RG, 03.10.1883 - I 237/83

Daten
Fall: 
Zusprechung einer Entschädigung nach Feststellung des Betrages durch Sachverständige
Fundstellen: 
RGZ 10, 172
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
03.10.1883
Aktenzeichen: 
I 237/83
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Neustrelitz
  • OLG Rostock

1. Unter welchen Voraussetzungen können gegenseitige Verpflichtungen die rechtliche Natur von Realisten annehmen?
2. Ist der Antrag auf "Zusprechung einer Entschädigung nach Feststellung des Betrages durch Sachverständige" prozessualisch unzulässig?
3. Ist die Beschwerde des Beklagten und Revisionsklägers gegen die Verwerfung eines Entschädigungsanspruches in angebrachter Art auch dann zu beachten, wenn er in der Revisionsinstanz erklärt, daß er Beschwerde erhoben habe, weil nicht die definitive Verwerfung des Anspruches erfolgt sei, insoweit aber die Beschwerde sich als unbegründet darstellt?

Tatbestand

Die Kläger, Besitzer kleiner Büdnereien, machen unter Berufung auf Unvordenklichkeit geltend, daß die Besitzer ihrer Büdnereien verpflichtet seien, in der Ernte auf dem Gute Kr. zu arbeiten, Hilfe beim Richten der Gutsgebäude zu leisten u. s. w., daß andererseits aber auch der Besitzer des Gutes Kr. verpflichtet sei, den Büdnern einen bestimmten Lohn, Winterfutter für eine Kuh und andere Emolumente zu gewähren. Der beklagte Gutsbesitzer hat das Verhältnis durch Kündigung zu lösen versucht. Vom Oberlandesgerichte ist jedoch nach Beweisaufnahme angenommen, daß das von den Klägern behauptete Verhältnis unkündbar und mit realem Charakter bestehe, und ist demgemäß Beklagter verurteilt worden, den Klägern gegen die von ihnen für einen Tagelohn von 50 Pf. zu leistende Arbeit in der Heu- und Roggenernte, Hilfe beim Richten von Gebäuden u. s. w. alljährlich bestimmte Emolumente zu gewähren. Dagegen sind die von den Klägern geltend gemachten Ansprüche auf Entschädigung wegen nicht gelieferten Kartoffel- und Roggenlandes in angebrachter Art abgewiesen. Die vom Beklagten eingelegte Revision ist zurückgewiesen aus folgenden Gründen:

Gründe

"Der Hauptangriff gegen das zweite Urteil ist unbegründet. Der Berufungsrichter hat angenommen, daß mit dem Besitze der Büdnerstellen einerseits und dem des Gutes andererseits die fraglichen Berechtigungen und Lasten dauernd und unkündbar mit realem Charakter verbunden sind. Dem Revisionsangriffe gegenüber ist zu untersuchen, ob diese Annahme juristisch zulässig ist und ob eventuell die erforderlichen Grundlagen für dieselbe in tatsächlicher Begründung vorliegen. Beide Fragen sind zu bejahen.

Dauernde Lasten und Rechte der zur Frage stehenden Art sind in der Form der Reallasten sehr wohl denkbar. Freilich sind die Reallasten der Regel nach nur auf Verhältnisse angewendet, in welchen einseitige Verpflichtungen in der Weise geregelt werden sollen, daß das verpflichtete Subjekt durch den Besitz eines Grundstückes bestimmt wird, während das berechtigte Subjekt entweder durch den Besitz eines Grundstückes oder durch einen anderen Zustand oder auch individuell gegeben ist. Begrifflich steht aber nichts entgegen, das durch den Besitz bestimmte berechtigte Subjekt zugleich für Leistungen, welche als konnexe Gegenleistungen für das Forderungsrecht erscheinen, zum verpflichteten Subjekte auf Grund seines Besitzes zu machen und auf diesem Wege dem auf gegenseitige Leistungen abzielenden Verhältnisse den Charakter einer gegenseitigen Reallast mit entsprechendem Forderungsrechte zu verleihen. Voraussetzung eines solchen Verhältnisses ist die Natur der gegenseitigen Leistungen. Handelt es sich um solche gegenseitige Leistungen, welche sich nach dem Willen der Beteiligten niemals erschöpfen, vielmehr in einer einheitlichen, auf ihre dauernde Gewährung gerichteten Obligation aufgehen sollen, so ist ein solches Verhältnis seiner Natur nach wohl geeignet, an den Besitz eines bestimmten Grundstückes auf beiden Seiten angeknüpft zu werden und hiermit die Natur einer gegenseitigen Reallast anzunehmen. Diesem theoretischen Ergebnisse entspricht auch die geschichtliche Entwickelung; es finden sich bei Reallastberechtigungen, insbesondere bei Fronverhältnissen, auch entsprechende Verpflichtungen des durch den Besitz des Grundstückes bestimmten berechtigten Subjektes in der Weise, daß der Fronpflichtige, solange er zur Arbeit bereit ist, Anspruch auf gewisse Emolumente hat.1

