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RG, 24.04.1917 - III 10/17

Daten
Fall: 
Zustellung eines Urteils
Fundstellen: 
RGZ 90, 173
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
24.04.1917
Aktenzeichen: 
III 10/17
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Naumburg a.S.
  • OLG Naumburg a.S.

1. Ist die Zustellung eines Urteils wirksam, wenn es von allen bei seiner Erlassung beteiligten Richtern unterschrieben ist, im Eingangsvermerk aber fälschlich andere Richter als bei der Entscheidung mitwirkend genannt sind?
2. Besteht eine Vermutung dafür, daß die Mitglieder eines nicht rechtsfähigen Vereins ihre Haftbarkeit für Verbindlichleiten, welche der Vorstand im Namen des Vereins eingegangen ist, satzungsgemäß auf ihre Anteile am Vereinsvermögen beschränkt haben?

Tatbestand

Der Beklagte gehört einem nicht rechtsfähigen Verein, dem Jagdverein, an, dessen Mitglieder sich zur gemeinsamen Ausübung der Jagd zusammengeschlossen haben. Am 22. Oktober 1914 veranstaltete der Verein eine Stöberjagd. Der Kläger, welchen er zur Leistung von Treiberdiensten angenommen halte, wurde dabei von einer Schrotladung derart getroffen, daß er das rechte Auge verloren hat. Nach seiner Behauptung soll der Beklagte der unglückliche Schütze gewesen sein oder wenigstens zugleich mit anderen Jagdteilnehmern auf die herannahende Treiberkette geschossen haben. Der Kläger nahm ihn wegen der Folgen des Schusses indessen nicht nur auf Grund des § 823 Abs. 1 oder des § 830 Satz 2 BGB, sondern auch als Vertragsschuldner in Anspruch, weil der Vorstand des Jagdvereins seine Fürsorgepflicht aus § 618 BGB. ihm gegenüber schuldhaft nicht erfüllt habe und der Beklagte für die vertraglichen Verbindlichkeiten des Vereins nach den §§ 54, 714, 427 BGB. auch persönlich als Gesamtschuldner hafte. Das Landgericht und das Oberlandesgericht erachteten den letztgenannten Klagegrund für unbegründet und erkannten auf einen Eid für den Beklagten über die Schußabgabe. Die Revision des Klägers hatte Erfolg.

Gründe

"In dem auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 3. November 1916 ergangenen, am 10. November verkündeten Urteile des Oberlandesgerichts waren als Entscheidungsrichter (§ 313 Nr. 2 ZPO.) aufgeführt: Senatspräsident R., die Oberlandesgerichtsräte K. und S., Amtsgerichtsrat M. und Landgerichtsrat D. Unterschrieben war das Urteil indessen von den vier zuletztgenannten Richtern und vom Oberlandesgerichtsrat B. In dieser Form war das Urteil ausgefertigt und von dem Prozeßbevollmächtigten des Beklagten dem des Klägers am 5. Dezember 1916 zugestellt worden. Dieser hatte bereits am 29. November die Berichtigung der Unstimmigkeit zwischen den Unterschriften und dem Vermerk am Kopfe des Urteile beantragt. Das Urteil wurde nunmehr dem Inhalte des Sitzungsprotokolls vom 3. November entsprechend auf Grund des § 819 ZPO. durch Beschluß vom 1. Dezember dahin berichtigt, daß nicht Senatspräsident R.. sondern Oberlandesgerichtsrat B. bei der Urteilsfällung mitgewirkt habe. Dieser Beschluß ist von Amts wegen beiden Parteien am 6. Dezember und das Urteil mit ihm dem Prozeßbevollmächtigten des Beklagten von dem des Klägers am 8. des genannten Monats zugestellt worden. Der die Anlegung der Revision enthaltende Schriftsatz ist am 8. Januar 1917 bei dem Reichsgericht eingegangen. Die Revisionsfrist wäre daher versäumt, wenn die Zustellung vom 5. Dezember wirksam wäre (§ 552 ZPO.). Das ist indessen zu verneinen.

