RG, 29.04.1880 - III 8/80
Ist die Beschwerdeschrift von einem bei dem beschwerenden Gericht oder von einem beim Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsanwalt zu unterzeichnen?
Tatbestand
"Die von dem Beklagten gegen den Beschluß des Landgerichtes zu Wiesbaden vom 2. Dezember 1879 erhobene sofortige Beschwerde wurde bei diesem Gerichte von einem bei demselben zugelassenen Rechtsanwalte durch Einreichung einer von ihm als Bevollmächtigten des Beklagten unterzeichneten Beschwerdeschrift eingelegt. Das Oberlandesgericht zu Frankfurt a. M. verwarf die Beschwerde durch Beschluß vom 26. Januar 1880 als unzulässig, weil zur Einreichung der für das Oberlandesgericht bestimmten Beschwerdeschrift nur ein bei diesem Gerichte zugelassener Rechtsanwalt befugt gewesen wäre. Die hiergegen an das Reichsgericht gerichtete weitere Beschwerde ist sowohl für zulässig, als für begründet zu erachten.
Es ist zwar von einem Civilsenate des Reichsgerichtes durch Beschluß vom 29. Dezember 1879 i. S. Sch. wider Gr. ebenso entschieden worden, wie im vorliegenden Falle von dem Oberlandesgerichte.
Gründe
Dagegen sind die vereinigten Civilsenate des Reichsgerichtes, an welche die Sache gemäß §. 137 des Gerichtsverfassungsgesetzes verwiesen worden ist, der Ansicht, daß in den Fällen, in welchen die Einlegung der Beschwerde durch einen Rechtsanwalt überhaupt erforderlich ist, das Rechtsmittel der Beschwerde gesetzmäßig eingelegt erscheint, wenn die Beschwerdeschrift
- bei dem Gerichte, gegen dessen Entscheidung Beschwerde erhoben wird, durch einen bei diesem Gerichte zugelassenen Rechtsanwalt, oder
- bei dem Beschwerdegerichte - soweit die Beschwerde hier eingelegt werden kann - durch einen bei letzterem Gerichte zugelassenen Rechtsanwalt
Die Entscheidung der Frage, welche Rechtsanwälte befugt seien, als Bevollmächtigte der beschwerdeführenden Partei die Beschwerdeschrift einzureichen, ist nicht aus den Vorschriften über die Förmlichkeiten des Rechtsmittels der Beschwerde (§. 530 ff. C.P.O.), sondern aus den auf Prozeßhandlungen überhaupt bezüglichen Vorschriften über die Nötigung der Parteien, sich durch Rechtsanwälte als Bevollmächtigte vertreten zu lassen (§. 74 C.P.O), und die Befugnis der Rechtsanwälte zu solcher Vertretung (§. 27 der Rechts-Anwalts-Ordnung) zu entnehmen. Nach diesen Vorschriften sind die Parteien befugt und genötigt, soweit der Anwaltszwang reicht, auch zur Einreichung der Beschwerdeschrift behufs Einlegung des Rechtsmittels der Beschwerde sich eines bei dem Prozeßgerichte zugelassenen Rechtsanwaltes zu bedienen. Als Prozeßgericht im Sinne des §. 74 C.P.O. erscheint dasjenige Gericht, bei welchem der Prozeß anhängig oder durch die vorzunehmende Handlung anhängig zu machen ist. Sind aber verschiedene Abschnitte desselben Prozesses bei verschiedenen Gerichten zu erledigen, so kann bezüglich jeder einzelnen Prozeßhandlung nur dasjenige Gericht, vor welches diese Handlung gehört, als das Prozeßgericht im Sinne des §. 74 angesehen werden. Daher erscheint bezüglich der Einlegung der Beschwerde, welche nach §§. 532. 540 Abs. 2 C.P.O. bald bei dem Gerichte, gegen dessen Entscheidung Beschwerde geführt wird, bald bei dem Beschwerdegerichte stattfindet, entweder das erstere oder das letztere als Prozeßgericht, je nachdem die Beschwerde hier oder dort eingelegt wird. Hieraus ergiebt sich, daß die Beschwerdeschrift in ersteren Falle von einem bei dem beschwerenden Gerichte, im anderen Falle von einem bei dem Beschwerdegerichte zugelassenen Rechtsanwalte einzureichen ist.
Anders würde man entscheiden müssen, wenn das erstgedachte Gericht die Beschwerdeschrift nur anstatt des Beschwerdegerichtes, als dessen Organ, für letzteres entgegenzunehmen und weiterzubefördern hätte. Unter dieser Voraussetzung würde die Annahme gerechtfertigt sein, daß die Einreichung bei dem beschwerenden Gerichte nichts anderes sei, als eine Einreichung bei dem Beschwerdegerichte, mithin auch nur durch einen bei letzterem zugelassenen Rechtsanwalt erfolgen könne. In dieser Weise aber hat die Civilprozeß-Ordnung die Stellung des Gerichtes, gegen dessen Entscheidung Beschwerde erhoben wird, nicht bestimmt. Insbesondere geht aus der Vorschrift des §. 534, wonach dasselbe die bei ihm eingelegte Beschwerde zu prüfen, der für begründet erachteten Beschwerde selbst abzuhelfen und nur die von ihm für unbegründet erachteten Beschwerden dem Beschwerdegerichte vorzulegen hat, mit Bestimmtheit hervor, daß ersteres Gericht die Beschwerde in eigenem Namen und vermöge seiner gesetzlich bestimmten Zuständigkeit, nicht aber in Vertretung des Beschwerdegerichtes für letzteres entgegennimmt. Ist dem Gerichte, gegen dessen Entscheidung Beschwerde erhoben wird, diese Stellung in Beziehung auf die Beschwerde überhaupt zugewiesen, so nimmt es dieselbe auch bei der nur als Unterart der Beschwerde erscheinenden sofortigen Beschwerde ein, obgleich der besondere aus §. 534 zu entnehmende Grund nach §. 540 Abs. 3 bei der sofortigen Beschwerde nicht zutrifft.
