RG, 29.04.1890 - II 56/90
Kann im Gebiete des französischen Rechtes der durch den Betrieb einer gewerblichen Anlage beschädigte Besitzer eines Nachbargrundstückes auf Ersatz des erst in Zukunft entstehenden Schadens auch in dem Falle klagen, wenn ihm die Klage auf Einstellung des schädigenden Betriebes zusteht?
Tatbestand
In einem Schuppen des Beklagten ist eine Dampfsägerei angelegt, deren Betrieb ein so bedeutendes Geräusch und Erschütterungen verursacht, daß die Besitzerin des anstoßenden Wohnhauses in hohem Grade belästigt, der Aufenthalt für die Mieter unerträglich und die Ertragsfähigkeit des Hauses erheblich vermindert wird. Dieselbe klagte bei dem Landgerichte zu Metz mit dem Antrage, das Gericht wolle den Besitzer der Anlage verurteilen, insolange die mit dem Dampfsägebetriebe verbundenen Belästigungen fortdauerten, der Klägerin einen jährlichen Schadensersatz von 150 M zu bezahlen. Das Landgericht erkannte im wesentlichen nach dem Klagantrage; auf Berufung des Beklagten wurde das Urteil aufgehoben und auf Klagabweisung erkannt. Das Reichsgericht hob auf Revision der Klägerin das Berufungsurteil auf.
Gründe
"Der Berufungsrichter hat in Anschließung an das Urteil des II. Civilsenates, vgl. Entsch. des R.G.'s in Civils. Bd. 11 S. 345, die Klage abgewiesen, weil der Ersatz zukünftigen Schadens nur unter gewissen Voraussetzungen, jedenfalls aber dann nicht durch Klage gefordert werden dürfe, wenn die Klage auf Beseitigung des schadenbringenden Betriebes gegeben sei. Der Senat hat indessen von dieser Rechtsauffassung abgehen zu müssen geglaubt.
Grundsätzlich ist zwar nicht zu bestreiten, daß die Anordnung von Vorbeugungsmaßregeln für die Zukunft nicht zu den Aufgaben der Gerichte gehört, für die Beurteilung des Klagebegehrens vielmehr der im Augenblicke der Klagerhebung vorliegende Thatbestand maßgebend ist. Die fortschreitende Rechtsentwickelung hat jedoch aus Gründen der Zweckmäßigkeit, insbesondere zu dem Zwecke, der Vervielfältigung der Prozesse entgegenzutreten, diese Schranken für eine Reihe von Fällen durchbrochen. Die Civilprozeßordnung gestattet in §. 231 die alsbaldige Feststellung eines Rechtsverhältnisses, obwohl dessen Wirkungen erst in der Zukunft eintreten, und trifft in den §§. 671. 687 Fürsorge für den Fall, daß die Vollstreckung eines Urteiles von dem durch den Gläubiger zu beweisenden Eintritte einer Thatsache abhängt. In gleicher Weise gestatten das Haftpflichtgesetz, das Berggesetz §. 137 und die Gewerbeordnung §. 26 die Verurteilung zum Ersatze desjenigen Schadens, welcher unter gewissen Voraussetzungen erst in Zukunft eintreten wird. Allerdings kann eine Entschädigung nicht für den Fall gefordert werden, daß der Beklagte in der Zukunft eine unrechte That (Artt. 1382 flg. des bürgerl. Gesetzbuches) erst begehen werde. Im vorliegenden Falle waren aber die schadenbringende Ursache und der schädigende Erfolg im Augenblicke der Klagerhebung schon vorhanden. Wenn auch das Bestehen der Dampfmaschine und sonstigen Einrichtungen auf die Besitzung der Klägerin keine Wirkungen ausübte, so bestanden diese Anlagen doch nur zu dem Zwecke, um betrieben zu werden und Nutzen zu bringen, und sie sind thatsächlich sowohl vor, als nach der Klagerhebung betrieben worden. Die Klage richtet sich daher nicht sowohl gegen eine künftige unrechte That des Beklagten, als gegen die voraussehbare Fortsetzung eines bereits vorhandenen Zustandes und kann in dieser Beschränkung nicht für unzulässig erklärt werben.
Die fernere Ausführung des Berufungsurteiles, daß ein Schadensersatz nicht gefordert werden könne, wo die negatorische Klage auf Beseitigung gegeben sei, stellt sich allerdings als die Folge des von der Rechtsprechung und Wissenschaft anerkannten Grundsatzes dar, daß ein Beschädigter überall den Ersatz zu fordern nicht berechtigt sei, wo ihm die Möglichkeit zur Abwehr des Schadens gegeben ist. Daß aber dieser Satz auf schadenbringende, gewerbliche Anlagen keine unbedingte Anwendung finden soll, wird zu Gunsten des Gewerbfleißes und der allgemeinen Wohlfahrt durch §. 2S der deutschen Gewerbeordnung ausdrücklich bestimmt. Einer mit obrigkeitlicher Genehmigung errichteten, gewerblichen Anlage gegenüber kann der Besitzer eines benachbarten Grundstückes, welchem nach dem bestehenden Rechte zur Abwehr der benachteiligenden Einrichtungen die Privatklage gegeben wäre, niemals die Einstellung des Betriebes fordern, sondern er hat nur eine Klage auf Verbesserung der Einrichtungen und, wo solche nicht ausführbar ist, auf Schadloshaltung. Diese Bestimmung wurde, wie die Verhandlungen des Reichstages ergeben, für notwendig erachtet, weil es mit dem allgemeinen Wohle unvereinbar sei, daß der möglicherweise nur in geringem Maße benachteiligte Grundstücksbesitzer die Einstellung eines Betriebes fordern dürfe, welcher Tausenden von Arbeitern Unterhalt gewähre.
Im vorliegenden Falle handelt es sich nun allerdings nicht um eine obrigkeitlich genehmigte Anlage; nach den von dem Berufungsurteile angeführten, für Elsaß-Lothringen geltenden Bestimmungen war eine Genehmigung der Behörde für die in Frage stehende Dampfsägerei überhaupt nicht erforderlich. Dessenungeachtet kann die Entschädigungsklage nicht für unzulässig erachtet werden, weil der Beklagte kein Interesse, daher auch kein Recht hat, sich auf die Möglichkeit der negatorischen Klage zu berufen; denn es steht ihm frei, durch Einstellung des Betriebes den Klagegrund für das Begehren des künftigen Schadens und damit die Klage selbst zu beseitigen. Übrigens wäre es auch in einem solchen Falle dem Beschädigten, welcher sich unter Verzicht auf das weitergehende Recht mit dem Schadensersatze begnügen will, keineswegs benommen, seinen Zweck auf einem Umwege zu erreichen, indem er ein Urteil auf Betriebseinstellung erwirken und im Falle der Nichterfüllung Ersatz des Schadens fordern könnte.
Hiernach erschien ein Abgehen von der früheren Entscheidung umsomehr geboten, als dieselben Gründe, welche zum Erlasse des §. 26 der Gewerbeordnung geführt haben, auch in Fällen vorliegen können, in welchen eine Anlage der Genehmigung der Behörde nicht bedarf. Auch die französischen Gerichte und Schriftsteller haben sich für die Zulässigkeit einer Schadensklage gegenüber gewerblichen Anlagen einstimmig ausgesprochen, ohne zwischen dem obrigkeitlich genehmigten und dem nicht genehmigten Betriebe zu unterscheiden.
Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung über den Umfang und die Höhe des Ersatzanspruches in die Berufungsinstanz zurückzuverweisen."