Der I. und der V. Zivilsenat des Reichsgerichts haben bereits ausgesprochen (vgl. Gruchot. Bd. 46 S. 1078 und Jur. Wochenschr. 1903 S. 383 Nr. 6), daß die Zustellung eines Urteils, das von anderen Richtern als von denen unterzeichnet ist, welche nach dem Eingangsvermerke die Entscheidung getroffen haben, nicht geeignet ist, eine Rechtsmittelfrist in Lauf zu setzen. Freilich war die Sachlage damals insoweit eine andere, als der Eingangsvermerk objektiv richtig, dagegen eine Unterschrift von seiten eines an der Urteilsfällung nicht beteiligten Richters geleistet war, während hier die Unterschrift von denjenigen Richtern, welche tatsächlich bei der Entscheidung mitgewirkt haben, herrühren, der Eingangsvermerk aber falsch gefaßt war. Beide Fälle sind jedoch sachlich gleich zu beurteilen. Denn durch den Vermerk am Kopfe des Urteils soll bezeugt werden, daß die in ihm aufgeführten Personen die Urteilsfinder waren, § 313 Nr. 2 ZPO. steht aber mit § 315 a. a. O. derart in untrennbarem Zusammenhange, daß ein Urteil nur dann im Sinne des letzteren als unterschrieben gelten kann, wenn der Eingangsvermerk und die Unterschriften sich decken. Solange das nicht zutrifft, darf nach § 317 Abs. 2 ZPO. eine Urteilsausfertigung nicht erteilt werden. Geschieht es doch, so ist sie einer wirksamen Zustellung nicht fähig, weil die Parteien auf die Befolgung der im öffentlichen Interesse gegebenen Vorschriften der §§ 313 Nr. 2, 315, 317 Abs. 2 a. a. O. nicht verzichten können. Am 5. Dezember lag also - den Parteien erkennbar - ein im Sinne des Gesetzes vollständiges Urteil noch nicht vor, so daß seine Zustellung auf den Beginn der Rechtsmittelfrist keinen Einfluß ausüben konnte. Diese Zustellung wurde auch durch die vom 6. Dezember nicht wirksam, denn abgesehen davon, daß diese nicht auf Betreiben einer Partei (§ 317 Abs. 1 a. a. O.), sondern von Amts wegen erfolgte, hatte sie nicht das berichtigte Urteil, sondern nur den Berichtigungsbeschluß zum Gegenstande. Die an sich ordnungsmäßige Urteilszustellung vom 8. Dezember kann aber erst von diesem Tage an Rechtswirkungen äußern. Denn die Zustellung ist eine Handlung, ein tatsächlicher Akt, der, wenn er einmal wirkungslos vorgenommen ist, rechtlich ebenso anzusehen und zu behandeln ist, als wenn überhaupt nichts geschehen wäre. Er kann daher durch nachträgliche Handlungen nicht ergänzt und nicht rückbezüglich mit Rechtswirkung ausgestattet werden. Das muß hier um so mehr gelten, als die Zustellung vom 5. Dezember von dem Beklagten, die vom 8. Dezember dagegen von dem Kläger veranlaßt, im ersteren Falle also dieser, im letzteren der Beklagte der Zustellungsempfänger war.

In der Sache selbst war der Revision stattgegeben. Der Satz, daß eine Haftung des Beklagten aus § 618 BGB. überhaupt nicht zu begründen sei, ist rechtsirrig. Unstreitig hat der Jagdverein den Kläger als Treiber angenommen, also mit ihm einen Dienstvertrag geschlossen. Dieser verpflichtete den Verein, die unter seiner Anordnung oder Leitung vorzunehmenden Dienstleistungen des Klägers derart zu regeln, daß eine Gefahr für dessen Leben und Gesundheit so weit ausgeschlossen war, als die Natur seiner Dienste es gestattete. Erfüllten die, welche für den Verein zu handeln berufen waren, diese vertragliche Fürsorgepflicht nicht und kam der Kläger dadurch zu Schaden, so war ihm der Verein ersatzpflichtig. Dann aber war - was das Oberlandesgericht verkannt hat - nach den §§ 54, 714, 427 BGB. auch die Möglichkeit einer gesamtschuldnerischen Haftbarkeit der Mitglieder, also auch des Beklagten, mit dem eigenen Vermögen gegeben.

