BVerfG, 30.11.1955 - 1 BvL 120/53
1. Die Gewährung eines besonderen strafrechtlichen Ehrenschutzes für die im politischen Leben des Volkes stehenden Personen (§ 187 a StGB) verstößt nicht gegen das Grundgesetz.
2. Aussetzung und Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG sind bereits vor der Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 203 StPO) zulässig.
Beschluß
des Ersten Senats vom 30. November 1955
– 1 BvL 120/53 –
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 187 a des Strafgesetzbuches auf Antrag des Landgerichts Traunstein – 1. Strafkammer – in der Strafsache gegen Sch. – KMs 8/53 –
Entscheidungsformel:
§ 187 a des Strafgesetzbuchs ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
Gründe:
I.
1.
In der Strafsache gegen den Gewerkschaftssekretär Sch. wegen übler Nachrede (§§ 186, 187 a StGB) hat die 1. Strafkammer des Landgerichts Traunstein vor der Eröffnung des Hauptverfahrens am 10. September 1953 beschlossen, das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, ob § 187 a StGB mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Nach der Anklage hat der Angeschuldigte in einem von jedermann einzusehenden Schaukasten des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Wasserburg am Inn einen Ausschnitt aus der Zeitung "Welt der Arbeit" aushängen lassen, in dem Stellung genommen wurde zu Äußerungen des damaligen Bundesjustizministers Dr. Dehler über die Gewerkschaften. Unter den Zeitungsausschnitt hat der Angeschuldigte mit Schreibmaschine u. a. folgende Bemerkung setzen lassen: "So will Herr Dehler die parteipolitische Neutralität der Gewerkschaften verstanden wissen: Daß er auf uns mit unwahren Behauptungen, Beleidigungen und Zuchthausandrohungen losgehen kann und wir eben dann, wenn wir uns rechtfertigen, nach seiner Auffassung zuchthauswürdig werden."
Nach Ansicht des Landgerichts Traunstein kommt es für die Entscheidung in der Strafsache auf die Gültigkeit des durch das Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. August 1951 (BGBl. I S. 739) in das Strafgesetzbuch eingefügten § 187 a StGB an. Die Vorschrift lautet:
"Wird gegen eine im politischen Leben des Volkes stehende Person öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreitung von Schriften, Schallaufnahmen, Abbildungen oder Darstellungen eine üble Nachrede (§ 186) aus Beweggründen begangen, die mit der Stellung des Beleidigten im öffentlichen Leben zusammenhängen, und ist die Tat geeignet, sein öffentliches Wirken erheblich zu erschweren, so ist die Strafe Gefängnis nicht unter drei Monaten.
Eine Verleumdung (§ 187) wird unter den gleichen Voraussetzungen mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft."
Das Landgericht hält diese Bestimmung für verfassungswidrig und führt hierzu aus:
§ 187 a StGB erweitere den Ehrenschutz zugunsten von "Personen, die im politischen Leben des Volkes stehen" und schaffe damit zwei Gruppen von Rechtsgenossen, nämlich eine Gruppe, deren Ehre nur der allgemeine Schutz nach §§ 186, 187 StGB zuteil werde, und eine privilegierte Gruppe, die den weitgehenden Ehrenschutz des § 187 a StGB genieße. Hierin liege eine durch sachliche Gesichtspunkte nicht gerechtfertigte und deshalb dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG widersprechende "Differenzierung der Ehre". Die durch die §§ 185 ff. StGB geschützte "äußere Ehre" stehe jedem Rechtsgenossen, dem Hilfsarbeiter wie dem Universitätsprofessor, in gleicher Weise zu. Gründe, die Ehre von Personen des politischen Lebens im höheren Staatsinteresse verstärkt zu schützen, seien nicht ersichtlich. Wer sich am politischen Leben beteilige, tue dies freiwillig und setze sich damit freiwillig in höherem Maße der öffentlichen Kritik aus. Auch Personen, wie z.B. Oberlandesgerichtspräsidenten oder Leiter von Behörden seien in erhöhtem Maße Angriffen auf ihre Ehre ausgesetzt, ohne daß ihnen jedoch ein erhöhter Ehrenschutz zugebilligt worden sei oder zugebilligt werden könnte.
Es komme hinzu, daß der durch § 187 a StGB geschützte Personenkreis nicht abgrenzbar sei. Im politischen Leben des Volkes stehe letzten Endes jeder, der sich in irgendeiner Form und in irgendeinem Grade mit Fragen des öffentlichen und politischen Lebens auseinanderzusetzen habe. Der Straftatbestand des § 187 a StGB sei zu unbestimmt, deshalb "unbrauchbar" und willkürlichen Erwägungen preisgegeben. Auch insofern sei der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG durchbrochen.
2.
Das Bundesverfassungsgericht hat gemäß §§ 82, 77 BVerfGG dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung, sämtlichen Landesregierungen, dem Oberstaatsanwalt bei dem Landgericht Traunstein und dem Angeschuldigten Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Von dieser Möglichkeit haben der Bundestag, die Bundesregierung und die Regierung des Freistaates Bayern Gebrauch gemacht, ohne dem Verfahren gemäß § 82 Abs. 2 BVerfGG beizutreten. Sie vertreten übereinstimmend die Auffassung, daß § 187 a StGB mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
II.
Das Bundesverfassungsgericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß entscheiden, da kein Verfassungsorgan dem Verfahren beigetreten ist (vgl. BVerfGE 2, 213 [217 f.]).
