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RG, 02.12.1884 - III 211/84

Daten
Fall: 
Entschädigung enteigneter Grundstückseigentümer
Fundstellen: 
RGZ 12, 402
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
02.12.1884
Aktenzeichen: 
III 211/84
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Lüneburg
  • OLG Celle

Findet die Vorschrift in §. 260 C.P.O. in dem gerichtlichen Verfahren über die dem Grundeigentümer für die ihm enteigneten Grundstücke zu gewährende Entschädigung Anwendung?

Gründe

"Der Kläger hat am 21. Juni 1872 an die Beklagte zu dem Bau der Wittenberg-Lüneburg-Buchholzer Eisenbahn die in dem Expropriationsverzeichnisse unter den Nr. 19. 20. 23 und 24 verzeichneten Grundstücke abgetreten. In dem auf Grund der hannoverschen Gesetze vom 8. September 1840 und 10. August 1844 stattgehabten Enteignungsverfahren, in welchem der Kläger bezüglich des Grundstückes Nr. 19 Abschätzung nach dem Kapitalwerte, bezüglich der übrigen drei Grundstücke Abschätzung nach dem Ertragswerte gewählt hatte, wurde die ihm zu gewährende Entschädigung durch Resolut des Amtes Dannenberg vom 13. Oktober 1879 im ganzen auf 8188,56 M festgesetzt.

Der Kläger, welcher diese Entschädigung für zu niedrig bemessen erachtete, beschritt den Rechtsweg und forderte, indem er die gleiche Art der Abschätzung wie in dem Verwaltungsverfahren wählte, eine Entschädigung von 308114,30 M. Zum Beweise der von ihm zur Begründung eines höheren Wertes der abgetretenen Grundstücke, bezw. des Minderwertes des ihm verbliebenen Grundbesitzes angeführten Thatsachen benannte er eine Reihe von Zeugen und provozierte zum Nachweise der ihm auf Grund dieser Thatsachen zukommenden höheren Entschädigung auf das Gutachten eines Sachverständigen. Das Landgericht ordnete durch Beweisbeschluß vom 6. Juli 1880 die Vernehmung der von beiden Teilen über die maßgebenden Thatsachen benannten Zeugen an, ernannte den Hofbesitzer Fr. zum Sachverständigen und gab demselben auf, auf Grund der Zeugenaussagen und eigener Besichtigung der Grundstücke ein Gutachten über die in dem Beweisbeschlusse hervorgehobenen Punkte abzugeben. Bezüglich des Grundstückes Nr. 19 wurde das Gutachten darüber gefordert, welchen Verkaufswert die abgetretene Grundfläche für den Kläger unter Berücksichtigung seiner besonderen Verhältnisse und der durch die Abtretung ihm entstandenen Nachteile gehabt habe; ob und inwieweit die in dem Grundstücke befindlich gewesene Geil und Gare, die Verkleinerung des Hofes, ein unter dem Grundstücke befindlich gewesenes Thon- und Sandlager zu berücksichtigen seien, wurde dem Ermessen des Sachverständigen überlassen. Der Sachverständige gelangte in einem eingehend motivierten Gutachten zu dem Resultate, daß dem Kläger für das Grundstück Nr. 19 eine Entschädigung von 10270,80 M zu gewähren sei, indem er den Kapitalwert für entnommenes Thonlager und Sandlager auf 8196,15 M, den Kapitalwert für zwei Morgen 98,6 Quadratruten Acker auf 1990 M und die Entschädigung für Geil und Gare auf 84,65 M schätzte. Die für die drei übrigen Grundstücke zu zahlende Entschädigung schätzte der Sachverständige auf 3232,88 M. Die Beklagte bemängelte dieses Gutachten in verschiedenen Beziehungen. Das Landgericht erachtete dasselbe jedoch in allen Punkten für zutreffend, und setzte die dem Kläger zu gewährende Entschädigung im ganzen auf 13503,68 M fest.

