RG, 27.09.1884 - I 229/84
Sind, wenn das Schiff durch einen Unfall verloren geht, die mit dem Schiffe gesunkenen, von dem Schiffer nicht geborgenen, sondern in ungeborgenem Zustande verkauften Güter als verloren oder gerettet anzusehen?
Tatbestand
Der mit einer Ladung Stückgüter auf der Reise von Hamburg nach Porto Alegre (Brasilien) begriffene deutsche Schoner Anna sank 14 brasilianische Meilen vom Bestimmungsorte. Die vom deutschen Konsul in Porto Alegre ernannten Besichtiger erklärten, es liege, da das Schiff auf einem Felsen stehe, von welchem es nur vermittelst Sprengung abgebracht werden könne, im Interesse aller Beteiligten, das Wrack mit seinem Inhalte so, wie es dastehe, raschmöglichst in öffentlicher Auktion an den Meistbietenden zu versteigern. Dieser Rat wurde befolgt.
In dem zwischen den Eigentümern der Ladung und deren Versicherer entstandenen Rechtsstreite wurde vom Gerichte erster Instanz Totalverlust von Schiff und Ladung als vorliegend angenommen und die Kürzung einer Distanzfracht von dem Erlöse der Ladung für unzulässig erachtet. Das Oberlandesgericht war jedoch der entgegengesetzten Ansicht. Die Revision gegen das Berufungsurteil wurde zurückgewiesen aus folgenden Gründen:
Gründe
"Der Berufungsrichter wendet zunächst ganz richtig auf die Frage, ob von dem Verkaufserlöse der Ladung Distanzfracht gefordert werden könne, oder ob ein Totalverlust der Ladung vorliege, das deutsche Recht an, da sowohl der Versicherungsvertrag als der Frachtvertrag in Hamburg zwischen Deutschen abgeschlossen wurden, und es sich hier um das Rechtsverhältnis des Schiffers und Rheders zu den Befrachtern (nicht den Empfängern der Güter) handelt. Überdies herrscht zwischen den Parteien kein Streit darüber, daß das am Bestimmungsorte Porto Alegre geltende brasilianische Recht in betreff der Distanzfracht mit dem deutschen Rechte übereinstimmt.
Der Berufungsrichter geht sodann mit Recht davon aus, daß, da der Ausnahmefall des Art. 619 Abs. 1 H. G. B. hier nicht vorliegt, nach Art. 618 H. G. B. für die von den Klägern mit der Anna verladenen Güter keine Distanzfracht zu zahlen gewesen sei, wenn dieselben infolge des Sinkens des Schiffes als "verloren gegangen" anzusehen wären. Nicht minder zutreffend ist es aber, wenn der Berufungsrichter unter Bezugnahme auf die Entscheidung des vormaligen Oberappellationsgerichtes Lübeck in Kierulffs Sammlung Bd. 6 S. 350 flg. (neben welcher auf die Entscheidung des vormaligen Reichsoberhandelsgerichtes in Bd. 25 S. 6 flg. und auf Lewis in Endemann's Handbuch des Handelsrechtes S. 203 und 204 verwiesen wird) ausführt, daß vorliegend ein Verlust der Güter nicht anzunehmen sei. Insbesondere ist die Ansicht zu billigen, daß der Begriff des Verlustes der Güter im frachtrechtlichen Sinne sich nicht durchweg mit deren "Nichtablieferung" deckt, durch die Eingangsworte des Art. 619 a. a. O. : "Ungeachtet der Nichtablieferung ist die Fracht zu zahlen," vielmehr nur die regelmäßige Form der den Frachtanspruch bedingenden Erfüllung des Frachtvertrages der Nichtablieferung entgegengesetzt, keineswegs aber zugleich die rechtliche Möglichkeit eines Frachtverdienstes auch bei Nichtablieferung an den Empfänger allgemein verneint wird, vielmehr im Falle des seitens des Schiffers im Nothafen vorgenommenen Verkaufes seebeschädigter Güter für diese sogar die volle Fracht zu bezahlen ist.
