RG, 13.07.1917 - II 27/17
Ist es bei Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften möglich, den Mitgliedern im Wege der Satzungsänderung Leistungspflichten aufzuerlegen, die weder im Gesetze noch in der Satzung vorgesehen sind?
Tatbestand
Die klagende Genossenschaft, der der Beklagte als Mitglied angehört, hat nach § 1 der Satzung zum Gegenstande des Unternehmens den "gemeinschaftlichen Betrieb einer Bierbrauerei nebst zugehörigem Vorbetriebe (Mälzerei usw.) zwecks ausschließlichen Absatzes des erzeugten Bieres an die Mitglieder". Nach § 11 Nr. 8 war jeder Genosse verpflichtet, "dem Statut, den Beschlüssen und den Interessen der Genossenschaft nicht entgegen zu handeln". Diese Bestimmung erhielt in der Generalversammlung vom 18. Juni 1909, an der von 551 Mitgliedern 240 teilnahmen, durch einstimmigen Beschluß der Anwesenden den später in das Genossenschaftsregister eingetragenen Zusatz: "sowie das Bier, welches er als Wirt, Bierhändler oder als Hauseigentümer mit Wirtschaft oder Bierhandlung benötigt und später benötigen wird, von der Genossenschaft zu beziehen, sobald er durch Verträge nicht anderweitig gebunden ist, welche er vor Gründung der Genossenschaft eingegangen war". Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte bei diesem Beschlüsse mitgewirkt hat. Die Klägerin, die es behauptet, hat zum Beweise einen mit Unterschriften bedeckten Bogen vorgelegt, auf dem sich auch die Unterschrift des Beklagten befindet. Ihm selbst zufolge rührt der Bogen von einer andern Generalversammlung her; der Versammlung vom 18. Juni 1909 will er nicht beigewohnt haben. Unstreitig hat er in der Folgezeit, ohne durch frühere Verträge gebunden zu sein, von fremden Brauereien Bier bezogen.
Die Klage ist auf Feststellung der Bezugsverpflichtung und Verurteilung zum Schadensersatze gerichtet. Der erste Richter legte dem Vorstande der Klägerin den Eid auf, daß er nach sorgfältiger Prüfung und Erkundigung die Überzeugung von der Teilnahme des Beklagten an der Versammlung vom 18. Juni 1909 erlangt habe. Dagegen gab das Berufungsgericht der Klage bedingungslos statt. Das Reichsgericht hob das Berufungsurteil auf aus folgenden Gründen:
Gründe
"Darin ist dem Berufungsgericht unbedenklich beizutreten, daß die Verpflichtung der Genossen, ihren Bierbedarf ausschließlich bei der Klägerin zu decken, in der Generalversammlung vom 18. Juni 1909 neu eingeführt werden sollte. Aus § 1 der Satzung ergab sie sich noch nicht. Der dort für die Klägerin vorgeschriebenen Absatzbeschränkung entsprach nicht ohne weiteres eine Bezugspflicht der Genossen. Vielmehr konnten die Gründer davon ausgegangen sein, daß eine hinreichende Anzahl Genossen im eigensten Interesse das Bier von der Klägerin beziehen werde. Indem man später die Verpflichtung zum Bezug in den Text aufnahm, suchte man nicht nur die Fassung zu verdeutlichen, sondern die Genossen zu etwas anzuhalten, was ihnen bisher nicht obgelegen hatte. In den Vorinstanzen waren die Parteien hierüber einig; der Versuch der Klägerin, in der Revisionsinstanz eine andere Auslegung der Satzung zu begründen, kann keinen Erfolg haben.
Nun hat der Beschluß vom 18. Juni 1909 die Bedingungen einer Satzungsänderung - Dreiviertelmehrheit der Erschienenen und Eintragung in das Register - erfüllt; vgl. § 16 Abs. 2, 4 GenG., § 49 des Statuts. Das Berufungsgericht ist aber der Ansicht, daß noch etwas mehr verlangt werden müsse; es sei noch erforderlich, genüge dann aber auch, daß der Beklagte dem Beschlusse zugestimmt habe. Obgleich diese Ansicht schon vom ersten Richter ausgesprochen wurde und beide Parteien sie teilen, muß sie doch als rechtsirrig bezeichnet werden. Entweder war es angängig, durch Satzungsänderung alle Genossen für bezugspflichtig zu erklären; dann bedurfte es der Zustimmung des Beklagten nicht. Oder die Erfordernisse der Satzungsänderung reichten zur Bindung aller nicht hin; dann mußten alle, also auch die 311, die in der Versammlung nicht erschienen waren, zustimmen. Die dritte Möglichkeit, wonach der Beschluß nur für diejenigen Genossen gelten würde, die ihn faßten oder billigten, kommt nicht in Betracht. Eine Bindung nur eines Teiles der Genossen unter Freilassung der übrigen hat offenbar nicht im Sinne der Beschlußfassenden gelegen. Schon der Wortlaut des Beschlusses (§ 11 der Satzung, im Anfang) nennt als bezugspflichtig "jeden Genossen". Jeder der Beschlußfassenden wollte die Verpflichtung aller Genossen; seine eigene Verpflichtung wollte er mithin nur dann, wenn auch die übrigen Genossen verpflichtet würden.
