RG, 27.03.1917 - II 619/16
Zu der Frage, unter welchen Umständen eine nur zeitweilige Behinderung der Leistung zur gänzlichen Befreiung des Schuldners führt.
Tatbestand
Die Klägerin verkaufte der Beklagten am 6. Juni 1914 3000 Zentner rohen Chilesalpeter zum Preise von 10 M für den Zentner aus Lieferung in Hamburg im Februar, März 1915. Der Vertrag enthielt die Abrede:
"Falls während der sechs Monate, welche dem Beginn der Lieferzeit vorangehen, oder während der Lieferzeit höhere Gewalt - wozu u. a. Erdbeben, Streik, Aussperrung, Krieg, Verfügung von hoher Hand, Blockade zu rechnen ist - die Abladung oder Beförderung von Salpeter behindert, so haben die Verkäufer das Recht, die Lieferzeit als um die nachweisliche Dauer der Behinderung verlängert zu erklären. - In solchem Falle ist der Käufer, wenn er innerhalb 6 Tagen die Verkäufer in den Besitz der entsprechenden Erklärung setzt, berechtigt, zu verlangen, daß für den Fall, daß die Behinderung länger als 4 Wochen andauern sollte, die ursprünglich vereinbarte Lieferzeit gegen einen zu vereinbarenden, monatlich zu zahlenden Preisaufschlag um ein Jahr hinausgeschoben wird."
Am 28. und 29. Oktober 1914 teilte die Klägerin der Beklagten mit, daß durch Ausbruch des Krieges die Abladung und Beförderung von Salpeter behindert sei, weshalb sie die Lieferzeit auf Grund obiger Abrede für verlängert erkläre. Die Erklärung bezog sich nicht nur auf die hier fraglichen 3000 Ztr., sondern auf im ganzen 29000 Ztr. Salpeter, die die Beklagte unter gleichen Bedingungen auf Lieferung im Februar, März und April 1915 von der Klägerin gekauft hatte.
Am 1. April 1916 schrieb die Klägerin der Beklagten, daß sie alle diese Verträge für endgültig aufgehoben erkläre, weil infolge der langen Dauer des Krieges die gesamten wirtschaftlichen Grundlagen, auf denen die Verträge geschlossen und die Verlängerung erklärt wäre, völlig geändert seien. Sie rechtfertigte dies in einem weiteren Schriftstücke vom 5. April 1916, in dem eingehend dargelegt wurde, daß ihre bei Ausbruch des Krieges schwimmenden Zufuhren verloren, die für spätere Zeit abgeschlossenen Käufe und ebenso die auf Jahre hinaus geschlossenen Frachtverträge von den Verkäufern und Befrachtern endgültig aufgehoben seien. Die Beklagte widersprach der Aufhebung der Verträge. Darauf hat die Klägerin mit der vom 11. April datierten Klage beantragt, festzustellen, daß sie von der Pflicht zur Lieferung der in dem Vertrage vom 8. Juni 1914 an die Beklagte verkauften 3000 Ztr. Salpeter frei ist.
Die Beklagte macht hiergegen geltend, die Klägerin habe erst nach Ende des Krieges zu liefern; ob die Lieferung dann unmöglich sein werde, lasse sich nicht voraussehen. Wegen der während des Krieges eingetretenen Verhältnisse könne die Klägerin den Vertrag deswegen nicht aufheben. Was hierüber vorgetragen sei, werde bestritten. Gesetzt aber, die Klägerin wäre berechtigt gewesen, wegen der nach Ausbruch des Krieges und nach ihrer Erklärung vom 28. Oktober eingetretenen Änderung der Verhältnisse den Vertrag aufzuheben, so habe sie dies viel zu spät getan. Alle die Umstände, auf die sie sich berufe, seien schon vor Frühjahr 1915 eingetreten und bekannt geworden. Spätestens im Frühjahr 1915 hätte die Klägerin sich erklären können. Dadurch, daß sie dann noch ein Jahr gewartet habe, habe sie auf das angebliche Recht zum Rücktritt verzichtet.
Der erste Richter erkannte der Klage gemäß. Das Oberlandesgericht wies die Berufung der Beklagten zurück, nachdem es den Inhaber der Klägerin über die tatsächlichen Verhältnisse, mit denen er die Aufhebung des Vertrags rechtfertigt, persönlich vernommen hatte. Die Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg.
Gründe
"Die Klägerin hat durch ihr Schreiben vom 28. Oktober 1914 auf Grund der im Tatbestände wiedergegebenen Vertragsabrede die Abladung und Beförderung von Salpeter durch den Ausbruch des Krieges für behindert erklärt. Dadurch war also die Lieferzeit um die Dauer des Krieges verlängert; die zweimonatige Lieferzeit begann folglich sechs Monate nach dem Ende der kriegerischen Behinderung. Indem die Klägerin dieses im Vertrage vorbehaltene Recht der Verschiebung der Lieferzeit ausübte, gab sie keineswegs das aus dem Gesetze sich ergebende Recht auf, die Lieferung gänzlich zu verweigern, wenn die infolge der kriegerischen Ereignisse notwendige Verschiebung das Wesen der Leistung in dem Maße änderte, daß die nachträgliche Lieferung nicht mehr als eine sinngemäße Erfüllung des ursprünglichen Vertrags gelten könnte. Aus dem Vertrag ist durchaus nicht zu entnehmen, daß die vorbehaltene Verschiebung der Lieferzeit das Recht, die Leistung später ganz zu verweigern, ausschließen sollte. Die Tatsache, daß die Parteien bei Vereinbarung der Klausel äußersten Falles mit einem Aufschube von einem Jahre gerechnet haben - wie das Berufungsgericht ohne Rechtsirrtum ausspricht - läßt vielmehr auf eine entgegengesetzte Absicht schließen.
