RG, 06.11.1880 - I 832/80

Daten
Fall: 
Voraussetzungen der Annahme eines Gewohnheitsrechtes
Fundstellen: 
RGZ 2, 182
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
06.11.1880
Aktenzeichen: 
I 832/80
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Hamburg.
  • OLG Hamburg.

Ist die zur Annahme eines Gewohnheitsrechtes erforderliche Übung einer Rechtsregel vorhanden, wenn die Handelnden einer Gesetzesvorschrift nachzukommen glaubten?

Tatbestand

Das Hamburger Baupolizeigesetz vom 3. Juli 1865 bestimmt im §. 71 Abs. 5 bezüglich der Benutzung des Luftraumes über dem öffentlichen Grunde, daß aus den Mauern hervortretende Erker nur unter gewissen, durch das Gesetz bestimmten Voraussetzungen zugelassen werden sollen.

Der Kläger erhielt auf die der Polizeibehörde gemachte Anzeige von einem beabsichtigten Neubau den Bescheid, daß der von ihm beabsichtigte, nahezu zwei Drittel der ganzen Breite des Gebäudes einnehmende und durch mehrere Stockwerke gehende Vorbau nicht gestattet werden könne, weil er seines Umfanges halber nach architektonischen Begriffen nicht mehr als Erker gelten könne.

Er klagte gegen die Baupolizeibehörde mit dem Antrage, seine Berechtigung, den projektierten Erker an seinem Hause anzubringen, festzustellen.

Das Landgericht entsprach durch Urteil vom 17. April 1880 dem Klagantrage, indem es zwar annahm, daß der in Rede stehende Vorbau kein Erker im Sinne des §. 71 sei, aber ein Gewohnheitsrecht, wonach Vorbauten der hier fraglichen Art den Erkern gleich behandelt werden, für festgestellt erachtete.

Das Oberlandesgericht wies die Klage ab und das Reichsgericht verwarf die Revision aus folgenden Gründen:

Gründe

"Die angefochtene Entscheidung ist nach §§. 524. 525 C.P.O. der Nachprüfung des Revisionsgerichts insoweit entzogen, als sie den Inhalt und Sinn des §. 71 des Baupolizeigesetzes und die Frage betrifft, ob der von dem Kläger beabsichtigte Vorbau ein Erker im Sinne des gedachten §.71 sei. Nur insoweit ist dieselbe in dritter Instanz zu prüfen, als das vom ersten Richter angenommene Gewohnheitsrecht, wonach Vorbauten der hier fraglichen Art, welche in architektonischem Sinne unter den Begriff eines Erkers nicht fallen, in baupolizeilicher Hinsicht den Erkern gleich geachtet werden, von dem Berufungsrichter nicht anerkannt worden ist.

Revisionskläger ficht diese Entscheidung als gegen die gemeinrechtlichen Grundsätze über Gewohnheitsrecht verstoßend an.

Die Statthaftigkeit dieses Angriffes unterliegt keinem Bedenken, obgleich das Gewohnheitsrecht, um welches es sich handelt, nicht über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus sich erstrecken soll, und die Entscheidung des letzteren über Bestehen und Inhalt eines solchen Gewohnheitsrechtes nach §.12 des Einführungsgesetzes zur C.P.O. für das Revisionsgericht ebenso maßgebend ist, wie nach §. 525 der C.P.O. die Entscheidung über Bestehen und Inhalt eines Gesetzes von gleichem Geltungsbereich. Die Bestimmung des §. 525 setzt voraus, daß die Entscheidung des Berufungsgerichts bezüglich einer nur in feinem Bezirk geltenden Rechtsnorm sich ausschließlich auf dem Boden des dortigen Partikularrechts bewegt. Beruht dieselbe dagegen auf Rechtsnormen, deren Geltung sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt, so ist sie im Falle der unrichtigen Anwendung oder der Nichtanwendung dieser Normen nach §§. 512. 525 anfechtbar. Dies ist bereits in den Motiven zu §§. 487. 488. 501. 502 des Entwurfes der C.P.O. unter II für den Fall hervorgehoben, daß ein Konflikt zwischen dem Reichsrecht oder gemeinen Recht und dem partikularen Recht in Frage steht. Dasselbe gilt aber auch, wenn die Frage des Bestehens einer partikularen Rechtsnorm nach Rechtsregeln zu entscheiden ist, welche für einen größeren Bezirk Geltung haben. Die Revision kann daher darauf gestützt werden, daß das angefochtene Erkenntnis gegen die in Ermangelung partikularrechtlicher Bestimmungen auch in Hamburg geltenden gemeinrechtlichen Grundsätze über Gewohnheitsrecht verstoße.

Als begründet aber ist dieser Angriff nicht zu erachten.

