RG, 11.05.1917 - II 583/16

Daten
Fall: 
Anfechtungsklage im Aktienrecht
Fundstellen: 
RGZ 90, 206
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
11.05.1917
Aktenzeichen: 
II 583/16
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG II Berlin für Handelssachen
  • KG Berlin

1. Kam die aktienrechtliche Anfechtungsklage auf Verletzung der Vorschrift über rechtzeitige Auslegung der der Generalversammlung zu unterbreitenden Vorlagen gestützt werden?
2. Setzt die Anfechtungsklage den Nachweis eines rechtlichen Zusammenhanges zwischen der Gesetzes- oder Satzungsverletzung und dem anzufechtenden Beschlusse voraus?
3. Ist das Minderheitsrecht auf Vertagung der Generalversammlung nur dann gegeben, wenn die Bemängelung eines Bilanzpostens die Bilanz als solche betrifft, oder auch dann, wenn geltend gemacht wird, daß der Posten bei richtiger Geschäftsführung nicht entstanden wäre?

Tatbestand

Der klagende Bezirksverband ist mit 200 Aktien zu je 1000 M Aktionär der beklagten Kleinbahn-Aktiengesellschaft, deren Grundkapital 1.664.000 M beträgt. In der ordentlichen Generalversammlung vom 20. März 1914 rügte er die Verletzung der Vorschrift, wonach die Jahresrechnungen mit den Bemerkungen des Aufsichtsrats versehen mindestens vierzehn Tage vor Ablauf der satzungsmäßigen Frist zur Hinterlegung der Aktien, d. i. spätestens seit dem 4. März, zur Einsicht der Aktionäre ausliegen mußten. Das war zwar äußerlich geschehen, insofern die sogar schon am 26. Februar ausgelegten Urkunden von der Auslegung an den Prüfungsvermerk des Aufsichtsrats trugen. In Wirklichkeit rührte dieser Vermerk aber nur von dem Vorsitzenden her; der Aufsichtsrat selber war ihm, und zwar mit Stimmenmehrheit, erst am Tage der Generalversammlung unmittelbar vor deren Beginn beigetreten. Außer diesem Punkte bemängelte der Kläger den Aktivposten der Bilanz "Aktiengesellschaft für Bahnen und Tiefbau 31.191,80 M und verlangte Vertagung. Die Mehrheit ging über beide Beanstandungen hinweg, wogegen der Kläger Widerspruch zu Protokoll erhob.

Mit der frist- und formgerechten Anfechtungsklage wurde beantragt, die Beschlüsse der Generalversammlung vom 20. März 1914 für nichtig zu erklären. Während das Landgericht nach diesem Antrag erkannte, wies das Kammergericht die Klage ab. Die Revision des Klägers führte zur Wiederherstellung des ersten Urteils.

Gründe

"Die erste Beschwerde des Klägers betrifft den § 283 Abs. 1, 3 HGB., wonach die der Generalversammlung zu unterbreitenden Vorlagen (Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung, Geschäftsbericht) mit den Bemerkungen des Aufsichtsrats während der letzten zwei Wochen vor Ablauf der satzungsmäßigen Aktienhinterlegungsfrist zur Einsicht der Aktionäre auszulegen sind. Das ist keineswegs, wie der Berufungsrichter mit dem Beschlusse des Kammergerichts bei Johow Bd. 12 S. 25 annimmt, eine bloße Sollvorschrift. Daraus, daß die Vorstandsmitglieder zur Befolgung der Vorschrift durch Ordnungsstrafen anzuhalten sind (§ 319 HGB.. früher Art. 249 g Abs. 2), ergibt sich nicht, daß die Zuwiderhandlung nicht auch die Anfechtung begründen könnte. Die Haupterwägung, auf die der angeführte Beschluß sich stützt, ist die Fassung des Art. 239 Abs. 2, worin die hier streitige Bestimmung mit der Bestimmung darüber, wie lange nach Ablauf des Geschäftsjahres mit der Herstellung und Vorlegung der Jahresrechnungen gewartet werden darf, zusammengefaßt wird. Diese Erwägung hat sich inzwischen durch die Trennung der Sätze in § 260 Abs. 2 und § 263 HGB. erledigt. Daß die Gründlichkeit der Vorbereitung der Generalversammlungsbeschlüsse dem Gesetzgeber wichtig genug erscheint, um Verstöße gegen die betreffenden Vorschriften der Anfechtungsklage zu unterwerfen, wird durch § 271 Abs. 3 Satz 1 (mangelhafte Ankündigung der Tagesordnung) bestätigt. Für die Zulässigkeit der Klage hat sich in Rep.I. 266/92 vom 23. November 1892 (Bolze, Praxis Bd. 14 Nr. 494d) auch der I. Zivilsenat des Reichsgerichts ausgesprochen, und bis auf Lehmann-Ring zu § 263 Nr. 4 steht die Literatur auf demselben Standpunkte (vgl. die dortigen Nachweise und dazu Horrwitz, Recht der Generalversammlungen S. 330). Wenn es bei Staub-Pinner heißt, die Anfechtungsklage könne "in den geeigneten Fällen" erhoben werden, so ist damit wohl nur gemeint: unter den allgemeinen Voraussetzungen des § 271. Jedenfalls kann davon, daß die Anfechtbarkeit vom Ermessen des Gerichts abhängig wäre, keine Rede sein.

