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BVerfG, 03.06.1969 - 1 BvL 7/68

Daten
Fall: 
Verfassungsmäßigkeit der Nebenklagevorschriften der StPO
Fundstellen: 
BVerfGE 26, 66; JZ 1969, 509; MDR 1969, 730; NJW 1969, 1423
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
1 BvL 7/68
Aktenzeichen: 
03.06.1969
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • AG Herborn, 09.08.1968 - 2 Cs 289/67

Die Regelung der Zulassung der Nebenklage in § 395 Abs. 1 und in § 396 Abs. 2 Satz 1 StPO ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

A.

I.

Gegenstand der Vorlage sind die §§ 395-397 StPO, soweit sie die Zulässigkeit der Nebenklage eines nach § 374 StPO zur Privatklage Berechtigten regeln.

Die StPO räumt in § 395 bestimmten Personen das Recht ein, sich einer erhobenen öffentlichen Klage in jeder Lage des Verfahrens als Nebenkläger anzuschließen. § 395 Abs. 1 und 2 StPO regelt die Nebenklageberechtigung von Privatpersonen. Abs. 1 der Vorschrift lautet wie folgt:

Wer nach Maßgabe der Vorschrift des § 374 als Privatkläger aufzutreten berechtigt ist, kann sich der erhobenen öffentlichen Klage in jeder Lage des Verfahrens als Nebenkläger anschließen. Der Anschluß kann zur Einlegung von Rechtsmitteln auch nach ergangenem Urteil geschehen.

Nach § 396 Abs. 2 Satz 1 StPO hat das Gericht „über die Berechtigung des Nebenklägers zum Anschluß nach Anhörung der Staatsanwaltschaft zu entscheiden”. Der Nebenkläger hat gem. § 397 Abs. 1 StPO nach erfolgtem Anschluß die Rechte des Privatklägers.

II.

1. Dem Ausgangsverfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte stieß bei dem Versuch, mit seinem Pkw von einer Bundesstraße nach links in einen Seitenweg einzubiegen, mit einem Pkw zusammen. Die Fahrerin dieses Pkw war mit ihrem Fahrzeug aus der hinter dem Angeklagten fahrenden Kolonne ausgeschert, um diese zu überholen. Der Angeklagte hatte sich vor dem Einbiegen zur Mitte hin eingeordnet. Ungeklärt ist, ob er seine Richtungsänderung angezeigt hatte. Die Fahrerin wurde verletzt.

Durch Strafbefehl wurde der Angeklagte wegen fahrlässiger Körperverletzung (§§ 230, 232 StGB) in Tateinheit mit einer Übertretung nach §§ 1, 8 Abs. 3, 11 StVO, § 21 StVG mit einer Geldstrafe von 80 DM, ersatzweise 4 Tage Gefängnis, belegt. Gegen diesen Strafbefehl legte der Angeklagte Einspruch ein. Die verletzte Fahrerin, die Strafantrag gestellt hatte, erklärte daraufhin ihren Anschluß als Nebenkläger in.

Das Zivilgericht hat den zwischen ihr und dem Angeklagten schwebenden Zivilrechtsstreit bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Strafverfahren ausgesetzt.

2. Das AG hat über die Berechtigung der Nebenkläger in zum Anschluß noch nicht entschieden. Es hat das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und dem BVerfG die Frage vorgelegt, „ob die Vorschriften über die generelle Zulassung der Nebenklage der §§ 395 bis 397 StPO mit dem GG vereinbar sind”. Zur Begründung der Vorlage führt das AG aus:

Die angeführten Vorschriften der StPO seien mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG nicht vereinbar. Es sei nicht einzusehen, daß die Anschlußberechtigung nur den Verletzten gewährt werde, die zur Privatklage berechtigt seien, während die durch schwerere Straftaten Geschädigten nicht als Nebenkläger auftreten dürften.

