RG, 08.06.1917 - III 74/17

Daten
Fall: 
Hilfloser Unfallverletzte
Fundstellen: 
RGZ 90, 312
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
08.06.1917
Aktenzeichen: 
III 74/17
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Cöln
  • OLG Cöln

Wann ist ein Unfallverletzter als derart hilflos anzusehen, daß er ohne fremde Wartung und Pflege nicht bestehen kann?

Tatbestand

Der Kläger erlitt als Schirrmeister der preußischen Eisenbahnverwaltung einen Betriebsunfall, infolgedessen ihm der rechte Unterschenkel und der rechte Unterarm abgenommen wurden. Sein Ruhegehalt wurde in der Annahme, daß er derart hilflos sei, daß er ohne fremde Wartung und Pflege nicht bestehen könne, zunächst auf 95 v. H. seines Diensteinkommens festgesetzt, dann aber auf 66 2/3 v. H. herabgesetzt, weil jene Annahme unzutreffend gewesen sei. Seiner Klage auf Fortzahlung des Ruhegehalts in Höhe von 95 v. H. wurde vom Landgericht entsprochen. Berufung und Revision des Beklagten wurden zurückgewiesen.

Aus den Gründen

... "Das Berufungsgericht erachtet für erwiesen, daß der Kläger beim An- und Auskleiden, beim Essen und beim Verrichten der Notdurft auf die Hilfe anderer Personen angewiesen und nicht in der Lage ist, sich die künstlichen Glieder, die er zum Ersatze der verlorenen Gliedmaßen erhalten hat, ohne fremde Hilfe anzulegen, und nimmt hiernach an, daß seine Hilflosigkeit eine so erhebliche ist, daß sie die Gewährung der sogenannten Hilflosenrente nach § 1 Abs. 3 des Unfallfürsorgegesetzes vom 2. Juni 1902 rechtfertige. Die Revision bekämpft diese Annahme des Berufungsgerichts unter Bezugnahme auf die Rekurs-Entscheidung des Reichsversicherungsamts vom 1. Juni 1901 - Amtl. Nachr. des Reichsversicherungsamts 1902 S. 181 -, in der für die Bestimmung des § 9 Abs. 8 des Gewerbe-Unfallversicherungsgesetzes ausgeführt wird, daß das Gesetz mit dem Ausdruck "ohne fremde Wartung und Pflege nicht bestehen kann" nicht die Fälle meine, in denen eine nur teilweise Unterstützung durch fremde Personen notwendig sei, sondern denjenigen hohen Grad von Gebrechlichkeit und Hilflosigkeit bezeichne, bei welchem der Verletzte fast in jeder Lage und zu jeder Zeit der fortwährenden Unterstützung einer anderen Person nicht entbehren kann.

Dieser Auffassung kann indes nicht beigetreten werden. Die Erfordernisse, welche hier für die Gewährung der Hilflosenrente aufgestellt werden, sind derart hohe, daß ein höherer Grad der Hilflosigkeit kaum noch denkbar wäre, einem derart hilflosen Verletzten also das höchste Maß der Rente, nämlich bei der Arbeiterversicherung der volle Jahresarbeitsverdienst, bei der Beamten-Unfallfürsorge das volle Diensteinkommen zu gewähren wäre. Das Gesetz gibt aber bei der Beamten-Unfallfürsorge und nach dem Gewerbe-Unfallversicherungsgesetz einen Spielraum zwischen 2/3 und dem vollen Betrage des Diensteinkommens bzw. des Jahresarbeitsverdienstes für die Bemessung der Hilflosenrente. Einen noch größeren Spielraum gewährt die Reichsversicherungsordnung vom 19. Juli 1811, da sie nicht, wie die vorgenannten Gesetze, die volle Erwerbsunfähigkeit zur Voraussetzung der Bewilligung der Hilflosenrente macht. Hieraus aber ergibt sich, daß auch geringere als die in der Entscheidung vom 1. Juni 1901 bezeichneten Grade der Hilflosigkeit geeignet sein müssen, den Anspruch auf diese Rente zu rechtfertigen. Allerdings muß die Hilfsbedürftigkeit eine andauernde und nicht unerhebliche sein. Denn ein gewisses Maß von fremder Hilfe wird regelmäßig jeder brauchen, der gänzlich erwerbsunfähig ist, während die völlige Erwerbsunfähigkeit an sich - und also auch der damit notwendig verbundene Grad der Hilfsbedürftigkeit - den Anspruch auf die Hilflosenrente noch nicht begründet. Aber dies verkennt das Berufungsgericht keineswegs.

Übrigens ist das Reichsversicherungsamt selbst jener strengen Auffassung des Begriffs der Hilflosigkeit, wie sie in der Entscheidung vom 1. Juni 1901 ausgesprochen ist, in einer späteren Entscheidung, vom 14. Juli 1904 - auszugsweise mitgeteilt bei Breithaupt, Rechtsprech. des Reichsversicherungsamts auf Grund der Unfallversicherungsgesetze, Bem. 8 zu § 9 Abs. 3 GUVG. - ausdrücklich entgegengetreten, und es hat auch seither, so weit ersichtlich, jenen strengen Standpunkt nicht mehr eingenommen." ...