Tatsächlich ist die Lieferung weit länger als ein Jahr behindert gewesen, und es haben sich in der Zwischenzeit nach der Feststellung des Berufungsgerichts alle in Betracht kommenden Verhältnisse so völlig geändert, daß eine Lieferung, die nach dem noch nicht absehbaren Ende des Krieges nachgeholt werden würde, für keine Partei die beim Vertragsschluß erwartete und gewollte Leistung sein würde.
Bei diesem Ausspruch ist das Berufungsgericht ersichtlich der eingehenden Darstellung der Klägerin gefolgt, die die mit sachkundigen Handelsrichtern besetzte erste Instanz für im wesentlichen richtig erklärt, und die der Inhaber des Geschäfts noch in persönlicher Vernehmung bestätigt hatte. Ein Verstoß gegen die Regeln des Prozeßrechts ist hierin nicht enthalten. Das Berufungsgericht war sehr wohl in der Lage, seine Überzeugung auf die Sachkunde der Handelsrichter und auf die persönliche Darstellung des Inhabers der Klägerin zu gründen, zumal vieles davon gerichtskundig ist, und die Beklagte den Einzelheiten nur ein unsubstantiiertes Bestreiten entgegengesetzt hatte. Wie diese Darstellung ergibt, bestand für die Klägerin im Oktober 1914 noch die Hoffnung, daß, wenn der Krieg in einigen Monaten endete, die in neutralen Häfen festliegenden Ladungen ihr zugehen, die mit auswärtigen Verkäufern geschlossenen Verträge erfüllt werden, ebenso die auf lange Zeit hinaus mit Nachholungsklausel geschlossenen Frachtverträge von den Reedereien ausgeführt werden würden. In der Folgezeit sind diese Möglichkeiten geschwunden. Die schwimmenden Ladungen sind in Feindes Hand gefallen oder der Klägerin durch das Eingreifen der Bankiers, die die Konnossemente in Händen hatten, entzogen werden; die Kaufverträge sind aufgehoben; endlich haben auch die deutschen Reedereien im Anfange des Jahres 1916 ihre Frachtverträge für hinfällig erklärt und sind laut den beigebrachten Schiedssprüchen im April und Juni 1916 damit durchgedrungen. Danach sind offenbar alle Vorbereitungen, die die Klägerin für Erfüllung ihrer Lieferpflicht getroffen hatte, vereitelt. Müßte sie nach dem Ende des Krieges dennoch erfüllen, so müßte sie die Ware unter jetzt noch ungewissen, jedenfalls aber im Vergleich zur vertraglichen Lieferzeit völlig veränderten Verhältnissen beschaffen. Die Leistung wäre für sie infolge des notwendig gewordenen Aufschubs eine ganz andere. Das gleiche gilt für die Beklagte. Sie würde die Ware für den Handelsbedarf, für den sie gekauft hatte, nicht mehr verwenden können. Wenn sie auch mit gutem Grunde glauben mag, daß sie ihren Vorteil dabei finden würde, so müßte sie doch die Ware unter völlig veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen verwerten. Gesetzt, die Ware würde sechs Monate nach dem noch nicht absehbaren Ende des Krieges geliefert, so könnte dies also mit Rücksicht auf die Käuferin wie auf die Verkäuferin nicht mehr als eine Erfüllung des im Juni 1914 geschlossenen Kaufes gelten. Daß die Veränderung der Verhältnisse, die eine sinngemäße Vertragserfüllung unmöglich macht, erst nach der Erklärung vom 28. Oktober 1914 eingetreten ist, liegt auf der Hand. Die Klägerin behauptet daher mit Recht von der Verbindlichkeit befreit zu sein.
Auch der Einwand der Beklagten, daß die Klägerin sich hierauf nicht mehr berufen könne, weil sie mindestens um ein Jahr zu spät das Abgehen vom Vertrag erklärt habe, ist unbegründet. Denn das Berufungsgericht hat, dem Vorbringen der Klägerin folgend, ohne Rechtsirrtum festgestellt, daß die Änderung der Verhältnisse, die eine nachträgliche Vertragserfüllung ausschließt, erst ganz allmählich eingetreten ist, indem nach und nach die schwimmenden Ladungen von den Bankiers, die sie bevorschußt hatten, verkauft wurden oder in Feindes Hand fielen, indem ferner die noch schwebenden Verträge annulliert wurden und schließlich im Frühjahr des Jahres 1916 die deutschen Reedereien ihre langsichtigen Frachtverträge aufsagten, wodurch der Klägerin die Möglichkeit verloren ging, Ware zu den Frachten, mit denen sie bei Abschluß ihrer Verkäufe gerechnet hatte, nach Deutschland zu bringen. Es ist klar, daß erst die Gesamtheit dieser Umstände die Klägerin nötigte und berechtigte, sich von ihren Verkäufen loszusagen. Da diese Gesamtheit der Umstände erst im Anfange des Jahres 1916 vorhanden gewesen ist, so kann nicht die Rede davon sein, daß die Klägerin ihre Erklärung schuldhaft verzögert hätte; denn auf einen Zeitunterschied von 2 bis 3 Monaten kann es, wie das Berufungsgericht richtig ausspricht, mit Rücksicht auf die Länge der in Betracht kommenden Zeiträume und die Wichtigkeit der Entschließung nicht ankommen.
Die Lossagung der Klägerin vom Vertrag ist demnach sowohl sachlich begründet, wie auch rechtzeitig kundgegeben."