RG, 21.12.1881 - V 732/81

Daten
Fall: 
§. 120 Abs. 3 der Gewerbeordnung
Fundstellen: 
RGZ 6, 62
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
21.12.1881
Aktenzeichen: 
V 732/81
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG I Berlin
  • KG Berlin

Ist die Vorschrift des §. 120 Abs. 3 der Gewerbeordnung in der durch das Gesetz vom 17. Juli 1878 bestimmten Fassung (§. 107 der ursprünglichen Fassung) als ein auf Schadensverhütungen abzielendes Polizeigesetz im Sinne des A. L. R.'s I. 6. §. 26 anzusehen?

Gründe

"Die Entscheidung des Berufungsrichters beruht auf der Annahme, daß die Vorschrift des §. 120 Abs. 3 der Novelle zur Gewerbeordnung vom 17. Juli 1878, folgendermaßen lautend:

"Die Gewerbeunternehmer sind endlich verpflichtet, alle diejenigen Einrichtungen herzustellen und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Gewerbebetriebes und der Betriebsstätte zu thunlichster Sicherheit gegen Gefahr für Leben und Gesundheit notwendig sind,"

als ein auf Schadensverhütungen abzielendes Polizeigesetz im Sinne des §. 26 A. L. R. I. 6 anzusehen sei.

Diese Annahme erscheint unrichtig.

Allerdings ist anzuerkennen, daß die erwähnte Vorschrift der Gewerbeordnung auf Schadensverhütungen abzielt; allein dieses genügt für die Anwendung des §. 26 a. a. O. nicht, vielmehr setzt diese außerdem voraus. daß es sich um ein "Polizeigesetz" handelt. Nach dem Wortlaute des Paragraphen muß man annehmen, daß die beiden Voraussetzungen für die Anwendung der in demselben getroffenen Bestimmung verschieden sein sollen, daß mithin nicht eine jede auf Schadensverhütungen abzielende Vorschrift als ein Polizeigesetz im Sinne des Paragraphen angesehen werden kann. Es fragt sich also, was unter dem Ausdrucke "Polizeigesetz" in dem erwähnten Paragraphen zu verstehen ist.

Der §. 10 A. L. R. II. 17 bestimmt den Begriff der Polizeigerichtsbarkeit dahin:

"Die nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publikum oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizei."

In dem §.11 a. a. O. ist hinzugefügt, daß die Untersuchung und Bestrafung der gegen "solche Polizeigesetze" begangenen Übertretungen der Polizeigerichtsbarkeit zukomme.

Die Polizeigesetzgebung wird hier von der allgemeinen Gesetzgebung unterschieden, und man könnte hieraus folgern, daß die in den allgemeinen Gesetzen enthaltenen Vorschriften, welche die im §. 10 a. a. O. erwähnten Zwecke betreffen, nicht zu den "Polizeigesetzen" zu rechnen seien.

Für diese Ansicht würde man eine Unterstützung aus den §§. 25 bis 36 A .L. R. II. 15 entnehmen können. Dort finden sich Vorschriften, welche das Ausweichen auf öffentlichen Wegen betreffen, und welche, da es sich dabei um "Anstalten zur Abwendung der dem Publikum oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr" handelt, an sich als polizeiliche angesehen werden müssen. Nichtsdestoweniger verweist der §. 35 a. a. O. in betreff der Verpflichtung zum Ersatze des durch Verabsäumung dieser Vorschriften einem Anderen zugefügten Schadens nicht auf §. 26 A. L. R. I. 6, sondern auf die allgemeinen Bestimmungen in den §§. 11 flg. dieses Titels.

Indessen ergiebt der Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuches für die preußischen Staaten, daß eine derartige äußerliche Unterscheidung zwischen den allgemeinen Gesetzen und Polizeigesetzen nicht hat gemacht werden sollen, daß vielmehr auch Vorschriften des Allgemeinen Landrechtes im Sinne desselben als Polizeigesetze anzusehen sind.

In einer Anmerkung zu dem §. 5 des Titels von den Rechten und Pflichten des Staates überhaupt im Entwurfe (Teil I Abteilung 3 Titel 1) heißt es nämlich:

"Polizeigesetze, welche die Aufrechthaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung zur Absicht haben, werden in dem letzten Titel der gegenwärtigen Abteilung (welcher dem Titel 20. II des Allgemeinen Landrechtes entspricht) vorgetragen. Von denjenigen, welche gewisse Arbeiten von Gewerben, Nahrungsbetrieben oder einzelne Geschäfte betreffen, sind einige in der zweiten Abteilung enthalten, und andere werden im Sachenrecht bei Abhandlung der verwandten Materien vorkommen. Die übrigen sind entweder bloße Zeitgesetze, oder sie beziehen sich nur auf gewisse Örter oder Provinzen. In beiderlei Rücksicht aber gehören sie nicht in das allgemeine Gesetzbuch."

Hieraus ergiebt sich, daß die Verfasser des Allgemeinen Landrechtes die Polizeigesetze nicht in der Weise den allgemeinen Gesetzen haben gegenüberstellen wollen, daß die in diesen enthaltenen Vorschriften nicht als Polizeigesetze anzusehen seien, auch wenn ihr Inhalt den Charakter derselben habe.