Es verstoße gegen das Rechtsstaatsprinzip, daß das Gericht auf Grund der Anschlußerklärung des Verletzten die Nebenklage stets zulassen müsse. Diese Regelung ermögliche einen Mißbrauch des Anschlußrechts, ohne daß das Gericht dem entgegentreten könne. Mit der Nebenklage habe der Gesetzgeber dem Verletzten die Möglichkeit einräumen, wollen, sein Vergeltungsbedürfnis wegen der erlittenen Verletzungen durchzusetzen. In der Praxis diene die Nebenklage jedoch häufig anderen Zwecken. So gehe es den Anschlußberechtigten vor allem bei Verkehrsdelikten oft darum, mit der Nebenklage zivilrechtliche Ansprüche, die in keinem Zusammenhang mit einem Privatklagedelikt stünden, zu klären.

Die generelle Zulassung der Nebenklage beeinträchtige in vielen Fällen den Angeklagten in seiner Verteidigung. Nach § 465 Abs. 1 StPO habe der Angeklagte im Fall seiner Verurteilung die Kosten des Verfahrens, also auch die Kosten der Nebenklage, voll zu tragen. Dies könne den Angeklagten dazu veranlassen, von einem Einspruch abzusehen. Die mit der Zulassung der Nebenklage für den Verurteilten entstehenden Kosten, zu denen auch die Anwaltskosten des Nebenklägers gehörten, stünden bei den Verkehrsdelikten häufig außer Verhältnis zu dem Maß seines Verschuldens und der auszusprechenden Strafe.

Die unzureichende Differenzierung der gesetzlichen Regelung zwinge den Richter zu einer Formalentscheidung, die mit dem Gerechtigkeitsgedanken nicht mehr vereinbar sei. Nach § 396 Abs. 2 Satz 1 StPO sei dem Richter kein Ermessen eingeräumt, obwohl es sich bei der Zulassung der Nebenklage um eine „richterliche Entscheidung” handele.

B.

I.

Die Vorlage ist zulässig. Sie bedarf allerdings der Einschränkung. Für die im Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung sind lediglich die §§ 395 Abs. 1 und 396 Abs. 2 Satz 1 StPO von Bedeutung; denn das vorlegende Gericht hat nur über die Anschlußberechtigung der bei dem Verkehrsunfall verletzten Fahrerin zu entscheiden. Die verfassungsrechtliche Prüfung ist daher auf diese allein entscheidungserheblichen Teile der zur Prüfung gestellten Normen zu beschränken.

II.

§ 395 Abs. 1 und § 396 Abs. 2 Satz 1 StPO sind mit dem GG vereinbar.

1. Diese Bestimmungen geben dem durch eine Straftat Verletzten, der nach Maßgabe des § 374 StPO zur Privatklage berechtigt ist, das vom Gericht nicht einschränkbare Recht, sich der erhobenen öffentlichen Klage in jeder Lage des Verfahrens als Nebenkläger anzuschließen. Dies verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.

§ 395 Abs. 1 StPO steht in engem Zusammenhang mit dem Recht der Privatklage und erhält von hier aus seinen Sinn. Nach § 374 Abs. 1 StPO kann bei bestimmten leichten Vergehen der Verletzte ohne Mitwirkung des StA auf die Bestrafung des Täters im Wege der Privatklage hinwirken. Die Beschränkung der Privatklage auf leichte Vergehen - z.B. Hausfriedensbruch, Beleidigung, einfache Körperverletzung - ist sachgerecht. Sie findet ihren Grund darin, daß diese Delikte in der Regel die Allgemeinheit wenig berühren und selbst der Verletzte bisweilen kein Interesse an ihrer Verfolgung hat. Der Gesetzgeber hat es daher der Entscheidung des Verletzten überlassen, ob die Straftat geahndet werden soll. Nur in Ausnahmefällen, nämlich beim Vorliegen eines öffentlichen Interesses an der Verfolgung, soll die StA Klage erheben (§ 376 StPO). Diese Erwägungen gelten aber nicht für schwerere Delikte, die den Rechtsfrieden empfindlicher stören. An ihrer Ahndung besteht immer ein öffentliches Interesse. Hier obliegt die Strafverfolgung daher allein der StA, die auf Grund des Legalitätsprinzips zur Verfolgung verpflichtet ist.

