RG, 03.04.1889 - V 367/88
1. Was ist unter einem bisher unbebauten Straßenteile im Sinne des §. 15 des Gesetzes vom 2. Juli 1875 zu verstehen?
2. Verhältnis des §. 12 zu §. 15 dieses Gesetzes.
Tatbestand
Nachdem in erster Instanz sowohl Klage als Widerklage abgewiesen worden, ist auf die Berufung der Klägerinnen das Urteil erster Instanz dahin abgeändert worden, daß die Beklagte verurteilt wird, den Klägerinnen den im besonderen Verfahren zu ermittelnden Schaden zu ersetzen, welcher ihnen durch Verweigerung des Baukonsenses bezüglich der Bebauung ihres in der Lothringerstraße Nr. 76 belegenen Grundstückes erwachsen ist; dagegen ist die gegen Abweisung der Widerklage -- mit welcher die Beklagte unentgeltliche und pfandfreie Auflassung des zur bebauungsplanmäßigen Verbreiterung der Lothringerstraße bestimmten Teiles des gedachten Grundstückes verlangte -- eingelegte Berufung der Beklagten zurückgewiesen worden.
Die Revision der Beklagten wurde zurückgewiesen.
Gründe
"Der mit der Widerklage erhobene Anspruch, welcher, wenn begründet, den Entschädigungsanspruch der Klägerinnen ausschließt, beruht auf §. 15 des Gesetzes vom 2. Juli 1875 und dem diesem erlassenen Ortsstatute II von Berlin vom 19. März 1877, dessen §.14, soweit er hier in Betracht kommt, lautet:
Von den Grundstücken, welche an einer zur Zeit des Erlasses dieses Statutes schon vorhandenen, bisher unbebauten Straße oder einem solchen Straßenteile liegen, ist, sobald diese Grundstücke an der Straße bebaut werden, das zur Freilegung der Straße in der durch den Bebauungsplan oder sonst in vorgeschriebener Weise festgestellten Weise erforderliche Terrain bis zur Mittellinie der Straße unentgeltlich abzutreten.
Die Beklagte müßte also zur Begründung ihres Anspruches auf unentgeltliche Abtretung des zur Verbreiterung der Straße erforderlichen Terrains nachweisen, daß zur Zeit der Erlassung des Ortsstatuts die Lothringerstraße - überhaupt oder doch in dem Teile, an welchem das klägerische Grundstück belegen ist - eine bis dahin unbebaute gewesen ist.
Der Berufungsrichter hat nun diesen der Beklagten obliegenden Beweis nicht nur nicht für geführt erachtet, sondern im Gegenteile thatsächlich festgestellt:
"daß derjenige Straßenteil der Lothringerstraße, an welchem das Grundstück der Klägerinnen belegen ist, bereits vor Erlaß des Gesetzes vom 2. Juli 1875. also zur Zeit des Erlasses des Ortsstatuts für Berlin nicht mehr einen unbebauten Straßenteil im Sinne des Ortsstatuts II für Berlin, sondern einen bebauten Straßenteil bildet."
Gegen diese Feststellung, auf Grund deren der Berufungsrichter den von der Beklagten erhobenen Anspruch verwirft, richten sich die Angriffe der Revision.
Der erste und Hauptangriff rügt Verletzung des §. 15 des Gesetzes vom 2. Juli 1875, welche darin bestehen soll, saß der Berufungsrichter den Begriff "Straßenteil" in diesem Paragraphen verkannt, nämlich irrtümlich als gleichbedeutend mit Straßenstrecke angesehen habe. Diese Rüge ist nicht begründet.
Der Berufungsrichter hat als denjenigen "Straßenteil", an welchem das klägerische Grundstück belegen ist, auf welchen also seine obige Feststellung sich bezieht, den Teil der Lothringerstraße bezeichnet, welcher zwischen der Rosenthaler- und der Schönhauserstraße liegt. Er hat also einen bestimmten Abschnitt der Lothringerstraße im Auge gehabt und diesen als Straßenteil im Sinne des §. 15 des Gesetzes vom 2. Juli 1875 und des diesem entsprechenden Ortsstatuts erachtet. Diese Auffassung widerspricht weder dem Wortlaute noch dem Sinne des Gesetzes. Daß der Ausdruck "Straßenteil" in den §§. 12. 15 des Gesetzes sehr unbestimmt und dehnbar, ist schon in dem Kommissionsberichte des Abgeordnetenhauses, 1 hervorgehoben worden; auch in dem auf Grund des §. 15 erlassenen Ortsstatute hat derselbe keine Präzisierung gefunden. Es nötigt aber weder der Wortlaut noch die Absicht des Gesetzes den Ausdruck im denkbar engsten Sinne, nämlich mit der Revisionsklägerin dahin zu verstehen, daß schon der von dem zu bebauenden Grundstücke selbst begrenzte, der unmittelbar vor diesem liegende Teil der Straße als ein Straßenteil im Sinne des Gesetzes anzusehen sei. Im Gegenteil erscheint diese Auslegung unvereinbar mit der Fassung des Gesetzes. Es würde nämlich danach nur darauf ankommen, daß das Grundstück, auf welchem gebaut werden soll, zur Zeit des Erlasses des Ortsstatutes unbebaut war, gleichviel, in welchem Zustande der Bebauung die ganze Straße oder die nächste Umgebung des neu zu bebauenden Grundstückes sich zu jener Zeit befunden hat. Dann hätte aber das Gesetz nicht wohl von dem Anbau an schon vorhandenen bisher unbebauten Straßen und Straßenteilen sprechen können, vielmehr nur von der Bebauung bisher unbebauter Grundstücke an schon vorhandenen Straßen. Jedenfalls würden, falls das Nichtbebautsein des Grundstückes, auf welchem der Anbau an einer schon vorhandenen Straße erfolgt, das einzige Kriterium für die Vertragsverpflichtung des Anbauenden sein sollte, die Worte: "bisher unbebauten" (Straßen und Straßenteilen) im §. 