RG, 17.12.1881 - II 415/81
Hat der Minderjährige die Umstoßungsklage wegen Verletzung auch gegen die von seinem Vormunde abgeschlossenen Rechtsgeschäfte?
Gründe
"Die angefochtene Entscheidung beruht auf der in der badischen Gerichtspraxis seither allerdings herrschenden Auslegung des L.R.S. 1305, wonach auch die von dem Vormunde eines Minderjährigen innerhalb der Grenzen seiner Befugnisse eingegangenen Geschäfte der Anfechtung wegen Verkürzung unterworfen sein sollen. Diese in der badischen Doktrin von Brauer und Stabel, in Frankreich von nahezu sämtlichen Schriftstellern und auch in der Rechtsprechung gemißbilligte Auslegung kann nicht für gerechtfertigt erachtet werden.
Dieselbe überträgt die Vorschriften des römischen Rechtes in das französische beziehungsweise badische bürgerliche Gesetzbuch. Es ist aber zunächst darauf hinzuweisen, daß von namhaften Lehrern des römischen Rechtes - z. B. v. Savigny, System Bd. 7. S. 147. 148; Windscheid, Pand. I. §. 117 Note 3 - anerkannt wird, daß die im römischen Rechte später erfolgte Ausdehnung der in integrum resistuto auf Handlungen der Tutoren und Kuratoren über den ursprünglichen Zweck des Institutes und über das Bedürfnis hinausgehe. - Es kann auch nicht verkannt werden, daß es zu einer großen Unsicherheit des Verkehres führen müßte, wenn die Verwaltungshandlungen des Vormundes - und andere darf er allein nicht vornehmen - schon um deswillen der Anfechtung unterlägen, weil sie dem Minderjährigen nachteilig sind. In der That haben auch französische Rechtslehrer, welche vor Abfassung des Code geschrieben, über diese ungebührliche Ausdehnung der Restitution geklagt. So Henrys in der von verschiedenen neueren Schriftstellern angeführten Stelle und Argou. Letzterer, auf dessen Zeugnis sich Windscheid (zur Lehre des Code Napoléon von der Ungültigkeit S. 235) dafür beruft, daß die altere Jurisprudenz dem vom Vormunde geschützten Minderjährigen die Wohlthat der Restitution nicht entzogen habe, spricht an der betreffenden Stelle (Buch 1 Kap. VII "des mineurs" S. 37 flg.) zunächst nur aus: "ils sont resistués contre tous les actes qu'ils ont passés et dans lesquel ils ont été lésés," und die Bemerkung desselben, daß sich die Minderjährigen in einer Art von Interdiktion befänden, bezieht sich nicht auf die Restitution gegen Handlungen ihres Vormundes, sondern darauf, daß man es mit der Läsion zu leicht nehme: "on n'examine presque jamais la cause de la lésion". - Als Fall der Restitution eines mineur assisté d'un tuteur ou d'un curateur führt er nur die als Art. 481 in den code de proc.. aufgenommene Bestimmung der Ordonnanz von 1667 an. Dieser Fall setzt aber voraus, daß der Vormund nicht oder doch nicht genügend gehandelt habe.
Domat, auf welchen weiter Bezug genommen wird, behandelt in den "lois civiles" nur römisches Recht, und sind auch in dem betreffenden §. XIX Buch IV Tit. VI sect. II nur die hierher gehörigen Stellen aus dem Kodex und den Digesten citiert. Das répertoire von Merlin kann nicht als eine Quelle des Art. 1305 angeführt werden, da an der fraglichen Stelle (v. mineur §. 9 no. II) dieser Artikel bereits citiert ist.
Dagegen lehrt Pothier (Traité de la procédure civile p. 5 nr. 4 art. 231): "Les mineurs ne sont pas resistués pour cause de lésion contre les actes qu'ils ont faits depuis leur émancipation ou contre ceux que leurs tuteurs ont faits avant leur émancipation, lorsque ces actes sont de pure administration nécessaire par exemple.. contre la vente ou l'achat de choses mobiliéres."