Auf Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht zu Celle die dem Kläger zu gewährende Entschädigung auf 8381,69 M festgestellt.

Diese Entscheidung beruht in mehrfacher Beziehung auf der Verletzung des Gesetzes.

Was zunächst die dem Kläger für die Abtretung des Grundstückes Nr. 19 zu gewährende Entschädigung betrifft, so hat das Berufungsgericht nicht nur den Ansatz des Sachverständigen für Geil und Gare im Betrage von 84,65 M abgesetzt, sondern auch die Abschätzung des Kapitalwertes dieses Grundstückes, weil auf unrichtigen Voraussetzungen beruhend, als unbegründet verworfen, und hat nach eigener freier Überzeugung gemäß §. 260 C.P.O. den dem Kläger durch die Enteignung des Grundstückes Nr. 19 erwachsenen und zu vergütenden Vermögensnachteil, entsprechend dem Durchschnitte der Schätzungen der drei obrigkeitlichen Sachverständigen, auf 6892,23 M festgesetzt. Der Revisionskläger rügt mit Recht, daß hierin eine Verletzung der Vorschrift in §. 260 C.P.O. enthalten sei, indem dieselbe auf einen Fall angewendet worden, für welchen sie nicht gegeben ist.

Um die bei den Schadenprozessen nach den bisherigen Grundsätzen über das Beweisverfahren hervorgetretenen Mißstände, insbesondere die Schwierigkeit des Nachweises der Höhe des eingetretenen Schadens und des Kausalzusammenhanges zwischen der schädigenden Handlung und dem eingetretenen Schaden durch die gewöhnlichen Beweismittel zu beseitigen, ist in §. 260 C.P.O., über den in §. 259 C.P.O. aufgestellten Grundsatz der freien Beweiswürdigung hinausgehend, dem richterlichen Ermessen ein weitgehender Spielraum gewährt, indem über die Frage, ob ein Schade entstanden und wie hoch sich der Schade oder ein zu ersetzendes Interesse belaufe, das Gericht unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung zu entscheiden hat, und seinem Ermessen es überlassen ist, ob und inwieweit eine beantragte Beweisaufnahme oder von Amts wegen die Begutachtung durch Sachverständige anzuordnen sei.

Diese Vorschrift findet aber in dem gerichtlichen Verfahren, betreffend die dem Grundeigentümer für die ihm enteigneten Grundstücke zu gewährende Entschädigung keine Anwendung, weil es sich dabei um die Feststellung eines Schadens im Sinne des §. 260 und des dafür zu gewährenden Ersatzes nicht handelt.

Aus Gründen des öffentlichen Wohles kann das Grundeigentum nur gegen vollständige, der Regel nach vor der Abtretung zu zahlende Entschädigung entzogen oder beschränkt werden. Wie das infolge der Enteignung zwischen dem Exproprianten und dem Expropriaten entstehende Rechtsverhältnis rechtlich zu konstruieren, insbesondere wie der Anspruch des letzteren auf vollständige Entschädigung aufzufassen sei, und welcher Rechtsgrund der Verpflichtung des ersteren zur Zahlung dieser Entschädigung zu Grunde liege, ist in der Theorie und Praxis sehr bestritten. Eine große Zahl von Schriftstellern faßt dieses Rechtsverhältnis als einen notwendigen Verkauf, einen Zwangsverkauf, auf, und es hat diese Auffassung sowohl bei den Gerichten, als in der Gesetzgebung Anerkennung gefunden.1

Folgt man dieser Auffassung, so kann für die Feststellung der dem Expropriaten zu gewährenden Entschädigung, wenn darüber im gerichtlichen Verfahren, nach Erledigung des Verfahrens vor den Verwaltungsbehörden, gestritten wird, die Vorschrift des §. 260 C.P.O. keine Anwendung finden. Denn dann handelt es sich nicht um den Ersatz eines dem Expropriaten zugefügten Schadens, sondern um die Feststellung des Kaufpreises, welcher, statt durch die Vereinbarung der Kontrahenten, in dem gesetzlich geregelten Verfahren durch die Verwaltungsbehörde, bezw. durch das Gericht festgesetzt wird und in dem vollen Werte des enteigneten Grundstückes besteht, welcher nach den verschiedenen Expropriationsgesetzen nach verschiedenen Grundsätzen zu berechnen ist.