Es fragt sich hiernach, ob die Verpflichtung, das Bier ausschließlich von der Klägerin zu beziehen, allen Genossen durch Änderung der Satzung auferlegt werden konnte. Natürlich wäre das nicht zweifelhaft, wenn die nachträgliche Auferlegung schon in der Ursprünglichen Satzung als möglich vorgesehen wäre. Desgleichen würde jeder Zweifel ausgeschlossen sein, wenn das Gesetz die Einführung derartiger Pflichten unter den Gegenständen der Beschlußfassung aufzählte. In der Tat sind dem Genossenschaftsgesetze Beschlüsse auf Erhöhung von Leistungspflichten nicht fremd. So kann im Wege der Satzungsänderung der Geschäftsanteil oder die Haftsumme erhöht oder der Übergang von der beschränkten zur unbeschränkten Haftpflicht vollzogen werden (vgl. §§ 16, 132, 144 GenG.). Alle diese Verschärfungen der Pflichten muß der einzelne Genosse hinnehmen; indem er der Genossenschaft beitrat, hat er sich ihnen im voraus unterworfen. Allein die angeführten Bestimmungen beziehen sich nur auf Geldzahlungspflichten. Verpflichtungen anderer Art, insbesondere Pflichten zu einem bestimmten Handeln oder Unterlassen, werden im Gesetze nicht erwähnt. Es ist zwar statthaft und kommt, namentlich bei Produktivgenossenschaften, häufig vor, daß die ursprüngliche Satzung auch solche Pflichten anordnet oder ihre Anordnung durch Beschluß vorsieht. Im vorliegenden Falle aber trifft nichts von alledem zu. Weder das Gesetz noch die Satzung machte den Beklagten darauf aufmerksam, daß er mit einem Beschluß auf Einführung der Bierbezugspflicht zu rechnen habe. Muß er ihn sich gleichwohl gefallen lassen?
Die Frage läuft darauf hinaus, ob die Körperschaftsherrschaft als Regel aufzufassen ist, deren Ausnahmen besonderer Begründung bedürfen, oder ob umgekehrt der einzelne durch den Beitritt zur Körperschaft seine Freiheit nur insoweit aufgibt, als Gesetz und Satzung dies ausdrücklich bestimmen. Das kann nur nach dem Wesen des Verbandes, um den es sich handelt, sowie nach dem Gesamtinhalte der für ihn geltenden Vorschriften beurteilt werden. Es ist sehr wohl denkbar, daß für die verschiedenen Verbände eine verschiedene Antwort gegeben werden muß. Auf die rechtsfähigen Vereine des bürgerlichen Rechtes und den Streit der Literatur darüber ist hier nicht einzugehen. Bei den Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, mit denen es der gegenwärtige Prozeß zu tun hat, erscheint es geboten, die Wahrung der Individualsphäre als Grundsatz anzuerkennen.
Entscheidend ist die Notwendigkeit, die Genossen zu schützen. Sie vor allem müssen darauf vertrauen dürfen, vor neuen Pflichten, auf die sie nicht rechnen konnten, bewahrt zu bleiben. Für Gesellschaften m. b. H. heißt es im § 53 Abs. 3 des Gesetzes vom 20. Mai 1898, eine Vermehrung der den Gesellschaftern nach dem Gesellschaftsvertrag obliegenden Leistungen könne nur mit Zustimmung sämtlicher beteiligten Gesellschafter beschlossen werden. Ebenso bestimmt das Handelsgesetzbuch vom 10. Mai 1897 für die damals neu geschaffene Nebenleistungsaktiengesellschaft, daß eine Verpflichtung der Aktionäre zu Leistungen der im § 212 erwähnten Art, sofern sie nicht in dem ursprünglichen Gesellschaftsvertrage vorgesehen ist, nur mit Zustimmung sämtlicher von der Verpflichtung betroffener Aktionäre begründet werden kann (§ 276). Selbst also bei ganz oder überwiegend kapitalistischen Verbänden stellt das Gesetz das Bedenken, daß zweckmäßige und sachlich notwendige Erhöhungen der Pflichten an dem Eigensinn eines Mitglieds scheitern könnten, hinter die Rücksicht auf den Schutz der Einzelwirtschaft zurück. Um wieviel zwingender macht sich die gleiche Interessenabwägung bei einer Personenvereinigung geltend, bei der es schlechterdings nicht auf Kapitalvermehrung, sondern auf Förderung des Fortkommens der Mitglieder ankommt. Hier wird es nötig, besonders vorsichtig vorzugehen; tunlichste Schonung der bestehenden Verhältnisse muß die oberste Richtschnur bilden. Wie drückend nachträglich beschlossene Leistungspflichten wirken können, würde z. B. der vorliegende Fall zeigen, wenn die Generalversammlung - woran sie von der entgegengesetzten Rechtsanschauung aus nichts hindern würde - den ausschließlichen Bezug des Genossenschaftsbieres ohne die Ausnahme vorher abgeschlossener Verträge vorgeschrieben hätte. Dadurch würden zahlreiche Genossen aufs äußerste gefährdet sein. Und eine Reihe sonstiger Leistungspflichten könnte die Mehrheit der Gesamtheit aufbürden, wobei eine Grenze nicht erkennbar wäre. Nicht einmal das Erfordernis, daß die Pflichten mit dem Gegenstande des Unternehmens zusammenhängen müßten, ließe sich rechtfertigen, denn nach § 16 Abs. 2 GenG. unterliegt auch der Gegenstand des Unternehmens der Wandlung durch Satzungsänderung.