Daß nun im vorliegenden Falle gegen das Gesetz gefehlt wurde, hat das Berufungsgericht zutreffend erkannt. Der Aufsichtsrat als solcher, nicht nur sein Vorsitzender, hätte vor dem 4. März 1914 die Jahresrechnungen prüfen und seinen Prüfungsvermerk oder etwaige weitere Bemerkungen schon vor jenem Zeitpunkte zur Einsicht mitauslegen lassen müssen. Fraglich könnte nur sein, ob der Kläger nicht wider Treu und Glauben handelt, wenn er jetzt ein Verfahren rügt, das unstreitig lange Jahre hindurch unter seiner Duldung beobachtet worden ist. Allein er hat mit Recht entgegnet, er habe erst in letzter Zeit Mißtrauen gegen die Verwaltung gefaßt, sei überdies auch zum erstenmal durch einen juristisch vorgebildeten Beamten in der Generalversammlung vertreten gewesen. Danach kann ihm Arglist nicht vorgeworfen werden. Und hinfällig ist auch die andere Erwägung des Berufungsgerichts, daß nämlich der Verstoß gegen das Gesetz die angefochtenen Beschlüsse nicht beeinflußt habe. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts hat für die Klage nach §§ 271 flg. nicht ein positives Erfordernis des Kausalzusammenhanges aufgestellt, sondern die Anfechtung nur dann versagt, wenn klar zutage liegt, daß der Beschluß nicht auf der behaupteten Gesetzes- oder Statutenverletzung beruhen kann. Schon die Möglichkeit ursächlicher Verknüpfung schafft der Klage Raum. Eine solche Möglichkeit aber ist hier nicht zu bezweifeln. Die Sitzung des Aufsichtsrats, in der die meisten Mitglieder - nicht alle - den Prüfungsvermerk genehmigten, fand am 20. März 1914 unmittelbar vor der Generalversammlung statt. Die Mehrheit stand also vor einer vollendeten Tatsache; sie hätte, um sich anders zu entscheiden, entweder die Vertagung der Versammlung herbeiführen oder den Vorsitzenden im Stiche lassen müssen. Hätte der Vorsitzende, wie es seine Pflicht war, die ihm vom Vorstande zugesandten Urkunden vor der Einberufung der Generalversammlung dem Aufsichtsrate vorgelegt, so wäre dieser zu freier und unbehinderter Prüfung imstande gewesen. Was er alsdann zu der Bilanz bemerkt und was die Generalversammlung beschlossen haben würde, steht ganz dahin.

Hiernach beruht die Beurteilung schon des ersten Klagegrundes durch das Berufungsgericht auf Rechtsirrtum. Aber auch der zweite Grund, der sich auf die Verweigerung der Vertagung der Versammlung stützt, ist mit Unrecht verworfen worden. In dieser Beziehung fragt sich, ob die Voraussetzungen des § 264 HGB. erfüllt sind. Unstreitig besaß der Kläger mehr als zehn Prozent des Grundkapitals, und ebenso ist außer Streit, daß er sich nicht gegen die Bilanz im allgemeinen gewendet, sondern einen ganz bestimmten Bilanzposten, die Forderung gegen die Aktiengesellschaft für Bahnen und Tiefbau, herausgegriffen hat. Die Sache liegt auch nicht etwa so - die Beklagte selbst behauptet es nicht -, daß der Kläger diesen Posten nur der Form wegen genannt hätte, um ohne sachliche Gründe eine Vertagung durchzusetzen. Vielmehr bestand ein Gegensatz zwischen ihm und der Verwaltung der Beklagten, deren Aufsichtsratsvorsitzender zugleich Großaktionär der Aktiengesellschaft für Bahnen und Tiefbau war. Diese Gesellschaft hatte den Betrieb der Beklagten gepachtet; nach dem Vertrage war sie verpflichtet, die erzielten Einnahmen monatlich abzuführen. Der Kläger wollte geltend machen, der Vorstand habe zu Unrecht die alsbaldige Einziehung der Forderung versäumt und eine Rückbehaltung des Betrags durch die Schuldnerin wegen angeblicher Gegenansprüche zugelassen. Daß der Kläger dies auch wirklich geltend gemacht hat, leidet trotz der Tatbestandsberichtigung ("rügen wollen" statt "gerügt") keinen Zweifel. Die Parteien sind einig darüber, daß sich die nach Ausweis des Protokolls erteilte Antwort gerade auf diesen Punkt bezogen hat, daß also die Anfrage richtig verstanden worden ist. Danach hat der Kläger zugleich einen bestimmten Mangel des Postens angegeben, nämlich den, daß der Betrag, statt beigetrieben zu sein, als ausstehende Forderung in der Bilanz erschien. Ob die Antwort, die er hierauf erhielt, stichhaltig und genügend war, kommt nicht in Betracht. Das Gesetz will dem Aktionär, der einen bestimmten Ansatz der Bilanz in gehöriger Weise bemängelt und über zehn Prozent des Grundkapitals verfügt, eine Frist zur Überlegung bis zur nächsten Verhandlung gewähren; er soll nicht genötigt sein, in dem engbemessenen Zeitraume der Generalversammlung sich sofort ein Urteil zu bilden (vgl. RG. Rep. I. 605/05 vom 19. Mai 1906, Jur. Wochenschr. S. 479).