Daß die Redaktoren des Codedem römischen Rechte nicht gefolgt seien, ergiebt sich unzweifelhaft aus den Vorarbeiten:
Bigot-Préameneu erklärte im corps législatif (Fenet XIII S. 225): "Ainsi les mineuers sont regardés à cause de la faiblesse de leur rainson et à cause de leur inexpérience, comme incapables de connaître l'étendue de leur engangements: on peut contracter avec eux; mais s'ils sont lésés on est censé avoir abusé de leur âge. Leur capacité cesse pour tout acte qui leur est préjudiciable," und sodann (ebendas. S. 288): "Le résultat de son incapacité est de ne pouvoir contracter. Restituitur tamquam laesus non tamquam minor."
Zaubert äußerte sich im Tribunale (ebendas. S. 372): "La restitution du mineur pour cause de lésion est fondée sur deux idées principales: la loi protège la faiblesse de l'âge; voilà pour la personne du mineur; et à l'égard de l'autre partie qui contracte, c'est à elle seule qu'elle doit imputer l'évenement."
Es bedarf keiner weiteren Ausführung, daß diese Motive auf die Anfechtung von Geschäften des Vormundes nicht passen, vielmehr auf der Voraussetzung beruhen, daß der Minderjährige selbst das nachteilige Geschäft abgeschlossen habe.
Daher ist auch in Abschnitt 3 Titel 3 des 3. Buches, welcher die Anfechtung und Umstoßung - zum Teile die cas prévus par la loi (Art. 1125) - behandelt, nicht von Geschäften des Vormundes die Rede. Der Art. 1304 spricht von "actes faits par le mineur" und dieser klare Wortlaut kann nicht mit dem Satze: "factum tutoris factum pupilli" abgeschwächt werden; denn daraus, daß (Artt. 450.1998) der Repräsentierte die Handlungen seines Repräsentanten innerhalb der Grenzen der Vollmacht anzuerkennen habe, kann nicht hergeleitet werden, daß die auf einer persönlichen Eigenschaft des Repräsentierten beruhenden Rechtswohlthaten diesem auch gegenüber den Handlungen des Vertreters zustehen, zumal, wenn dieser Vertreter gerade zu dem Zwecke bestellt ist, die persönliche Unfähigkeit zu ergänzen oder zu ersetzen. Dafür, daß mit der etwas vom Urtexte abweichenden Übersetzung in L.R.S. 1304 ein anderer Sinn verbunden werden wollte, fehlt es an jedem Anhalte (Brauer, Erl. in S. 223). Nur den nichtemanzipierten Minderjährigen, nicht den Vormund, erwähnt sodann Art. 1305; daß dabei an die von letzterem gültig abgeschlossenen Geschäfte nicht gedacht sein kann, folgt aus der Zusammenstellung der Verträge des Nichtemanzipierten mit denjenigen des Emanzipierten, welche dieser über die Grenzen seiner Befugnisse hinaus - also ohne Beistand - abgeschlossen hat. Sollte Art. 1305 dem nichtemanzipierten Minderjährigen die Restitution auch gegen Geschäfte seines Vormundes verleihen, so durfte der Gesetzgeber diese zwei verschiedenen Fälle nicht, wie geschehen, ohne die geringste Andeutung des Unterschiedes nebeneinander stellen. Daß der Artikel mit den Worten: " La simple lésion" beginnt, hat nur die Bedeutung, daß der in den Vorberatungen ausgesprochene Grundsatz Ausdruck findet, die Läsion und nicht die Minderjährigkeit an sich sei die Voraussetzung der Umstoßung.
Diese Auslegung der Artt. 1304. 1305 wird sodann wesentlich dadurch unterstützt, daß die Artt. 1306. 1308. 1310, welche Ausnahmen von der Regel aufstellen, unzweifelhaft nur Fälle betreffen, wo der Minderjährige allein gehandelt hat; dies gilt auch von dem eine Ausnahme ablehnenden Art. 1307.
