RG, 14.11.1898 - IV 144/98
Zur Auslegung des § 714 C.P.O. Gewöhnliche Zeit der Reife.
Tatbestand
Der Kläger hat den Beklagten aus einem Amtsversehen, welches dieser bei Erledigung eines vom Kläger empfangenen Pfändungsauftrages begangen haben soll, auf Ersatz des ihm dadurch erwachsenen Schadens in Höhe von 82,41 M in Anspruch genommen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, dagegen auf die Berufung des Klägers das Oberlandesgericht den Beklagten nach dem Klagantrage verurteilt.
Die Revision des Beklagten ist zurückgewiesen aus folgenden Gründen.
Gründe
"Das Berufungsgericht stellt zunächst in bedenkenfreier Weise fest, daß der Beklagte am 13. Juni 1896 vom Kläger beauftragt worden ist, wegen einer vollstreckbaren Restforderung desselben an den Kohlenhändler S. zu R. von 114,80 M den auf dem Halme stehenden Roggen des Schuldners schleunigst zu pfänden, daß der Beklagte aber diesen Auftrag erst am 23. desselben Monats, und zwar nicht aus Bedenken wegen der gesetzlichen Zulässigkeit einer früheren Pfändung, sondern lediglich aus Saumseligkeit, ausgeführt hat. Mit Recht hat der Berufungsrichter in dieser Handlungsweise des Beklagten ein Amtsversehen gefunden.
Nach der weiteren unangefochtenen Feststellung des Oberlandesgerichtes hat die vom Beklagten am 23. Juni 1896 vorgenommene Pfändung, da der Roggen bereits am Tage zuvor für einen anderen Gläubiger des S. gepfändet war, nur noch als Anschlußpfändung erfolgen können, ist aber für den Kläger erfolglos geblieben, indem der bei der Versteigerung des Roggens erzielte Erlös von 82,41 M lediglich dem anderen Pfandgläubiger zu gute gekommen ist. Danach rechtfertigt sich der Schluß des Berufungsgerichtes, daß dem Kläger ein Schade von gleicher Höhe erwachsen ist.
Das Oberlandesgericht nimmt schließlich an, daß dieser Schade durch obiges Amtsversehen des Beklagten verursacht worden ist. Um diesen Punkt bewegt sich im wesentlichen der vorinstanzliche Streit der Parteien und auch die jetzige Revisionsbeschwerde des Beklagten. Der letztere leugnet nämlich die Ursächlichkeit mit Rücksicht darauf, daß eine frühere Pfändung des Roggens, als geschehen, gemäß § 714 C.P.O. ungesetzlich gewesen sein würde. Das Berufungsgericht hat diesen Rechtsbehelf aus zutreffenden Erwägungen verworfen. Der § 714 a. a. O. schreibt vor, daß die Pfändung von Früchten, die vom Boden noch ungetrennt sind, nicht früher, als einen Monat vor der gewöhnlichen Zeit der Reife erfolgen darf. Das Berufungsgericht ist nun der Meinung, daß unter der "gewöhnlichen Zeit der Reife nicht die wirkliche Reifezeit des einzelnen Jahres für die betreffende Frucht auf dem einzelnen Grundstücke zu verstehen sei, da diese Reife von elementaren Einflüssen abhänge und sich nicht mit Sicherheit voraus bestimmen lasse, sondern diejenige Reifezeit, welche sich aus dem Durchschnitt einer Reihe von Jahren nach Beschaffenheit der fraglichen Fruchtgattung und der örtlichen Verhältnisse für eine größere Gruppe von Grundstücken der Feldmark ergebe und den Ortsbewohnern allgemein bekannt und auch für den Gerichtsvollzieher durch sachgemäße Erkundigung festzustellen sei. Das Berufungsgericht hat dann auf Grund des eidlichen Zeugnisses des Gemeindevorstehers von R. für festgestellt erachtet, daß dort die gewöhnliche Reifezeit für Roggen am 20. Juli eintrete, und dem gegenüber die Behauptung des Beklagten, daß ihm von Bewohnern eines Nachbarortes ... eine spätere Reifezeit angegeben sei, für belanglos erklärt. Die Revision bekämpft die Auslegung, welche das Berufungsgericht dem § 714 a. a. O. gegeben hat. Dieselbe ist indes zu billigen. Sie hat den Wortlaut des § 714, den Gegensatz des § 725 und die Entstehungsgeschichte des § 714 für sich. In letzterer Beziehung ergeben die Protokolle der Reichsjustizkommission, vgl. Hahn, S. 385. 386, daß in dem Entwurfe zu § 714 der hier fragliche Passus lediglich "vor der Reife" gelautet hat, daß derselbe von mehreren Seiten als zu unbestimmt bemängelt ist, insofern der Eintritt der Reife vom Wetter abhänge, also sich nicht bestimmt voraussehen lasse, daß darauf von mehreren Mitgliedern unter Billigung des Vertreters der Bundesregierungen die Änderung jenes Passus in "vor der gewöhnlichen Zeit der Reife" vorgeschlagen, und dieser Vorschlag angenommen worden ist. Hieraus läßt sich folgern, daß der Gesetzgeber mit vorstehender Änderung den Zweck verfolgt hat, für die zeitliche Zulässigkeit der Pfändung von Früchten auf dem Halm einen im voraus verwertbaren, weil auf der erfahrungsmäßigen Durchschnittsreife beruhenden, Maßstab zu geben. Diese Auslegung wird auch in den Kommentaren von Struckmann-Koch (5. Aufl., Bem. 4), von v. Wilmowski-Levy (7. Aufl., Bem. 2), von Gaupp (3. Aufl., Bem. III.) und von Förster (Bem. 4) vertreten, und es steht ihr der § 83 der preußischen Geschäfts-Anweisung für die Gerichtsvollzieher, vgl. Helf-Siméon, Erläuterungen dazu, 3. Aufl., nicht entgegen." ...