Auf einen nicht rechtsfähigen Verein finden nach § 54 BGB. die Vorschriften über das Gesellschaftsrecht Anwendung. Der Vorstand ist daher, wenn und soweit ihm im Innenverhältnis die Befugnis zur Geschäftsführung zusteht, im Zweifel auch nach außenhin ermächtigt, die Vereinsmitglieder zu vertreten (§ 714 BGB.). Der Umfang der Vollmacht, d. h. der Berechtigung des Vorstandes, im Einzelfalle für die Vereinsmitglieder handelnd aufzutreten, bestimmt sich nach der Satzung. In ihr findet sie ihre Grundlage und zugleich ihre Schranken. Der Dritte, der mit einem Vereinsvorstand einen Vertrag abschließt, muß sich wie jeder, der sich mit einem Bevollmächtigten in rechtsgeschäftliche Verhandlungen einläßt, nach dem Umfange der Vollmacht in dem angedeuteten Sinne erkundigen, wenn er sich nicht der Gefahr einer Schädigung aussetzen will. Soweit sich der Vorstand aber im Rahmen seiner satzungsmäßigen Befugnisse hält, sind die von ihm für den Verein begründeten Rechte und Pflichten, da dieser ebensowenig wie die Gesellschaft des bürgerlichen Rechtes eine selbständige juristische Persönlichkeit darstellt, tatsächlich Rechte und Pflichten der einzelnen Vereinsmitglieder. Daraus folgt weiter, daß mangels anderweiter Regelung die Vereinsmitglieder für die Vereinsschulden mit ihrem Privatvermögen einzustehen haben.

Nun hindert sie aber nichts, die nachgiebigen Bestimmungen des Gesellschaftsrechts durch das dem Gesellschaftsvertrage gleichstehende Statut abzuändern oder auszuschließen. Deshalb hat im Einklänge mit der Mehrzahl der Schriftsteller... auch das Reichsgericht bereits wiederholt ausgesprochen, daß eine ausdrückliche oder stillschweigende Satzungsbestimmung zulässig und wirksam ist, durch welche die Ermächtigung, die Mitglieder über das Vereinsvermögen hinaus zu verpflichten, dem Vorstande versagt wird (vgl. RGZ. Bd. 63 S. 65, Bd. 74 S.374, Jur. Wochenschr. 1907 S.136 Nr. 16, 1910 S. 227/28 Nr. 2 und Urteil vom 5. Oktober 1916 Rep. VI. 189/16). Bei dem Fehlen einer derartigen ausdrücklichen Vorschrift ist es Sache der Auslegung, aus dem sonstigen Satzungsinhalt, aus dem Vereinszweck, aus der Zahl und dem Stande der Mitglieder, überhaupt aus der Gesamtheit der Umstände zu ermitteln, ob von den Vereinsmitgliedern eine Vollmachtsbeschränkung in dem erörterten Sinne gewollt und erkennbar zum Ausdruck gebracht ist. Sie wird in einer großen, vielleicht in der Mehrzahl der Fälle unschwer zu bejahen sein, aber eine Vermutung zugunsten der Haftungsbeschränkung der Mitglieder besteht nicht. Eine solche Vermutung würde mit dem Wortlaute des § 54 BGB. unvereinbar sein und den Unterschied, welchen der Gesetzgeber hinsichtlich der Rechtsstellung der rechtsfähigen und der nicht rechtsfähigen Vereine nun einmal gemacht hat, teilweise wieder verwischen. Sie würde auch nicht selten, z. B. dann, wenn eine kleine, allerdings dem Wechsel unterworfene Anzahl wohlhabender Personen lediglich zur Verfolgung von Genuß- oder Vergnügungszwecken sich zusammengetan hat und, was nicht immer offenkundig, kein oder nur ein unbedeutendes Vereinsvermögen vorhanden ist, zu Schädigungen der Vereinsgläubiger führen, welche das Gesetz nicht nur nicht gewollt, sondern gerade zu vermeiden beabsichtigt hat. Auch aus dem zweiten Satze des § 54 a. a. O. läßt sich die Vermutung nicht herleiten. Denn er bestimmt nur, daß derjenige, welcher namens eines Vereins handelt, mit seinem Privatvermögen dem Vertragsgegner stets, d. h. auch im Falle der satzungsmäßigen Beschränkung der Vorstandsvollmacht hafte, nicht aber, daß eine solche Beschränkung schlechthin zu unterstellen sei. Von der Pflicht, den Umfang der Mitgliederhaftung in jedem einzelnen Falle an der Hand der einschlägigen Verhältnisse einer Prüfung zu unterziehen, haben auch die oben genannten Urteile des Reichsgerichts den Richter nicht entbinden wollen." ...