Der Art. 1309 ist für die Frage unerheblich, da er in Übereinstimmung mit Artt. 1095.1398 betreffs einer Zusage im Ehevertrage die Bewilligung und den Beistand derjenigen für genügend erklärt, deren Einwilligung zur Gültigkeit der Ehe erforderlich ist, so daß hier der Vormund in einer ganz besonderen Funktion und überhaupt nur im Falle des Art. 160 (jetzt nach Maßgabe der §§. 29. 30 des Reichsgesetzes vom 6. Febr. 1875 über die Beurkundung des Personenstandes) in Betracht kommt.
Der Art. 1314, auf welchen man sich für die eine und die andere Meinung beruft, ist in Rücksicht auf seine Entstehung weder für die eine noch die andere von Bedeutung. Der Entwurf schloß mit Art. 203, dem jetzigen Art. 1312, und der jetzige Art. 1313 bildete den zweiten Abs. des Art. 196; erst in zweiter Redaktion auf Grund der Beratungen im Staatsrate vom 3.-24. November 1803 wurde der zweite Absatz des Art. 196 als Art. 209 (jetzt 1313) und als Art. 210 der nunmehrige Art. 1314 beigefügt. Veranlaßt war dieser Artikel, von welchem Jaubert a. a. O. S. 374 sagt: "cette précausion, sie elle n'était pas nécessaire, est du moins utile á cause de cette idée si invetérée," durch die Klagen älterer Schriftsteller darüber, daß eine herrschende Gerichtspraxis in Anwendung des römischen Rechts (vgl. I. 11 Cod. de praed. et al. reb. min. 5, 71) gegen Veräußerungen von Gütern der Minderjährigen und gegen Teilungen, selbst wenn dabei alle besonderen Förmlichkeiten beobachtet worden waren, gleichwohl Restitution wegen jeder Verletzung zuließ und hinsichtlich der Annahme des Vorhandenseins einer solchen gar nicht strenge war. (Das ist die "idée si invetérée", welche Jaubert meint). - Nachdem nun der Gesetzgeber in den Artt. 1305 - 1312 die Restitution gegen Handlungen des Vormundes beseitigt hatte, konnten die beiden Fragen aufgeworfen werden, ob diese besondere Restitution wegen einfacher Läsion gegen Veräußerungen und Teilungen gleichwohl noch fortbestehe, oder den Minderjährigen von jetzt ab nur noch unter denselben Voraussetzungen wie den Volljährigen (Artt. 887.1674 vgl. mit 1313) erteilt werde, und die weitere, ob nicht umgekehrt diese unter gerichtlicher Autorität (Artt. 458. 838) vorgenommenen Geschäfte von jetzt ab überhaupt unanfechtbar seien. Indem nun der Beobachtung dieser besonderen Förmlichkeiten keine weitere Wirkung beigelegt wurde, als daß bezüglich der Anfechtung die Minderjährigen den Volljährigen gleichgestellt seien, wurden sowohl das Fortbestehen der alten Restitution gegen Veräußerungen und Teilungen, als auch die gänzliche Unanfechtbarkeit verneint, damit also alle möglichen Zweifel beseitigt. Daß Art. 1314 nur diesen Zweck habe, ergiebt sich daraus, daß er keineswegs alle Geschäfte erwähnt, bei welchen der Vormund an besondere Förmlichkeiten gebunden ist (vgl. Artt. 463. 464. 467), sondern nur Veräußerungen von Liegenschaften und Teilungen (vgl. auch Brauer a. a. O. S. 229 flg,). Auch die Artt. 484. 485 und 509 vermögen eine entgegengesetzte Auslegung des Gesetzes nicht zu rechtfertigen. Bei den beiden ersteren ist der Unterschied zwischen réduction (Art. 484 Abs. 2) und recission nicht zu übersehen; den Anspruch auf erstere verliert der Emanzipierte allerdings mit Zurückziehung der Emanzipation, die letztere aber behält er nach Maßgabe der Art. 1305 flg. Aus Art. 509 würde sich zwar ergeben, daß, wenn das Gesetz dem Minderjährigen auch gegen Handlungen seines Vormundes die Restitution gewährte, diese in gleicher Weise auch dem Entmündigten zukommen müßte; dagegen folgt daraus nicht, daß dem Minderjährigen das Recht zustehe, die von seinem Vormunde für ihn abgeschlossenen Geschäfte wegen Verletzung umzustoßen.