Mit der Regelung des § 395 Abs. 1 Satz 1 StPO hat der Gesetzgeber berücksichtigt, daß bei den Privatklagedelikten in der Regel der Verletzte nach § 374 StPO selbst auf die Bestrafung des Täters hinwirken kann, um Genugtuung für erlittenes Unrecht zu erlangen. Der Verletzte, der ohne das Eingreifen der StA selbst als Privatkläger auftreten könnte, soll durch die Erhebung der öffentlichen Klage nicht die Möglichkeit verlieren, sein durch § 374 StPO als rechtlich relevant anerkanntes Genugtuungsbedürfnis im Verfahren geltend zu machen. Die Beschränkung des Nebenklagerechts auf die Privatklagedelikte beruht damit auf einer vertretbaren, nicht offensichtlich sachwidrigen Erwägung des Gesetzgebers.

2. Die in §§ 395 Abs. 1, 396 Abs. 2 Satz 1 StPO enthaltene Regelung über die Zulassung der Nebenklage eines Verletzten, der zur Erhebung der Privatklage berechtigt ist, verstößt nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip.

a) Sie enthält keine verfassungsrechtlich unzulässige Beschränkung der Verteidigung des Angeklagten.

Das Recht auf Verteidigung und das Recht auf ein faires Verfahren gehören zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Der Angeklagte darf nicht nur Objekt des Verfahrens sein; ihm muß vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluß zu nehmen (BVerfGE 9, 89 [95] = NJW 59, 427).

Die Regelung der §§ 395 Abs. 1, 396 Abs. 2 Satz 1 StPO verstößt nicht gegen diese Grundsätze eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Die dem Verletzten eingeräumte Befugnis, sich dem durch die öffentliche Klage eingeleiteten Verfahren anzuschließen, und die Zulassung selbst hindern den Angeklagten nicht in seiner Verteidigung: Ihm ist es nicht verwehrt, sich gegen den Vortrag des Nebenklägers zu wenden sowie durch eigene Beweisanträge und Rechtsmittel seinerseits das Verfahren zu beeinflussen.

Entgegen der Auffassung des AG verstößt die Regelung der §§ 395 Abs. 1, 396 Abs. 2 Satz 1 StPO auch nicht deshalb gegen das Rechtsstaatsprinzip, weil dem Angeklagten mit der Zulassung der Nebenklage unter Umständen ein besonderes Kostenrisiko erwächst. Soweit nämlich dieses Kostenrisiko den Angeklagten möglicherweise an der Wahrnehmung seiner Rechte hindert, beruht diese Beeinträchtigung nicht auf den zur Prüfung gestellten Vorschriften, sondern allein auf der Kostenregelung des § 465 Abs. 1 StPO. Die Vorschrift des § 465 Abs. 1 StPO hat das Gericht aber nicht zur Prüfung vorgelegt; sie ist im gegenwärtigen Stadium des Ausgangsverfahrens auch nicht entscheidungserheblich, weil lediglich über die Zulassung der Nebenklage zu entscheiden ist. Für diese Entscheidung sind allein die zur Prüfung vorgelegten Bestimmungen von Bedeutung; diese enthalten aber keine Kostenregelung. Die §§ 395 Abs. 1, 396 Abs. 2 Satz 1 StPO beschränken den Angeklagten somit weder gewollt noch ungewollt in seinen Rechten.

b) Es ist auch nicht zu beanstanden, daß das Gericht die Nebenklage ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalles, insbesondere das Interesse des Nebenklägers am Anschluß, das Ausmaß der Verletzungen des Nebenklägers und sein etwaiges Mitverschulden, zulassen muß. Das Rechtsstaatsprinzip gebietet nicht zwingend, daß dem Gericht eine weitergehende als die ihm nach der jetzigen Regelung zustehende Entscheidungsbefugnis eingeräumt wird.

Ob einzelne Vorschriften über die Nebenklage reformbedürftig sind, ist eine rechtspolitische Frage, die das BVerfG bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit nicht zu entscheiden hat.