RG, 04.06.1889 - II 106/89
Haften mehrere, welche gemeinschaftlich eine unrechte That oder ein Versehen (Artt. 1382. 1383 des bürgerl. Gesetzbuches) verüben, solidarisch im Sinne der Artt. 1200 flg. des bürgerl. Gesetzbuches? Unter welchen Voraussetzungen findet gegen jeden derselben eine Klage auf Ersatz des ganzen Schadens statt?
Aus den Gründen
"Die für das Revisionsgericht maßgebende Feststellung des Berufungsgerichtes geht dahin, daß mehrere Ergersheimer Jungen, und darunter G. Sch., sich zu gemeinsamem Handeln und mit dem Vorsatze verbunden haben, die ihnen gegenüberstehenden Dachsteiner Jungen durch Steinwürfe zu verletzen, daß jene Jungen auch Steine nach den anderen geworfen, bezw. geschleudert haben, daß von einem dieser Steine der junge L. in das Auge getroffen und desselben verlustig geworden, daß aber dieser schwere Erfolg von den zum Werfen Verbundenen nicht gewollt gewesen ist. Aus dieser Feststellung folgt nun allerdings kein Solidaritätsverhältnis im Sinne der Artt. 1200 flg. des bürgerl. Gesetzbuches. Ein solches wird gemäß Art. 1202 nicht vermutet, es wird überhaupt nur anerkannt, wenn es ausdrücklich verabredet oder durch eine gesetzliche Vorschrift bestimmt ist. Es fehlt aber -- abgesehen von dem hier nicht anwendbaren Art. XV des Landesgesetzes vom 30. August 1871 -- eine gesetzliche Vorschrift, wodurch diejenigen, welche gemeinsam eine unrechte That (Art. 1382 des bürgerl. Gesetzbuches) verüben oder eine Fahrlässigkeit (Art. 1383) sich zu schulden kommen lassen, für solidarisch haftbar erklärt werden. Die in der Doktrin gemachten Versuche, gleichwohl ein Solidarverhältnis zur Anerkennung zu bringen, entbehren nicht nur der gesetzlichen Unterlage, sondern sie verstoßen auch gegen den Art. 1202 a. a. O. und ergiebt sich deren Haltlosigkeit daraus, daß sie zur Annahme einer dem Gesetze fremden, besonderen Art- der Solidarität (solidarité imparfaite) führten, weil man erkannte, daß auf solche Fälle nicht alle im Gesetze für die Solidarität gegebenen Vorschriften, nicht z. B. die Artt. 1205. 1206. 1207. 1209. 1210. 1285 paßten. Daraus aber, daß eine Solidarität der vom Gesetze geregelten Art nicht anerkannt werden kann, folgt jedoch nicht, daß die Haftung der zu einer unrechten That Verbundenen für den bewirkten Schaden stets zu teilen sei, daß nicht vielmehr dann jeder für das Ganze in Anspruch genommen werden könne, wenn schon in bezug auf ihn allein -- ganz abgesehen von der Mitwirkung Anderer -- die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen der Haftung aus Artt. 1382 oder 1383 gegeben sind. Trifft dies zu, so liegt, wie in dem Falle, wenn von mehreren Personen jede für sich dieselbe Leistung ganz verspricht, gegen sie also die betreffende Vertragsklage (z. B. wegen Übernahme und Nichterfüllung eines Auftrages) auf die ganze Leistung begründet ist, ein rein thatsächliches Verhältnis vor, kraft dessen dem Gläubiger deshalb eine Mehrzahl von Schuldnern des Ganzen gegenübersteht, weil in bezug auf jeden die Verbindlichkeit infolge seines Thuns, seines Unterlassens oder seiner Zusage begründet ist. Ein solches aus der Natur der Sache sich ergebendes Verhältnis, welches lediglich darauf beruht, daß jeder von den mehreren für sich allem auf das Ganze obligiert ist, bedarf keiner besonderen gesetzlichen Regelung. Dasselbe ist, was die Haftung aus den Artt. 1382. 1383 betrifft, überall anzuerkennen, wenn und weil die Thatsache vorliegt, daß gegen den Beklagten, völlig abgesehen von Anderen, welche gleichfalls verklagt werden könnten, die Voraussetzungen der gedachten Artikel gegeben sind. Diesen richtigen Standpunkt nehmen auch verschiedene französische Rechtslehrer ein, insbesondere Rodière, De la solidarité indem er N. 50 sagt:
"Mais il n'est pas question ici de cette solidarité (Art. 1200), et le pouvoir du juge de prononcer la solidarité dans le cas qui nous occupe résulte fort clairement, à nos yeux, de l'art 1382 c. c. suivant lequel chacun est responsable du dommage c'est à dire évidemment de l'entier dommage qu'il cause à autrui par son fait. On ne s'expliquerait pas en effet que la resonsabilité pût dommageable."1
Nach der vorausgeschickten thatsächlichen Feststellung des Berufungsgerichtes ist nun aber die Voraussetzung gegeben, daß G. Sch. auf Grund der Artt. 1382. 1383 für den eingetretenen Erfolg haftbar erklärt werden muß. Die Verbindung zum gemeinsamen Handeln mit Anderen und mit dem Willen, eine Verletzung zuzufügen, und das mit diesem Vorsatze geschehene Werfen mit Steinen sind eine unrechte That, und, wenn auch der eingetretene schwere Erfolg nicht beabsichtigt sein mochte, so ist er dem Sch. doch als Fahrlässigkeit anzurechnen, für deren Folgen er gemäß Art. 1383 gleichfalls einzustehen hat. Daß nicht erwiesen ist, daß gerade ein von Sch. geschleuderter Stein den Erfolg herbeigeführt habe, kommt nicht in Betracht, denn die eingetretene Beschädigung ist nicht lediglich auf den einzelnen Wurf zurückzuführen, sondern hat ihren ersten Grund und Anlaß in der Verbindung der mehreren Jungen mit dem Vorsatze, zu verletzen, und in deren gemeinsamer und gleichzeitiger Thätigkeit zu diesem Zwecke. Hierdurch hat jeder das Thun des anderen auch zu dem seinigen gemacht, wenigstens insolange, als nicht feststeht, durch wessen Wurf der Erfolg ausschließlich bewirkt worden ist. Es ist ferner für die civilrechtliche Haftung unerheblich, daß nach §. 227 St.G.B. eine geringere als die nach dem eingetretenen Erfolge (§. 224) zu bemessende Strafe angedroht ist.
Erscheint hiernach die Haftung des minderjährigen, noch unter der Obhut seines Vaters stehenden G. Sch. für den ganzen Schaden begründet, so ergiebt sich die Haftung des Vaters aus Art. 1384 des bürgerl. Gesetzbuches."
- 1. Vgl. auch Loison, Traité de la solidarité N. 302. 304. Von den gemeinrechtlichen Schriftstellern vgl. insbesondere Savigny, Obligationenrecht Bd. 1 S. 141 und §. 20.