RG, 06.11.1883 - II 262/83
Darf der Richter den Kausalzusammenhang zwischen Verschulden und Unfall deshalb als gegeben erachten, weil bei Beobachtung der in Frage stehenden Vorsichtsmaßregel, der Regel nach, der Unfall verhütet worden wäre?
Tatbestand
Am 15. September 1880 war K. im Steinbruche des S. beschäftigt, unter Beihilfe anderer Arbeiter einen großen Stein aus seiner Lage zu entfernen. Infolge des Umstandes, daß der Stein wegen eines in demselben befindlichen Stiches (Sprung) in vertikaler Richtung sich in zwei Teile spaltete, fiel ein schweres Stück des Steines auf K. und verursachte dessen Tod. Dessen Witwe erhob Klage auf Entschädigung, welche vom ersten Richter abgewiesen, vom zweiten für begründet erklärt wurde. Die eingelegte Revision wurde zurückgewiesen aus folgenden Gründen:
Gründe
"Das Oberlandesgericht stellt zunächst thatsächlich fest, daß die Versäumung einer Untersuchung des Steines ein Verschulden bilde, welches der Beklagte, sei es nach Art. 1383, sei es nach Art. 1384 Code civil zu vertreten habe und erklärt sodann, eine gehörige Untersuchung des Steines würde der Regel nach zur Entdeckung des Stiches, welcher den Unfall veranlaßte, geführt und somit den Unfall verhütet haben, weshalb der Kausalzusammenhang solange anzunehmen sei, bis im Wege des Gegenbeweises ein Ausnahmefall dargethan sei.
Gegen diese letztere Erklärung richten sich die Angriffe des Revisionsklägers, indem geltend gemacht wird, es bekunde sich darin eine Verkennung der Regeln der Beweislast.
Diese Rüge erscheint nicht begründet.
Zunächst ist es unrichtig, wenn behauptet wird, das Oberlandesgericht habe eine die Kläger von der Beweislast entbindende Vermutung aufgestellt, ähnlich derjenigen, welche in den §§. 25. 26 preuß. A.L.R. I. 6 ausgesprochen ist, denn dasselbe verkennt keineswegs, daß die Kläger den Kausalzusammenhang zwischen Verschulden und Schaden zu erweisen hatten, es erachtet jedoch diesen Beweis für erbracht, weil feststehe, daß der Regel nach, d. h. nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge, ohne das in Frage stehende Verschulden der Schade nicht entstanden sein würde.
Bei dieser Erwägung bewegt sich das Oberlandesgericht auf dem Gebiete thatsächlicher Würdigung. Wenn schon nach §. 259 C.P.O. dem Richter volle Freiheit gegeben ist, unter Berücksichtigung des gesamten Inhaltes der Verhandlung und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme zu entscheiden, ob eine thatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei, so tritt nach §. 260 a. a. O. die Freiheit richterlicher Würdigung in noch erhöhtem Maße ein, wenn es sich um die Frage handelt, ob ein Schade entstanden sei und wie hoch sich der Schade belaufe. Über diese beiden Fragen soll der Richter nach freiestem Ermessen, ohne jede Hemmung durch Beweisregeln und Beweiserbieten entscheiden dürfen.
Wie schon der Wortlaut ergiebt, übrigens in den Motiven zu §. 250 des Entwurfes (jetzt §. 260) der Civilprozeßordnung ausdrücklich ausgesprochen ist, und zwar unter Bezugnahme auf die norddeutschen Protokolle S 686, erstreckt sich dieses freie Ermessen namentlich auch auf die Frage des Kausalzusammenhanges zwischen Schaden und Verschulden. Es kann demnach keine Rechtsverletzung darin gefunden werden, wenn der Richter erklärt, er nehme zwar nur als erwiesen an, daß nach dem gewöhnlichen Gange der Dinge (der Regel nach) der Schade nicht eingetreten sein würde, wenn das in Frage stehende Verschulden nicht stattgefunden, erachte aber danach den Kausalzusammenhang für gegeben, solange nicht ein Ausnahmefall erwiesen sei. Er macht hiermit nur von dem ihm zustehenden Ermessen Gebrauch in gleicher Weise wie im Falle, wo er auf bloße Wahrscheinlichkeitsgründe hin die Höhe des Schadens festsetzt. Ein Rechtsgrundsatz des Inhaltes, daß der Richter den Kausalzusammenhang nur annehmen dürfe, wenn er die Überzeugung habe und feststelle, daß der Schade die notwendige, jede andere Möglichkeit ausschließende Folge des Verschuldens gewesen sei, ist nicht anzuerkennen, jedenfalls nicht dem §. 260 a. a. O. gegenüber. Ein solcher Rechtssatz würde zur Folge haben, daß bei Versäumung von Vorsichtsmaßregeln, die nur relativen Schutz gewähren, die nicht geeignet sind, gewisse Unfälle gänzlich auszuschließen, sondern nur der Regel nach ihr Eintreten zu verhindern, es geradezu unmöglich sein würde, den Beweis des Kausalzusammenhanges zu führen. In derartigen Fallen läßt sich nachträglich nie mit voller Sicherheit bestimmen, was eingetreten sein würde, wenn die Vorsichtsmaßregel befolgt worden wäre. Die Folge wäre, daß derjenige, welcher durch sein Verschulden den Beschädigten in die schlimme Lage versetzt hat, einen strengen Beweis des Kausalzusammenhanges nicht führen zu können, diese Lage zu seinem Vorteile ausbeuten und die Verantwortlichkeit für seine widerrechtliche Handlung mit dem einfachen Hinweise auf die Möglichkeit, daß, trotz Beobachtung der Vorsichtsmaßregel, der Unfall sich dennoch hätte ereignen können, ablehnen könnte.
Solche Übelstände zu verhüten, ist eben der Zweck des §. 260 a. a. O. Vgl. Entsch. des R.G.'s in Civils. Bd. 1 S. 274. 275."