Ist es aber an sich rechtlich zulässig, in ihrer Dauer unbeschränkte gegenseitige Leistungen durch Anknüpfung an ein Grundstück auf berechtigter und verpflichteter Seite zum Objekte von Reallasten zu machen, so kann die Anwendung dieses Satzes auf das zur Frage stehende Verhältnis keinem Bedenken unterliegen. Dasselbe umfaßt stetig wiederkehrende gegenseitige Leistungen und ermöglicht hierdurch die wirtschaftliche Existenz der Besitzer der Büdnereien, während es zugleich für den Besitzer des Gutes ein dauerndes wirtschaftliches Interesse bietet. Wenn sich in dem ganzen Verhältnisse nach Art der Leistungen und Gegenleistungen eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem gewöhnlichen Tagelöhnerverhältnisse zeigt, so hat hierin nur ein Grund zur genauen Prüfung der Frage liegen können, ob denn in der That die Büdner und der Gutsbesitzer für die zur Frage stehenden Leistungen in ein von der Willkür der Verpflichteten unabhängiges dauerndes Verhältnis haben treten wollen. Der Berufungsrichter hat aber auch gerade nach dieser Seite hin das Erforderliche erwogen, und wenn er einerseits das Bedürfnis zu einer festen Gestaltung der gegenseitigen Beziehungen auf beiden Seiten hervorhebt und andererseits in der über Menschengedenken fortgesetzten gleichmäßigen Übung die gegenseitige Anerkennung eines von einseitiger Willkür unabhängigen Verhältnisses erblickt, so ist diese wesentlich thatsächliche Betrachtung durchaus geeignet, seine schließliche Annahme von der Anknüpfung der Last und des Rechtes an den Besitz der Grundstücke und von der Unzulässigkeit einseitiger Lösung des Verhältnisses zu begründen. Die Anwendbarkeit des Rechtsinstitutes der Unvordenklichkeit auf die zur Frage stehenden Lasten und Rechte ist unbedenklich, nachdem Theorie und Praxis sich dafür entschieden hat, daß dasselbe bei allen Rechten, welche eine fortdauernde Ausübung gestatten, insbesondere auch bei Reallasten, Platz greift. Die Erfordernisse der Unvordenklichkeit sind damit gegeben, daß der Richter als Ergebnis der Beweisaufnahme feststellt, daß die bejahrten Zeugen für ihre eigene Lebenszeit das Bestehen des betreffenden Zustandes bezeugt haben und aus Mitteilungen ihrer Vorfahren keine Erinnerungen an einen entgegengesetzten Zustand besitzen. Hierdurch wird die Vermutung eines rechtmäßigen Erwerbes der zur Frage stehenden Rechte für Kläger und Beklagten begründet. Daß die Nachweisung einer Unterbrechung des Zustandes den Beweis der Unvordenklichkeit beseitigt, hat der Berufungsrichter nicht verkannt; ob aber in einer konkreten Zuwiderhandlung eine wirkliche Unterbrechung des Zustandes oder nur eine die Unvordenklichkeit nicht aufhebende Besitzstörung zu finden ist, ist zunächst Sache der thatsächlichen Beurteilung, und wenn der Berufungsrichter in der vor längerer Zeit einmal stattgefundenen Nichtleistung von Arbeiten seitens zweier Kläger und in einer entsprechenden teilweisen Vorenthaltung der gutsherrschaftlichen Leistungen in Berücksichtigung der konkreten Veranlassung und des alsbald wieder eingetretenen normalen Verhältnisses nur eine Störung, nicht eine Unterbrechung des Zustandes findet, so ist hierin eine rechtsirrtümliche Auffassung in keiner Weise zu erblicken.

Bedenklicher ist die vom Beklagten und Revisionskläger ebenfalls angefochtene Abweisung des Entschädigungsanspruches für vorenthaltenes Kartoffel- und Roggenland in angebrachter Maße. Wenn der Berufungsrichter den Antrag auf "Zusprechung einer Entschädigung nach Feststellung des Betrages durch Sachverständige" für unzulässig erklärt, so verkennt er die ihm aus den §§. 130 260 C.P.O. erwachsene Stellung. Gegenüber der ihm obliegenden freien Würdigung bei Schadensansprüchen unter eventueller amtlicher Zuziehung von Sachverständigen ist der Umstand, daß Kläger die Bezifferung des Schadens unterläßt und auf die Ermittelung des Betrages durch Sachverständige provoziert, kein ausreichender Grund zur Zurückweisung des Anspruches, um so weniger, als dem Richter die Aufgabe zugewiesen ist, etwaige Unvollständigkeiten der Parteivorträge durch geeignete Fragen zu beseitigen. Die Kläger würden daher Grund zur Beschwerde gehabt haben. Auch die Beschwerde des Beklagten würde begründet sein, wenn sie zu dem Zwecke erhoben wäre, um eine Entscheidung über die Höhe der Entschädigung im gegenwärtigen Rechtsstreite herbeizuführen. Der Revisionskläger hat aber, wie sein Vertreter auf Befragen ausdrücklich anerkannt hat, Beschwerde erhoben, weil nicht die definitive Verwerfung des erhobenen Entschädigungsanspruches erfolgt ist. Diese Beschwerde ist unbegründet, nachdem der einseitige Rücktritt des Beklagten aus dem gegenseitigen Verhältnisse für unzulässig erklärt worden ist."

  • 1. Vgl. über die untrennbare Verbindung von Recht und Pflicht bei dem s. g. Scheundrusch das Urteil des Ob.-App.-Ger. zu Jena von 1844 in Emminghaus, Pandekten des gemeinen sächsischen Rechtes S. 486.