RG, 27.04.1917 - III 442/16

Daten
Fall: 
Begriffe der Sittenwidrigkeit
Fundstellen: 
RGZ 90, 181
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
27.04.1917
Aktenzeichen: 
III 442/16
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG I Berlin
  • KG Berlin

Zum Begriffe der Sittenwidrigkeit.

Gründe

"Die Stellung, welche der Kläger auf Grund des Vertrags vom 7. Juli 1913 bei den Beklagten einnahm, war eine verantwortungsreiche. Er hatte die Aufgabe, ihr neugegründetes Automobilledergeschäft, in welchem sie nach ihrem Vortrage noch keine eigene Erfahrung besaßen, in die Höhe zu bringen und zu leiten. Er sollte Kunden gewinnen, die Ein- und Verkäufe bewirkt, den geschäftlichen Briefwechsel erledigen, die Bücher führen und alle anderen kaufmännischen Arbeiten der Lederabteilung auf sich nehmen. Für diese umfangreiche Tätigkeit bezog er kein Gehalt. Freilich war er mit einem hohen Prozentsatz am Reingewinn beteiligt. Aber auch über seinen Gewinnanteil durfte er, abgesehen von Jahresbeträgen in Höhe von 3.600 bis 5.000 M, während der Vertragszeit nicht frei verfügen. Dieser verblieb im Geschäfte der Beklagten und wurde ihm mit 4 Prozent verzinst. Die Parteien rechneten mit einem Jahresumsatze von mehr als 500.000 M und nach den Angaben der Beklagten mit einen Reingewinn von 20 Prozent. Erfüllten sich diese Erwartungen, so konnte der Kläger bis zum Ablaufe des Vertrags, d. h. bis zum 31. Dezember 1918, ein Vermögen erworben haben, das ihm für die Zukunft seine wirtschaftliche Selbständigkeit gewährleistete. Zur Sicherheit für die Erfüllung aller von ihm der beklagten Firma gegenüber eingegangenen Verpflichtungen hatte der Kläger an sie die für einen Angestellten nicht unbeträchtliche Summe von 8.000 M zahlen müssen, die später auf 10.000 M erhöht werden sollte. Diese sowie sein ganzes Gewinnguthaben sollten der beklagten Handelsgesellschaft verfallen, wenn er auch nur einer seiner Vertragspflichten zuwiderhandelte. Das war um so härter, als er trotz seiner Stellung als Leiter des Automobilledergeschäfts nach § 3 des Vertrags sich jeder Anordnung der Firmeninhaber zu fügen hatte. Die Strafbestimmung ist aber nicht nur hart, sondern sie verstößt auch gegen den Anstand, welchen nach gesunder Verkehrsauffassung ein jeder bei Regelung seiner geschäftlichen Beziehungen zu Untergebenen beobachten muß.

Die Möglichkeit, bei dem geringsten Ungehorsam seine Ersparnisse und den Ertrag seiner - vielleicht mehrjährigen - Tätigkeit bei den Beklagten aufs Spiel zu setzen und alle seine Zukunftshoffnungen zu gefährden, waren geeignet, einen ständigen Druck auf den Kläger auszuüben, seine Entschließungen in ungebührlicher Weise zu beeinflussen und ihn zu einem willfährigen Werkzeug in der Hand der Beklagten zu machen. Dem kann man nicht entgegenhalten, daß die Vertragsrechte der Beklagten in den Gesetzen von Treu und Glauben ihre Schranke fanden, und daß die Nichtbefolgung unangemessener Anweisungen oder Zumutungen für sie einen Anspruch auf die Vertragsstrafe nicht zu begründen vermochte. Dem solange der Kläger nicht wußte, ob das Gericht seine Auffassung oder die der Beklagten teilen würde, waren der Druck, unter dem er stand, und der Zwang, in jedem einzelnen Falle die Entscheidung auf eigene Gefahr treffen zu müssen, unverändert vorhanden. Die Strafklausel, welche die Willensfreiheit des Klägers zugunsten der Dienstherren in unzulässigem Maße einengt und den letzteren die Möglichkeit gibt, ihm fast den ganzen Lohn einer mehrjährigen und erfolgreichen Arbeit zu entziehen, nimmt somit auf Kosten schutzwürdiger Interessen des wirtschaftlich schwächeren Gehilfen in einseitiger und anstößiger Weise lediglich die des wirtschaftlich stärkeren Prinzipals wahr und verletzt auf das gröblichste das Billigkeitsgefühl nicht nur ehrbarer Handelsweise, sondern überhaupt aller, welche redlich und anständig zu denken und zu handeln gewohnt sind. Deshalb entbehrt sie als sittenwidrig der Rechtswirksamkeit (§ 138 Abs. 1 BGB.)." ...