Zwar erregt die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses Bedenken insofern, als angenommen wird, daß es der von dem Kläger für seine Ansprüche geltend gemachten Übung an der zur Bildung eines Gewohnheitsrechtes erforderlichen rechtlichen Überzeugung fehle. Diese Übung bestand nach der Feststellung der Vorrichter darin, daß in einer größeren Anzahl von Fällen seit dem Erlaß des Baupolizeigesetzes Bauten der fraglichen Art in Ausführung gekommen sind, ohne daß jemals seitens der Baupolizeibehörde auf erhaltene Anzeige von dem beabsichtigten Bau Einsprache erhoben worden wäre. Um hierin die Übung eines Gewohnheitsrechtes zu erblicken, ist zu prüfen, in welcher Meinung einerseits die Bauenden Bauten der fraglichen Art errichtet haben, und andererseits die Baupolizeibehörde solche zu verhindern unterlassen hat. Was die Bauenden betrifft, so ist von dem Berufungsgericht nichts festgestellt worden, was die Annahme begründen könnte, daß dieselben in anderer Meinung gehandelt hätten, als um eine ihnen vermeintlich nach dem Baupolizeigesetz zustehende Befugnis auszuüben; es ist ohne weiteres anzunehmen, daß durch die Nichthinderung des beabsichtigten und angezeigten Baues seitens der Baupolizeibehörde die Überzeugung von der Gesetzmäßigkeit desselben in ihnen hervorgerufen oder bestärkt wurde. Was dagegen die Baupolizeibehörde betrifft, so muß angenommen werden, daß sie die Bauten nicht hinderte, weil sie der Ansicht war, dieselben nach dem Baupolizeigesetz zulassen zu müssen. Denn nach §. 8 des Baupolizeigesetzes lag ihr die Pflicht ob, in allen an sie gelangenden Fällen dieses Gesetz aufrecht zu halten; sie hatte die Befugnis, Dispensationen zu bewilligen, nur in den gesetzlich zugelassenen Fällen, und die Befugnis, nach freiem Ermessen der Umstände vorzugehen, nur insofern, als das Gesetz auf ein solches verweist, was im §. 71 nicht der Fall ist. Die Unterstellung des Berufungsgerichts, daß man es wahrscheinlich in einigen Fällen für zulässig gehalten habe, Nachsicht zu üben und nicht strenge auf der in Rede stehenden Vorschrift zu bestehen, ist durch keine thatsächliche Feststellung begründet, und eine deshalbige Vermutung kann um so weniger zur Grundlage des Erkenntnisses dienen, als im Gegenteil für die Gesetzmäßigkeit des Verhaltens öffentlicher Behörden die Rechtsvermutung streitet. Man muß daher sowohl auf seiten der Bauenden die Überzeugung, daß die Polizeibehörde den Bau nicht hindern dürfe, als auf seiten der letzteren die Überzeugung, daß sie den Bau nach Maßgabe des Baupolizeigesetzes zulassen müsse, unterstellen.

Gleichwohl ist der Annahme des Berufungsgerichts beizutreten, daß diese Überzeugung nicht ausreiche, die Übung eines Gewohnheitsrechtes darzuthun. Denn wenn sowohl seitens der Bauenden als seitens der Baupolizeibehörde die Meinung bestand, daß ihr Verfahren dem Baupolizeigesetze entspreche, so ist eben hierdurch die Meinung ausgeschlossen, daß dasselbe infolge einer von dem Baupolizeigesetze abweichenden, neben demselben oder trotz desselben geltenden Rechtsregel sich rechtfertige. Die beiderseitigen Handlungen oder Unterlassungen stellen sich daher lediglich als - wirkliche oder vermeintliche - Anwendung des Gesetzes, nicht als Übung des Gewohnheitsrechtes dar. Dies ist zunächst außer Zweifel hinsichtlich derjenigen Fälle, welche zuerst nach Erlaß des Baupolizeigesetzes, also zu einer Zeit vorkamen, wo von einer dasselbe abändernden Gewohnheit noch gar nicht die Rede sein konnte. Aber auch wenn später durch gleichartige Behandlung gleicher Fälle eine feste Praxis der Baupolizeibehörde in der in Rede stehenden Beziehung entstand, erscheint das Verhalten derselben in den späteren Fällen doch immer nur als eine Wiederholung des schon in den früheren Fällen beobachteten Verfahrens, mithin, wie in letzteren, lediglich als eine Anwendung des bestehenden Gesetzes, nicht als Ausdruck einer vom geschriebenen Rechte unabhängigen Rechtsüberzeugung. Wenn es auch denkbar ist, daß bezüglich der Anwendung eines Gesetzes ein Gewohnheitsrecht sich bildet, welches den Richter nötigt, das Gesetz in dem durch die Gewohnheit bestimmten Sinne aufzufassen und anzuwenden, sollte er auch für seine Person überzeugt sein, daß das Gesetz diesen Sinn nicht habe, so genügt doch zur Annahme einer solchen sogenannten Usualinterpretation, bei welcher es sich nicht sowohl um Auslegung, als vielmehr um Ausdehnung oder Abänderung des Gesetzes handelt, nicht die Thatsache allein, daß das Gesetz immer in diesem Sinne angewendet worden ist, sondern es müssen, wie das Berufungsgericht mit Recht hervorhebt, Umstände hinzutreten, welche den Schluß auf ein von dem Gesetze unabhängiges Gewohnheitsrecht rechtfertigen. Dergleichen Umstände sind im vorliegenden Falle nicht festgestellt."