Der Berufungsrichter nimmt ferner nach Art. 632 vergl. mit Art. 630 Ziff. 1 H. G. B. mit Recht an, daß im vorliegenden Falle das Schiff selbst verloren gegangen und dadurch der Frachtvertrag aufgelöst, daß aber für die Frage, ob bei der Beendigung des Frachtvertrages durch den Verlust des Schiffes Distanzfracht verdient ist, nach Art. 632 Abs. 1 H. G. B. das Vorhandensein der Voraussetzung entscheidend sei, daß die Güter "geborgen oder gerettet" wurden. Der Berufungslichter bejaht sodann das Vorliegen dieser Voraussetzung, indem er davon ausgeht, daß zwar infolge des Wegsinkens des Schiffes zunächst mit diesem auch die Ladung der Verfügung des Schiffers entzogen gewesen, und daß dadurch allein, daß der Schiffer wußte, wo dieselbe sich befand, die Annahme des Verlustes der Ladung nicht ausgeschlossen sei, daß aber das Verhalten des Schiffers deutlich erkennen lasse, der Schiffer sei von vornherein gesonnen gewesen, die Ladung nicht preiszugeben, sondern habe vielmehr, entsprechend der ihm nach Art. 634 H. G. B. obliegenden Verpflichtung, auch nach Auflösung des Frachtvertrages für das Beste der Ladung zu sorgen, zu handeln beabsichtigt, und daß bei dem erzielten Kaufpreise von circa 15 % der Versicherungssumme die hiernach noch einen solchen Verkaufswert besitzende Ladung nicht als verloren angesehen werden könne, ein solcher Fall vielmehr weder von Art. 618 noch von Art. 635 H. G. B. getroffen werde, und es auch an einem zwingenden Grunde fehle, den vorliegenden Fall, in welchem der Schiffer in pflichtgemäßer Befolgung des ihm von den durch den Konsul ernannten Sachverständigen erteilten Rates es ermöglichte, die Ladung, wie sie sich in dem gesunkenen Schiffe befand, zu verkaufen und damit die Chancen des Gelingens der Rettung auf die Käufer zu übertragen, anders zu entscheiden, als wenn der Schiffer seinerseits die seebeschädigten Güter aus dem Schiffe ans Land geschafft und dann verkauft hätte.
Irgend welcher Rechtsirrtum ist in diesen Ausführungen nicht enthalten, vielmehr sind dieselben durchaus zutreffend. Zunächst ist es für die Entscheidung der vorliegenden Frage unerheblich, daß infolge des Sinkens des Schiffes dem Schiffer zeitweilig die tatsächliche Verfügung auch über die Ladung entzogen war. Denn nach Art. 632 H. G. B. ist Distanzfracht nicht bloß von den geretteten, sondern auch von den "geborgenen" Gütern zu zahlen, und nach Art. 742 H. G. B. gehört es zum Begriffe der Bergung, daß der betreffende Gegenstand der Verfügung der Schiffsbesatzung entzogen war. Ein durch einen Zufall (bezw. Unfall) eingetretener Verlust der Güter im Sinne der Artt. 618. 635 H. G. B. kann mithin auf Grund dieses Umstandes nicht angenommen werden, da diese Artikel sonst mit dem Art. 632 in Widerspruch stehen würden, wie denn auch in den Motiven zu dem diesem Artikel zu Grunde liegenden Art. 513 des preußischen Entwurfes im Gegensatze zu der im holländischen Rechte gemachten Ausnahme der Grundsatz, daß Distanzfracht zu zahlen sei, ausdrücklich auch für dm Fall vertreten wird, daß bei einem Schiffbruche Güter ohne irgend ein Zuthun des Schiffers von dritten Personen aufgefischt, geborgen und den Beteiligten überliefert werden. Sodann ist es auch ganz richtig, daß zu den im Sinne der Artt. 618. 635 H. G. B. verloren gegangenen Gütern solche Güter, welche noch einen Verkaufswert haben, nicht gerechnet werden können, da der Art. 632 H. G. B. , indem er in seinem zweiten Absatze bestimmt:
"die Distanzfracht ist nur soweit zu zahlen, als der gerettete Wert der Güter reicht,"
deutlich den Grundsatz ausspricht, daß Güter, aus deren Verkaufswert die Fracht ganz oder teilweise gedeckt werden kann, insoweit nicht als verloren, sondern als geborgen bezw. gerettet und mithin der Verpflichtung zur Frachtzahlung unterliegend anzusehen seien, Für diese Auslegung spricht übrigens auch nicht nur der natürliche Wortsinn der Artt. 618. 635 a. a. O. , da der Ausdruck "durch einen Unfall verloren gegangen" sich füglich nur auf solche Güter beziehen kann, welche entweder aufgehört haben zu existieren oder durch eine physische Veränderung ihre ursprüngliche Beschaffenheit eingebüßt haben oder doch gänzlich entwertet oder ihrem Eigentümer ohne Aussicht auf Wiedererlangung entzogen sind, sondern auch der Umstand, daß das Handelsgesetzbuch immer nur zwischen "verlorenen" und "beschädigten" Gütern unterscheidet, ohne irgend einen Anhalt dafür zu geben, daß unter gewissen Voraussetzungen auch schon die sich aus einem den Gütern widerfahrenen Unfälle ergebende Gefahr ihres Verlustes dem Verluste selbst gleichgestellt werden solle.