In den Artt. 502 flg. sind für die Anfechtung von Rechtshandlungen Entmündigter besondere Vorschriften gegeben, und ist dabei allerdings der Begriff der Handlungsunfähigkeit konsequenter durchgeführt als beim Minderjährigen, da die Anfechtung keine Läsion voraussetzt; diese Sätze könnten jedoch höchstens für die Ansicht angerufen werden, daß auch der Minderjährige, welcher selbst kontrahiert habe, wegen seiner Minderjährigkeit und nicht wegen Verletzung restituiert werde; allein auch die Anhänger der entgegengesetzten Auslegung der Artt. 1305 flg. gehen nicht soweit, daß sie schon deshalb nullité en la forme annehmen, weil die Vertretung durch den Vormund fehlte (vgl. Windscheid a. a. O. S. 197). - Der badische Gesetzgeber hat nun allerdings durch Einschaltung der L.R.S. 1124a. 1124b das französische System erheblich geändert; indem er gewisse Verträge der Vollmündigen für gültig erklärt (vorbehaltlich der Umstoßung wegen Verletzung), spricht er aus, daß alle Geschäfte des Minderjährigen, welche nicht unter den L.R.S. 1124 b fallen, schon um der Minderjährigkeit willen (wegen Handlungsunfähigkeit) anfechtbar feien, und beschränkt damit die Anfechtung wegen Verletzung auf die von dem Minderjährigen eingegangenen Rechtsgeschäfte, welche dieser nach eben diesem L.R.S. 1124b gültig abschließen durfte. - Diese Abänderung des französischen Systemes führt jedoch keineswegs zu der Konsequenz, daß nunmehr auch gegen die von dem Vormunde eingegangenen Verträge die Anfechtung nach Maßgabe des L.R.S. 1305 statthaft sein müsse; es ergiebt sich vielmehr daraus nur als System des badischen Rechtes, daß Handlungen des Minderjährigen anfechtbar sind: ohne Läsion (L.R.S. 1125), wenn er zu solchen nach L.R.S. 1124 b nicht befugt war, anderenfalls nur wegen Läsion; wogegen Handlungen des Vormundes unanfechtbar bleiben, so lange er keine besonders vorgeschriebenen Förmlichkeiten außer Acht gelassen hat.
Der Urheber der L.R.S. 1124 a und 1124 b lehnt auch entschieden die Folgerung ab, daß gegen Geschäfte des Vormundes Restitution gewährt werden wollte; Brauer sagt nämlich in den Erläuterungen Bd. 3 S. 228/229: "Für diese Fälle nun, wo der Minderjährige selbst handelt, giebt unser Abschnitt (1305 flg.) eine Umstoßungsbefugnis, nirgends aber erlaubt er den Minderjährigen, die Geschäfte des Vormundes umzustoßen." Nach dem Ausgeführten hat daher die Auslegung des L.R.S. 1305, auf welchem die angefochtene Entscheidung beruht, weder im französischen noch im badischen Rechte einen genügenden Anhalt, und mußte deshalb das Urteil aufgehoben werden, ohne daß es auf die übrigen Angriffe des Revisionsklägers ankommt. Da, wie beide Instanzen mit Recht angenommen haben, der Vormund der Hauptinterventionskläger zu der in Frage stehenden Cession eine weitere Genehmigung nicht einzuholen hatte, und auch im übrigen nach dem festgestellten Sachverhältnisse die Sache zur Endentscheidung reif erscheint, so konnte sofort auch in der Sache wie geschehen erkannt werden." (Die Klage wurde abgewiesen.)