Dieser Auffassung, welche in neuerer Zeit lebhaft bekämpft worden ist, stehen aber erhebliche Bedenken entgegen, indem namentlich mit Recht hervorgehoben wird, daß dieselbe auf einer unhaltbaren, dem wahren Sachverhalte nicht entsprechenden Fiktion, der Ergänzung des fehlenden Konsenses des Verkäufers durch das Gesetz, beruhe, welche nicht einmal geeignet sei, die rechtlichen Vorgänge und Wirkungen bei der Enteignung zu erklären, wenn die vom Kauf geltenden Rechtsnormen wirklich zur Anwendung kämen.2

Es ist vielmehr der Ansicht beizutreten, daß das durch die Enteignung entstehende Rechtsverhältnis weder als ein rein privatrechtliches aufzufassen, noch als ein vollständig dem öffentlichen Rechte angehörendes zu betrachten sei, sondern daß die Berechtigung zur Expropriation und die Verpflichtung, dieselbe sich gefallen zu lassen, auf dem öffentlichen Rechte beruhe, daß aber die Wirkungen der Ausübung des Expropriationsrechtes, der Übergang des Eigentumes auf den Exproprianten und die Verpflichtung desselben zur Leistung voller Entschädigung an den Expropriaten dem Privatrechte angehören. Diese Verpflichtung insbesondere ist zwar eine Folge eines im öffentlichen. Rechte begründeten Aktes des Staates, hat aber einen normalen privatrechtlich obligatorischen Charakter. Sie beruht auf einem quasikontraktlichen Verhältnisse und ist gerichtet auf Erstattung des vollen Wertes des enteigneten Grundstückes. Auch bei dieser Auffassung handelt es sich aber in dem gerichtlichen Verfahren, in welchem die in dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren ermittelte und festgesetzte Entschädigung von dem Exproprianten oder dem Expropriaten als zu niedrig, bezw. als zu hoch bemessen angefochten wird, nicht um die Geltendmachung und Festsetzung eines Schadensersatzanspruches, sondern um die Ermittelung und den Ersatz des Wertes des enteigneten Grundstückes unter Berücksichtigung der nach dem betreffenden Expropriationsgesetze für die Ermittelung dieses Wertes aufgestellten Grundsätze. Dabei kann (insbesondere auch, wenn es, wie im vorliegenden Falle nach dem hannoverschen Enteignungsgesetze, um die Abschätzung des Kapitalwertes sich handelt, welche unter Berücksichtigung der örtlichen Kaufpreise und Verhältnisse auf denjenigen Wert zu richten ist, den der Gegenstand bei Verkäufen zu haben pflegt und bei welchem außerdem der besondere Wert zu berücksichtigen ist, welchen der Gegenstand nach den besonderen Verhältnissen des Expropriaten für diesen hatte, sowie die besonderen Nachteile und Verluste, welche für ihn durch die Abtretung entstehen) den Parteien nicht das Recht entzogen oder beschränkt werden, durch die ordentlichen Beweismittel, insbesondere durch Zeugen und Sachverständige, den Nachweis zu führen, wie hoch der Wert des enteigneten Grundstückes sei, bezw. welchen Einfluß die besonderen Verhältnisse auf die Berechnung des Wertes des enteigneten Grundstückes haben. Das Gericht erscheint daher nicht befugt, wenn die Parteien in dem an das Verwaltungsverfahren sich anschließenden, gerichtlichen Verfahren Beweise für die von ihnen über den Wert des enteigneten Grundstückes, bezw. über die Höhe der zu gewährenden Entschädigung geltend gemachten relevanten Thatsachen angeboten haben, diese Beweisaufnahme abzulehnen und in Gemäßheit der Vorschrift in §. 260 C.P.O. aus freier Überzeugung den Betrag der dem Expropriaten zu gewährenden Entschädigung festzusetzen, sondern das Gericht hat die angebotenen Beweise aufzunehmen und über das Ergebnis nach §. 259 C.P.O. nach freier Überzeugung zu entscheiden.

