einzuwirken, ist der Verkäufer geschützt durch den in der Rechtsprechung anerkannten, im gegebenen Falle von dem Berufungsgericht auch angewendeten allgemeinen Grundsatz, daß der Gläubiger bei der Fristbestimmung nicht gegen die Anforderungen von Treu und Glauben verstoßen, insbesondere nicht auf Kosten des Schuldners spekulieren darf. Ein weiterer Schutz des Verkäufers ergibt sich aus dem allgemeinen Wesen der abstrakten Schadensberechnung. Da die Zulassung dieser Berechnungsart nur auf der Vermutung beruht, daß der Käufer durch den Weiterverkauf den berechneten Gewinn hätte erzielen können, ist es dem Verkäufer im Einzelfall unbenommen, nach § 287 ZPO. frei zu würdigende Umstände darzulegen, die die Vermutung entkräften. Nach dieser Richtung hat die Beklagte in den Vorinstanzen nichts vorgebracht. Vielmehr hat sie sich auf den allgemeinen, mit der Vorschrift des § 249 BGB. und dem Wesen des Anspruchs auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung unvereinbaren Einwand beschränkt, daß die gesamte Schadensberechnung der Klägerin abzustellen sei auf Mitte Oktober 1914, also auf eine Zeit, zu der noch nicht einmal die erste Lieferung fällig war."