Gleichwohl meint das Berufungsgericht, eine Bemängelung, wie sie § 264 HGB. im Auge habe, liege nicht vor, weil sich der Tadel nicht gegen die Bilanzierung als solche, sondern nur dagegen richtete, daß der Vorstand Kredit gewährt hatte. Das Vertagungsverlangen könne mit der Beanstandung eines Bilanzpostens nur dann begründet werden, wenn die Minderheit behaupte, der Posten sei zu hoch oder zu niedrig angesetzt (oder, wie im Sinne des Berufungsgerichts hinzuzufügen ist, wenn sie die Unübersichtlichkeit oder Unklarheit eines Postens rüge). Greife sie aber mit Bezug auf einen Bilanzposten die Geschäftsführung des Vorstandes an, so sei ein Anspruch auf Vertagung nicht gegeben. Diese Auslegung des Gesetzes kann nicht gebilligt werden. Der Wortlaut steht ihr nicht zur Seite; einen Ansatz der Bilanz "bemängelt" auch derjenige, der geltend macht, daß der Posten bei richtiger Geschäftsführung in die Bilanz nicht habe angenommen werden dürfen. Auch aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes, auf die das Berufungsgericht verweist, ist für die behauptete Einschränkung nichts herzuleiten. Wenn in den Motiven zu Art. 239a der Aktiennovelle vom 18. Juli 1884 (S. 122 der Reichstagsvorlage) gesagt wird, vom Standpunkte des Gesetzgebers aus "scheine jede erreichbare Aufklärung wegen der nachteiligen Folgen, welche "unrichtige Bilanzen" herbeiführen könnten, notwendig, so bedeutet das nicht, daß Aufklärungen nur zur Beseitigung von Unrichtigkeiten im bilanztechnischen Sinne erforderlich seien. Wie wenig der Novelle eine Unterscheidung entsprach, wonach das Recht auf Vertagung nur bei Bemängelung der Bilanzierung, nicht aber bei Bemängelung der Geschäftsführung Platz greifen würde, beweist Abs. 3 des Art. 239a, wonach, wenn die Verhandlung auf Verlangen der Minderheit vertagt war, bezüglich der nicht bemängelten Ansätze der Bilanz die Entlastung des Vorstandes als erfolgt gelten sollte. Das Handelsgesetzbuch von 1897, das diese Vorschrift als zu weitgehend strich, hat doch die Wechselbeziehungen zwischen den Verhandlungen über die Bilanz und über die Entlastung nicht verkannt. Die Denkschrift S. 146 hebt ausdrücklich hervor, wie eng beides miteinander zusammenhängt. Und vergebens sucht man nach einem Grunde, der es rechtfertigen könnte, das in solcher Art innerlich Verbundene auseinanderzureißen. Der Anspruch auf Vertagung ist ein Verteidigungsmittel, das das Gesetz der Minderheit in die Hand gibt, um sie nicht ungehört der Übermacht der Mehrheit erliegen zu lassen. Muß sie sich fügen, so soll sie doch wenigstens auf Klarheit dringen dürfen. Die Auslegung, die das Berufungsgericht vertritt, würde diesem Minderheitsrecht einen großen Teil seines Wertes rauben. Auf der andern Seite hat das Erfordernis der Bemängelung eines bestimmten Ansatzes nur den Zweck, Mißbräuche zu verhüten und für das weitere Verfahren eine geeignete Grundlage zu gewinnen (so die Motive zur Novelle a. a. O.); es ist unbestreitbar, daß dieser Zweck auch bei einer Bemängelung, wie sie hier in Rede steht, erreicht wird. Daher muß daran festgehalten werden, daß es genügt, wenn die Minderheit einen Bilanzposten überhaupt bemängelt, und daß ein Unterschied, je nachdem der Mangel das materielle Bilanzrecht oder die Pflichten der Geschäftsführung betrifft, nicht gemacht werden darf."