Wenn das Berufungsgericht der Ansicht war, daß die von dem vom Landgerichte auf Antrag des Klägers ernannten Sachverständigen abgegebene Abschätzung des Kapitalwertes des Grundstückes Nr. 19 nicht zutreffend sei, weil der Sachverständige bei derselben von einer unrichtigen Auffassung der maßgebenden gesetzlichen Bestimmungen ausgegangen sei und seine Abschätzung nicht auf feststehende Thatsachen, sondern auf Möglichkeiten gestützt habe, so mußte dasselbe entweder eine neue Abschätzung auf Grund der dem Sachverständigen mitzuteilenden richtigen Rechtsnormen und der als feststehend anzunehmenden Thatsachen oder eine Abschätzung durch einen anderen Sachverständigen anordnen (§. 377 C.P.O.); es durfte aber nicht ohne weiteres den Betrag des dem Kläger zu erstattenden Kapitalwertes seines Grundstückes aus eigener freier Würdigung festsetzen. Wenn dabei der Durchschnitt der Schätzungen der in dem Verwaltungsverfahren vernommenen Sachverständigen zu Grunde gelegt wird, so kann dadurch das eingeschlagene Verfahren nicht gerechtfertigt werden. Denn einerseits bilden die in dem Verwaltungsverfahren abgegebenen Gutachten der Sachverständigen keine Beweismittel für das gerichtliche Verfahren, andererseits hat das Berufungsgericht seine Entscheidung nicht auf Grund eines erhobenen Beweises getroffen, sondern, wie ausdrücklich hervorgehoben wird, auf Grund der Vorschrift in §. 260 C.P.O." ...

  • 1. Vgl. Gerber, Deutsches Privatrecht §. 174 b; Beseler, Deutsches Privatrecht §. 92; Häberlin, Archiv für civilistische Praxis Bd. 39 S. 200; Martin, Archiv f. prakt. Rechtswissenschaft Bd. 9 S. 70; Koch, Deutschlands Eisenbahnen S. 34; Förster-Eccius, Preuß. Privatrecht Bd. 2 S. 170; Dalcke Expropriationsgesetz von 1874 S. 129; Lobell, Das preuß. Enteignungsgesetz S. 22; Seuffert, Archiv Bd. 4 Nr. 117. Bd. 14 Nr. 228, Bd. 34 Nr. 305; Preuß. A.L.R. I. 11. §. 4. Hamburger Gesetz vom 28. April 1841 S. 4. Nassauisches Gesetz vom 12. Juni 1838 §. 19. D. E.
  • 2. Stobbe, Deutsches Privatrecht §. 92; Thiel, Das Expropriationsrecht S. 4 flg.; Meyer, Expropriation S. 192; Stein, Verwaltungslehre Bd. 7 S. 314; Laband, Archiv für civil. Praxis Bd. 52 S. 171; Grünhut, Enteignungsrecht S. 178; Gengler, Deutsches Privatrecht §. 50; Rohlandt, Enteignungsrecht S. 18; Burckhardt, Zeitschrift für Civilrecht und Prozeß. N. F. Bd. L S.221; Seuffert, Archiv Bd. 4 Nr. 41, Bd. 13 Nr. 34. 35. 36, Bd. 25 Nr. 29. D. E.