Endlich ist auch nicht abzusehen, inwiefern es prinzipiell einen Unterschied für die Verpflichtung des Befrachters zur Zahlung von Distanzfracht für geborgene Güter begründen könnte, wenn der Schiffer es in Ausübung seiner sich aus Art. 634 H. G. B. ergebenden Rechte und Pflichten im Interesse der Beteiligten vorzieht, den Wert der durch den Schiffbruch gefährdeten Ladung durch deren Verkauf in dem gesunkenen Schiffe zu realisieren und auf diese Weise die Gefahr des Mißlingens der Bergung von den Ladungsinteressenten auf die Käufer zu übertragen, anstatt selbst den Versuch der Bergung zu machen oder machen zu lassen und dann eventuell zum Verkaufe zu schreiten. Denn auch in dem ersteren Falle repräsentiert, wie der Berufungsrichter mit Recht angenommen hat, der durch den Verkauf erzielte Erlös in betreff des Anspruches des Schiffers auf Fracht, soweit sie verdient ist, die dafür haftende Ladung, deren Verkaufswert er nach dem Verluste des Schiffes den Ladungsinteressenten gerettet hat.
Nun ist es allerdings denkbar, daß der Befrachter, obwohl er in Fällen der vorliegenden Art dem Schiffer bezw. Verfrachter gegenüber zur Zahlung der Distanzfracht aus dem Verkaufserlöse der Güter verpflichtet ist, doch seinerseits auf Grund des von ihm in betreff der Güter geschlossenen Versicherungsvertrages nicht berechtigt wäre, von seinem Versicherer mehr ersetzt zu verlangen, als den Unterschied zwischen dem Versicherungswerte und dem Verkaufserlöse der Güter ohne Rücksicht auf die hierauf haftende Distanzfracht, wie denn ja auch bei Gütern, welche beschädigt im Bestimmungshafen ankommen, nach Art. 879 H. G. B. vom Versicherer nur die Differenz zwischen dem Werte im beschädigten und unbeschädigten Zustande zu ersetzen ist, ohne daß von dem ersteren die vom Versicherten für die Güter zu zahlende Fracht gekürzt wird. Allein nach dem zwischen den Parteien auf Grund der Allgemeinen Seeversicherungsbedingungen von 1867 geschlossenen Vertrage trifft dies nicht zu. Denn nach §. 136 derselben, dessen Inhalt, soweit er hier in Frage kommt, mit Art. 881 H. G. B. übereinstimmt, besteht der vom Versicherer zu ersetzende Schade, wenn - wie im vorliegenden Falle - Güter auf der Reise infolge eines Unfalles verkauft worden sind, zwischen dem nach Abzug der Fracht sich ergebenden Reinerlöse und der Polizentaxe bezw. dem Versicherungswerte der Güter. Auch im Sinne des Versicherungsvertrages liegt hiernach ein in Gemäßheit der §§. 109 - 115 der Bedingungen bezw. Artt. 858 bis 864 H. G. B. zu vergütender, Totalverlust (wie der Beklagte zu deduzieren versucht) nicht vor. Ebensowenig wird durch das Gesetz und die Versicherungsbedingungen für den Fall des infolge eines Unfalles auf der Reise vorgenommenen Verkaufes von Gütern ein Unterschied gemacht, je nachdem bereits geborgene oder erst noch zu bergende Güter verkauft wurden. Es ist auch nicht erfindlich, aus welchem Grunde der Versicherer ein Interesse daran haben könnte, daß der versicherte Ladungsinteressent bezw. in dessen Vertretung der Schiffer die Bergung der Güter für eigene Rechnung übernehme, wenn nach dem Urteile der sachverständigen Besichtiger in Interesse der zunächst Beteiligten der Verkauf der Güter in dem gesunkenen Schiffe sich empfiehlt.
Der Beklagte hat zwar schließlich in der Revisionsinstanz auch noch darauf hingewiesen, daß im vorliegenden Falle die laufende Polize, auf welche die Kläger das hier fragliche Risiko deklariert haben, genommen ist nicht nur für den Fakturenwert der Güter zuzüglich aller Kosten bis an Bord und imaginären Gewinn, sondern auch auf "Frachtvorschuß, bezw. auf im voraus bezahlte Fracht". Allein auch dieser Umstand, auf welchen übrigens der Beklagte sich in den Vorinstanzen nirgend berufen hat, ändert an der rechtlichen Beurteilung nichts. Denn nach dem mit Art. 803 H. G. B. übereinstimmenden §. 22 der Allgemeinen Bedingungen hat diese Vertragsbestimmung an sich nur Einfluß auf die Berechnung des Versicherungswertes der Güter, und für den vorliegenden Fall kann sie um so weniger in Betracht kommen, als beklagterseits gar nicht geltend gemacht ist, daß die Versicherungssumme den Versicherungswert übersteige, oder, daß von der Distanzfracht Vorschüsse oder Vorausbezahlungen, welche von den Klägern geleistet worden seien, abzuziehen gewesen wären."