Diesen Erwägungen gegenüber genügt es nicht, auf § 65 GenG. zu verweisen, der den Genossen ein unentziehbares Recht auf den Austritt aus der Genossenschaft verleiht. Es ist richtig, daß es ein solches Mittel, sich frei zu machen, bei den andern genannten Verbänden nicht gibt. Die Veräußerung von Aktien mit Nebenleistungspflichten ist gesetzlich an die Zustimmung der Gesellschaft geknüpft (§ 212 Abs. 1 HGB.), und dasselbe wird, wenn Sachleistungen vereinbart sind, in der Regel bei Gesellschaften m. b. H. kraft zugelassener Satzungsvorschrift gelten (vgl. § 15 Abs. 5 GmbHG.). Allein die Genossen sollen auch nicht durch mittelbaren Zwang zum Austritt aus der Genossenschaft, die soziale Aufgaben erfüllt, genötigt werden. Zudem kann das Austrittsrecht im einzelnen Falle sehr beschränkt sein. Da die Kündigung nur auf den Schluß eines Geschäftsjahres wirkt und die Satzung eine zweijährige Kündigungsfrist anordnen kann, wäre es möglich, daß auch der kündigende Genosse die durch die Mehrheit beschlossene Leistung annähernd drei Jahre hindurch zu erbringen hätte.
Nun möchte vielleicht trotzdem die Entscheidung anders ausfallen, wenn festzustellen wäre, daß man die erörterten Vorschriften des Handelsgesetzbuchs und des Gesellschaftsgesetzes absichtlich nicht auf Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften übertragen habe. Das trifft jedoch nicht zu. Wenn bei der Änderung des Genossenschaftsgesetzes durch EG. zum HGB. Art. 10 kein dem § 276 entsprechender Satz formuliert worden ist, so erklärt sich das einfach daraus, daß die ganze Einrichtung der Sachleistungen nur für Aktiengesellschaften, nicht für Genossenschaften, bei denen sie seit langem in Übung war, der Regelung bedurfte. Der § 53 Abs. 3 GmbHG. aber stand als § 54 Abs. 3 schon in dem früheren Gesetze vom 20. April 1892. Die Motive zum Entwurfe dieses Gesetzes sind weit entfernt davon, eine Vorschrift positiver Art darin zu erblicken. Sie sagen ausdrücklich, die Bestimmung sei eine "an sich vielleicht als selbstverständlich zu betrachtende Einschränkung" der Möglichkeit, die Satzung durch Mehrheitsbeschluß zu ändern; sie werde nur deshalb aufgenommen, weil sonst die Fassung des von den Nachschüssen handelnden § 26 mißverstanden werden könne (vgl. Reichstagsvorlage S. 79). Ganz ebenso spricht die Denkschrift zum Handelsgesetzbuche von 1897 S. 132 von einer "an sich schon aus der Natur der Sache folgenden Einschränkung", die nur "um jeden Zweifel auszuschließen" noch besonders zum Ausdruck gebracht worden sei.
Hiernach ist die nachträgliche Begründung anderer als Geldzahlungspflichten bei Genossenschaften zwar zulässig. Ist sie aber nicht schon in der ursprünglichen Satzung vorgesehen, so reichen die gewöhnlichen Voraussetzungen der Satzungsänderung nicht hin, vielmehr muß überdies noch die Zustimmung aller Genossen, die den Beschluß nicht mitgefaßt haben, hinzukommen. Mit dieser Auffassung befindet sich der Senat im Einklange mit dem Urteile des ersten Zivilsenats RGZ. Bd. 47 S. 146, wonach die damaligen Generalversammlungsbeschlüsse nur insoweit für rechtswirksam erachtet wurden, als sie bei richtiger Auslegung schon in der Satzung enthalten waren. Auch das Bayerische Oberste Landesgericht (Rechtspr. der OLG. Bd. 19 S. 342) hat sich auf den hier vertretenen Standpunkt gestellt; vgl. in demselben Sinne Parisins-Crüger, Kommentar, 8. Aufl. § 6 Anm. 5, Waldecker, Eingetragene Genossenschaft S. 131 flg. Anm. 7.
Das angefochtene Urteil war somit aufzuheben und die Sache in die Vorinstanz zurückzuverweisen. Es kommt darauf an, ob die Klägerin eine Zustimmung aller Genossen behaupten will. Maßgebend würde § 182 BGB. sein. Die Zustimmung konnte vor und nach der Generalversammlung erklärt werden und war an eine Form nicht gebunden (vgl. RGZ. Bd. 68 S. 263)."