15 müßig sein. Schon die Nebeneinanderstellung von Straßen und Straßenteilen spricht aber dafür, daß beide Begriffe als gleichartige aufzufassen sind, und wie eine Straße in der Regel eine Mehrheit von bebauten, bezw. zur Bebauung bestimmten Grundstücken umfaßt, im gleichen Sinne auch der Ausdruck Straßenteil zu verstehen ist. Es konnte also der Berufungsrichter ohne Rechtsirrtum bei Beantwortung der Frage, ob der Anbau an einem bisher unbebauten Straßenteile erfolgt ist, bezw. erfolgen sollte, den Zustand zu Grunde zu legen, in welchem sich die ganze Straßen strecke, innerhalb deren das klägerische Grundstück belegen ist, zur Zeit der Erlassung des Ortsstatuts befunden hat. Die Frage, ob eine Straße oder ein Straßenteil bebaut ist oder nicht, ist aber eine tatsächliche, für deren Beantwortung der Gesamtcharakter des Straße und des Straßenteiles maßgebend ist, dergestalt, daß das Vorhandensein einzelner Lücken in der Bebauung nicht hindert, die Straße (oder den Straßentheil) im ganzen als eine bebaute zu erachten.
Ein fernerer, zugleich prozessualischer Angriff rügt, der Berufungsrichter habe übersehen, daß die Lothringerstraße noch nicht dem Bebauungspläne gemäß fertiggestellt sei, und er habe über den in dieser Beziehung angetretenen Beweis darüber, daß zu diesem Behufe noch zu beiden Seiten der Straße Landabtretungen erforderlich seien, sich nicht ausgelassen.
Der Richter konnte aber mit Recht diese Thatsache als unerheblich unberücksichtigt lassen, da durch dieselbe nicht ausgeschlossen wird, daß die Lothringerstraße in dem in Rede stehenden Teile zur Zeit des Erlasses des Ortsstatuts eine bereits bebaute war. Dasselbe gilt von den Anführungen der Beklagten, welche den Zustand der Lothringerstraße außerhalb des das Grundstück der Klägerinnen umfassenden Straßenteils betreffen.
Nicht unbedenklich erscheint allerdings die Art, wie der Berufungsrichter seine entscheidende Feststellung begründet. Er konstatiert zunächst den gegenwärtigen Zustand des bezüglichen Teiles der Lothringerstraße in Ansehung der Bebauung, bestätigt dann als gerichtskundig
"die vom ersten Richter als notorisch bezeichneten Thatsachen in betreff der Einrichtung, Entwässerung, Beleuchtung und Fertigstellung der Lothringerstraße"
und knüpft hieran, und zwar "auf Grund dessen, was hierüber bei ihm selbst offenkundig" sei, die ermahnte thatsächliche Feststellung. Müßte man annehmen, daß der Berufungsrichter durch die Bezugnahme der Feststellungen des ersten Richters sich auch die rechtliche Auffassung des letzteren zu eigen gemacht, und daß hierauf seine eigene Feststellung wesentlich beruhe, so würde die Grundlage der letzteren eine fehlerhafte sein. Der erste Richter kommt nämlich bei Prüfung der Frage, was das Gesetz im §. 15 unter einer unbebauten Straße oder einem solchen Straßenteile versteht, zu dem Ergebnisse, daß es sich wesentlich um noch nicht regulierte Straßen und Straßenteile handle. Er stellt dann weiter nach den eigenen Angaben der Beklagten und als gerichtskundig fest, daß die Lothringerstraße eine seit mindestens 15 Jahren regulierte Straße ist, die in jeder Beziehung als fertiggestellt anzusehen sei, und die man deshalb unmöglich zu den unbebauten Straßen im Sinne des Gesetzes rechnen könne. Ähnlich spricht sich der erste Richter über den Begriff der unbebauten Straßenteile aus.
Diese Erwägungen sind offenbar rechtsirrtümlich, da sie die Voraussetzungen des §. 12 und des §. 15 des Gesetzes vom 2. Juli 1875 miteinander verwechseln und eine Straße oder einen Straßenteil schon dann als einen bisher unbebauten nicht gelten lassen wollen, wenn dieselben für den öffentlichen Verkehr im Sinne des §. 12 fertiggestellt sind. Gerade die Bestimmung des §. 12 zielt dahin, daß die Fertigstellung der Straße der Bebauung vorausgehen soll, und der §.15 soll in diesem Falle der Gemeinde den nachträglichen Ersatz der für die Fertigstellung der Straße aufgewendeten Kosten sichern. Der Richter verkennt also, daß eine Straße sehr wohl reguliert und für den Verkehr fertiggestellt und doch noch unbebaut sein kann. Es läßt sich jedoch nicht ohne weiteres annehmen, daß der Berufungsrichter von der gleichen irrigen Auffassung ausgegangen ist."
- 1. vgl. Anlagen zu den stenogr. Berichten 1875 Bd. 3 S. 1708.