Wenn man nun die Paragraphen, in welchen das Allgemeine Landrecht auf Polizeigesetze verweist, vergleicht, so gelangt man zu dem Resultate, das bei solchen Gesetzen regelmäßig eine ins Einzelne gehende Anordnung, und nicht bloß ein allgemeiner Grundsatz, aus welchem für die Anwendung im einzelnen Falle erst spezielle Folgerungen gezogen werden müssen, vorausgesetzt wird. So werden im A. L. R. I. 8. §. 82; I. 9. §§. 117. 127. 142. 184. 186. 325; I. 23. §. 81; II. 8. §§. 398. 399; II. 20. §. 1556 die zur Ergänzung der bezüglichen allgemeinen Vorschriften des Landrechtes erforderlichen "näheren" oder speziellen Bestimmungen den Polizeigesetzen vorbehalten.

Gleichfalls muß nach dem, Inhalte von A. L. R. I. 9. §. 87; II. 8. §. 442; II. 20. §§. 458. 512. 1107 angenommen werden, daß das Landrecht davon ausgeht, die dort erwähnten Polizeigesetze enthielten nicht bloß allgemeine Grundsätze, sondern Vorschriften, deren Anwendbarkeit auf den einzelnen Fall sich ohne Schwierigkeiten beurteilen lasse.

In Übereinstimmung hiermit stehen auch die Marginalien und das Register zum Landrechte.

Die Marginalien bezeichnen die §§. 243 - 247 A. L. R. II. 15, welche teils sich auf gewisse Beschränkungen bei der Anlage und Betreibung von Mühlen beziehen, teils besondere Vorschriften zum Schutze der Mühlen enthalten, als "Polizeigesetze in Mühlensachen", sowie die §§. 1538 flg. A. L. R. II. 20, welche es zunächst jedem allgemein zur Pflicht machen, Vorsicht anzuwenden, damit durch sein Verhalten kein Feuerschaden entstehe, dann aber auch eine Reihe spezieller polizeilicher Anordnungen enthalten, als "Polizeigesetze zur Verhütung der Feuersbrünste".

Das Register führt außer den obenerwähnten §§. 243 flg. A. L. R. II. 15 und §§. 1538 flg. II. 20 die §§. 1-6, 119 flg., 180 flg., 692 flg., 888 flg., 999 flg., 1231 flg. und 1248 flg. II. 20 als Polizeigesetze auf. Von diesen enthalten die §§. 1-6 allerdings zum Teil allgemeine Vorschriften; im übrigen werden aber in denselben einzelne Anordnungen getroffen, welche die Verhütung gewisser Verbrechen bezwecken.

Hiernach ist es nicht gerechtfertigt, eine so allgemeine und unbestimmt lautende Vorschrift, wie die erwähnte, in dem §. 120 Abs. 3 der Novelle zur Gewerbeordnung enthaltene, deren Tragweite in dem einzelnen Falle oft zweifelhaft ist, und in betreff deren das Gesetz selbst, wie der weitere Inhalt des Absatzes ergiebt, eine Ergänzung durch besondere Vorschriften ins Auge gefaßt hat, als ein Polizeigesetz im Sinne des §. 26 A. L. R. I. 6 anzusehen, zumal dieser Paragraph einen singulären Charakter hat und daher im Zweifel einschränkend auszulegen ist.

Auch trifft der Grund, worauf die Vorschrift des §. 26 a. a. O. beruht, bei einer Vernachlässigung des §. 120 Abs. 3 der Novelle nicht zu. Der §. 26 enthält für denjenigen, welcher ein auf Schadensverhütungen abzielendes Polizeigesetz nicht beobachtet, besonders ungünstige Bestimmungen in betreff des Schadensersatzes. Der Grund hierfür kann nur darin gefunden werden, daß die in der Übertretung eines solchen Polizeigesetzes liegende Verschuldung als eine besonders qualifizierte angesehen worden ist. Eine solche Beurteilung der Übertretung ist aber nur berechtigt, wenn es klar vorliegt, was nach dem Polizeigesetze zu thun oder zu unterlassen ist. Aus dem §. 120 Abs. 3 ergeben sich aber keineswegs immer sofort und mit Sicherheit die im einzelnen Falle zu treffenden Vorkehrungen und Anstalten. Es liegt daher häufig, wenn eine Einrichtung, die bei näherer Untersuchung zum Schutze der Arbeiter als geboten angesehen werden muß, unterlassen worden ist, nur ein unbedeutendes Versehen auf seiten des Gewerbeunternehmers vor.

Hiernach muß das angefochtene Erkenntnis, da es auf einer irrigen Auslegung des §. 26 A. L. R. I. 6 beruht, aufgehoben werden.1

  • 1. Abweichend hiervon hat der III. Senat des Reichsoberhandelsgerichts in einem Erkenntnisse vom 29. November 1877 (Rep. 77/1411) die Vorschrift des §. 107 der Gewerbeordnung für ein auf Schadensersatz abzielendes Polizeigesetz im Sinne des A. L. R.'s I. 6. §. 26 erklärt, indem ausgeführt ist, daß zur Anwendung des §. 26 a. a. O. obrigkeitliche Verfügungen, welche ganz bestimmte Anordnungen träfen, nicht erforderlich seien; so habe schon die frühere preußische Praxis den §. 26 für anwendbar erklärt, wenn Straßen, Brücken und Wege von dem Verpflichteten nicht gehörig unterhalten und wenn bei Wasserbauten nicht gehörige Vorrichtungen zum Schuhe der Schiffe getroffen worden seien. Vgl. Entsch. des Obertrib. Bd. 14 S. 97; Bd. 37 S. 37.