RG, 02.12.1881 - III 485/81

Daten
Fall: 
Begriff der Anwesenheit und Abwesenheit
Fundstellen: 
RGZ 6, 154
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
02.12.1881
Aktenzeichen: 
III 485/81
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Braunschweig
  • OLG Braunschweig

Begriff der Anwesenheit und der Abwesenheit bei heutiger Anwendung der Vorschrift der Nov. 4 cap. 1 betr. die Beschränkung der Einrede der Vorausklage bei Anwesenheit des Bürgen und Abwesenheit des Hauptschuldners.

Aus den Gründen

"Die einem einfachen Bürgen der Regel nach zustehende Einrede der Vorausklage hat die Vorinstanz dem Beklagten versagt in Anwendung der Bestimmung der Nov. 4 cap. 1, nach welcher, wenn der Bürge anwesend und der Hauptschuldner abwesend ist, dem ersteren nur das - von dem Beklagten nicht in Anspruch genommene - Recht zusteht, die Klage dadurch vorläufig von sich abzuwenden, daß er innerhalb einer von ihm zu erbittenden Frist den Hauptschuldner zur vorgängigen Ausklagung sistiert. Es fragt sich, ob die Voraussetzung dieser Bestimmung in dem vorliegenden Falle, wo die Gläubigerin in Dresden, der beklagte Bürge in Braunschweig und der Hauptschuldner in Wien wohnt, als vorhanden anzusehen ist. Die l. 199 Dig. de V. S. 50,16 bezeichnet als abwesend denjenigen, welcher sich nicht an demjenigen Orte, an welchem die Klage anzustellen ist, aufhält ( qui non est eo loci, in quo petitur); die I. 173 ebendas. spricht sich in Bezug auf die Stadt Rom näher dahin aus. daß abwesend ist, wer sich nicht in dem Stadtbezirke aufhält ( qui extra continentia urbis est, abest) und die I. ult. §. 1 Cod de praescr. longi temp., 7, 33 läßt den Wohnsitz in derselben Provinz maßgebend sein ( si uterque domicilium in eadem habet provincia, causam inter praesentes esse videri). Die letztere Bestimmung bezieht sich speziell nur auf die verschiedene Dauer der Verjährung gegenüber Anwesenden und Abwesenden; dieselbe Definition wird aber auch in der Nov. 90 cap. 5 hinsichtlich des verschiedenen Verfahrens bei Vernehmung anwesender und abwesender Zeugen befolgt. Hinsichtlich der Vorschrift der Nov. 4 cap. 1 gehen nun die Meinungen in dieser Beziehung nach zwei Richtungen auseinander, indem man es einerseits auf den Aufenthalt in dem erstinstanzlichen Gerichtssprengel, welchem der Wohnort des Gläubigers angehört, und andererseits auf den Aufenthalt in derselben Provinz eines Staates. oder, wenn der Staat nicht in verschiedene Provinzen eingeteilt ist, in demselben Staate, oder auch ( Seuffert, Archiv Bd. 19 Nr. 150) in dem Bezirke desselben obersten Gerichtshofes ankommen lassen will. Von beiden Seiten beruft man sich auf den Ausspruch der l. ult. §. 1 Cod. cit., indem man einerseits in den Vordergrund stellt, daß die römische Provinz ein einziger Gerichtssprengel war, und andererseits das entscheidende Gewicht auf ihre Eigenschaft eines dem Reiche unmittelbar untergeordneten großen Verwaltungsbezirkes legt. Allein man kann in den angeführten Stellen nur eine den damaligen Verhältnissen angepaßte Definition erblicken, und man darf daher, wenn auch davon auszugehen sein mag, daß dieselbe bei den Römern auch der Anwendung der Vorschrift der Nov. 4 cap. 1 zu Grunde gelegt worden ist, gegenwärtig sich für berechtigt halten, bei Anwendung dieser Vorschrift die Frage, wer im Sinne derselben als anwesend oder abwesend anzusehen ist, unter Berücksichtigung der heutigen gänzlich veränderten staatlichen, jurisdiktionellen und Verkehrsverhältnisse zu entscheiden aus dem in diesem Gesetze hervortretenden Grundgedanken, daß dem Bürgen die Rechtswohlthat der Vorausklage zu versagen ist, wenn die Ausklagung des Hauptschuldners wegen seines auswärtigen Aufenthaltes mit soviel größeren Schwierigkeiten verknüpft ist, als diejenige des anwesenden Bürgen, daß dem Gläubiger billiger Weise die Übernahme dieser Schwierigkeiten nicht zugemutet weiden darf. Es ist nun gewiß aus diesem Gedanken auch heutigentags die Folgerung zu ziehen, daß derjenige, welcher einen anwesenden Bürgen, hat, nicht genötigt werden kann, zunächst den in einem auswärtigen Staate wohnenden Hauptschuldner zu belangen, und somit sich einem fremden Prozeßrechte zu unterwerfen und dem anzugehenden Gerichte gegenüber sich in die meistens gesetzlich nachteilige Lage eines Ausländers zu versetzen. Wenn aber der Hauptschuldner in irgend einem anderen Orte des Heimatsstaates des Gläubigers wohnt und somit unter dem Schutze der Gesetze desselben Staates belangt werden kann, so können die mit seiner dortigen Ausklagung verbundenen Umständlichkeiten bei der heutigen Ordnung der Gerichtsverhältnisse und der gerichtlichen Vertretung, sowie bei den heutigen Verkehrseinrichtungen nicht für so erheblich gehalten werden, daß es gerechtfertigt wäre, dem Bürgen die ihm sonst zustehende Einrede der Vorausklage zu entziehen. Hieraus muß man weiter folgern, daß, seitdem die Verfassung des Deutschen Reiches (Art. 3) jedem Deutschen das Recht zusichert, in jedem deutschen Bundesstaate in betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes dem Inländer gleichgeachtet zu werden, und das Deutsche Reich nunmehr auch eine gemeinsame Gerichtsverfassung und Prozeßordnung besitzt, der Umstand, daß Gläubiger und Schuldner in verschiedenen Orten des Deutschen Reiches. und sei es auch in verschiedenen Bundesstaaten, wohnen, den letzteren nicht als abwesend im Sinne der Novelle betrachten lassen kann. Und diesem entsprechend muß auch der Bürge, welcher in einem anderen Bundesstaate wohnt, im Sinne dieses Gesetzes als ein anwesender Bürge behandelt werden. Hiernach ist die in Rede stehende Gesetzesbestimmung im vorliegenden Falle mit Recht angewandt worden."