Ein Bedenken gegen die im Vorstehenden begründete, auch in der Litteratur nicht unvertretene Ansicht (vergl. H. Meyer, Anleitung zur Prozeßpraxis nach der Civilprozeßordnung, vom 30. Januar 1877, S. VI, 99, 206), könnte daraus entnommen werden, daß die Motive zu den §§. 508 bis 510 des Entwurfes der Civilprozeß-Ordnung davon auszugehen scheinen, daß die Beschwerdeschrift als für das Beschwerdegericht bestimmt von einem bei letzterem zugelassenen Anwalte eingereicht werden müsse. Sie bemerken:
"Die Beschwerde wird nach §. 508 Abs. 2 entweder durch eine Beschwerdeschrift oder in den dort zugelassenen Fällen zum Protokolle des Gerichtsschreibers eingelegt. Ersternfalls ist die Beschwerdeschrift - weil für das Beschwerdegericht, also für ein Gericht höherer Ordnung bestimmt - nach der allgemeinen Regel des §. 72 (Norddeutsche Protokolle III S. 1560) eine Anwaltsschrift."
Es ist indessen dieser Bemerkung ein erhebliches Gewicht um so weniger beizulegen, als dieselbe nur davon handelt, ob die Beschwerdeschrift von einem Rechtsanwalte einzureichen sei, nicht aber von der hier zu entscheidenden Frage, welche Rechtsanwälte zur Einreichung derselben befugt seien, und da ferner dieselbe auch in betreff der ersteren Frage ungenau ist, indem man eine in den Verhandlungen über den sogenannten norddeutschen Entwurf der Civilprozeßordnung vorkommende und nach den Bestimmungen dieses Entwurfes über die Beschwerde in amtsgerichtlichen Sachen zutreffende Bemerkung unverändert in die Motive des dem Reichstage vorgelegten Entwurfes aufgenommen hat, obgleich sie nach den Bestimmungen des letzteren Entwurfes bezüglich der Beschwerde in amtsgerichtlichen Sachen nicht zutrifft.
Andererseits ergiebt sich eine Unterstützung der hier gebilligten Ansicht aus §. 41 der Gebührenordnung für Rechtsanwälte, welcher bestimmt, daß in der Instanz der an eine Notfrist nicht gebundenen Beschwerde dem Rechtsanwalte die Prozeßgebühr nicht zusteht, wenn ihm dieselbe in der Instanz zustand, in welcher die angefochtene Entscheidung ergangen ist. Es ist nicht, anzunehmen, daß bei der hieraus ersichtlichen Unterstellung der Möglichkeit eines Handelns des beim beschwerenden Gerichte zugelassenen Rechtsanwaltes in der Beschwerdeinstanz ausschließlich an die selteneren Fälle gedacht worden sei, in welchen ein bei dem Beschwerdegerichte zugelassener Rechtsanwalt bei dem Gericht, gegen dessen Entscheidung Beschwerde erhoben ist, gehandelt und Prozeßgebühr zu fordern hat, wie es z. B. im amtsgerichtlichen Verfahren und in den Fällen der §§. 10 und 11 der Rechtsanwaltsordnung vorkommen kann. Ist der §. 41 aber auf diese Fälle nicht beschränkt, so ergiebt sich daraus ein gesetzliches Anerkenntnis der Möglichkeit, daß der beim beschwerenden Gerichte zugelassene Rechtsanwalt, welcher in der Instanz gehandelt hat, in welcher die angefochtene Entscheidung ergangen ist, auch in der Beschwerdeinstanz handelt, obwohl er beim Beschwerdegerichte nicht zugelassen ist.,
Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß auch in solchen Fällen, in welchen nach den Reichsgesetzen die Berufung bei dem Gerichte erster Instanz durch Einreichung einer Berufungsschrift einzulegen ist, nämlich in Konsularsachen nach §. 20 des Reichsgesetzes vom 10. Juli 1879 und in Patentsachen nach §. 32 des Patentgesetzes vom 25. Mai 1877 in Verbindung mit §. 14 der Kaiserlichen Verordnung vom 1. Mai 1878, die Einreichung der Berufungsschrift durch einen bei dem Berufungsgerichte zugelassenen Rechtsanwalt nicht verlangt wird.
Aus diesen Gründen ist die angefochtene Entscheidung für nicht gerechtfertigt und die weitere Beschwerde für begründet zu erachten, mithin die an das Oberlandesgericht gerichtete sofortige Beschwerde dem Antrage des Beschwerdeführers gemäß als gesetzmäßig eingelegt zu erklären."