1.
Der Antrag ist zulässig. Insbesondere steht seiner Zulässigkeit nicht entgegen, daß er vor Eröffnung des Hauptverfahrens gestellt ist. Das Gericht hat bereits in diesem Abschnitt des Verfahrens die Pflicht, den Sachverhalt unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Nach § 207 StPO hat es im Eröffnungsbeschluß nicht nur die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat, sondern auch das anzuwendende Strafgesetz zu bezeichnen. Das Gericht muß sich also bereits vor Eröffnung des Hauptverfahrens über die Gültigkeit der in Betracht kommenden Strafnormen schlüssig werden und gegebenenfalls nach Art. 100 Abs. 1 GG verfahren.
2.
Entgegen der Auffassung des vorlegenden Gerichts ist § 187 a StGB mit dem Grundgesetz vereinbar.
§ 187 a StGB unterscheidet nicht zwischen der Ehre der im politischen Leben des Volkes stehenden Personen und der Ehre anderer Personen. Die Vorschrift sieht eine Strafschärfung nicht schlechthin bei Verletzung der Ehre einer im politischen Leben des Volkes stehenden Person vor, sondern nur dann, wenn die üble Nachrede oder die Verleumdung öffentlich oder in gleichwertiger Art begangen worden ist, und zwar aus Beweggründen, die mit der Stellung des Beleidigten im öffentlichen Leben zusammenhängen; weiterhin muß die Tat geeignet sein, das öffentliche Wirken des Beleidigten erheblich zu erschweren. Die erhöhte Strafandrohung des § 187 a StGB kommt also keineswegs in jedem Fall zur Anwendung, in dem eine im politischen Leben des Volkes stehende Person beleidigt worden ist, sondern hängt von tatbestandsmäßig umschriebenen und im Einzelfall festzustellenden Umständen ab. Ein Verstoß gegen Art. 3. Abs. 1 GG käme nur dann in Frage, wenn sich für die Differenzierung der Tatbestände und für die unterschiedlichen Strafandrohungen der §§ 186, 187 StGB einerseits und des § 187 a StGB andererseits ein sachlich einleuchtender Grund nicht finden ließe, die Differenzierungen also nicht mehr innerhalb des weiten Ermessensspielraums des Gesetzgebers lägen und demgemäß willkürlich wären (vgl. BVerfGE 1, 14 [52]; 3, 58 [136]; 3, 225 [240]; 3, 288 [337]; 4, 7 [18]). Das ist aber nicht der Fall.
a) Der erhöhte strafrechtliche Ehrenschutz wird den im politischen Leben stehenden Personen nicht um ihrer selbst willen gewährt, sondern um ihr öffentliches Wirken vor unsachlichen Beeinträchtigungen zu schützen und um einer erhöhten Gefährdung der Ehre dieser Personen Rechnung zu tragen.
§ 187 a StGB soll der Vergiftung des politischen Lebens durch Ehrabschneidung und Verunglimpfungen und der Verhetzung im politischen Kampf entgegenwirken (vgl. die Begründung zum Entwurf des Strafrechtsänderungsgesetzes, Deutscher Bundestag I/1949, Drucksache Nr. 1307). Politische Auseinandersetzungen, die in üble Nachrede und Verleumdung ausarten, gefährden die Freiheit des politischen Handelns, also die Grundlage der Demokratie. Die Strafschärfung des § 187 a StGB dient daher der Erhaltung dieser Grundlage und des inneren politischen Friedens.
Für ein freiheitliches demokratisches Staatswesen ist die politische Mitarbeit seiner Bürger lebensnotwendig; es müssen sich in großer Zahl Persönlichkeiten finden, die sich im politischen Leben aktiv beteiligen und die bereit sind, die damit verbundenen Mühen und Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen. Erfahrungsgemäß setzen sie sich dadurch erhöhter Gefahr aus, in ihrer Ehre verletzt zu werden. Dieser Gefahrerhöhung trägt § 187 a StGB Rechnung, wobei zugleich dem allgemeinen staatspolitischen Interesse an der Sicherung der politischen Wirksamkeit des im politischen Leben stehenden Staatsbürgers gedient wird. Das ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Bestimmung, wonach die üble Nachrede oder die Verleumdung geeignet sein muß, das öffentliche Wirken des Verletzten erheblich zu erschweren. Es ist sachlich gerechtfertigt und nicht willkürlich, wenn der Gesetzgeber dieser stärkeren Gefährdung und der sich aus ihr ergebenden höheren kriminalpolitischen Schutzbedürftigkeit der Ehre aktiv politisch tätiger Personen durch höhere Mindeststrafen Rechnung trägt. Auch unter diesem Gesichtspunkt stellt sich also die Differenzierung der Strafandrohungen in §§ 186, 187 StGB einerseits und § 187 a StGB andererseits keinesfalls als Widerspruch zu Art. 3 Abs. 1 GG dar.
b) Es verstößt auch nicht gegen den Gleichheitssatz, daß der erhöhte Strafschutz nur Personen gewährt wird, die im politischen Leben des Volkes stehen. Der Regierungsentwurf zum Strafrechtsänderungsgesetz sah in Anlehnung an § 1 des Kap. III des Achten Teils der Vierten Notverordnung zum Schutze des inneren Friedens vom 8. Dezember 1931 (RGBl. I, 699 [743]) erhöhten Ehrenschutz für alle im öffentlichen Leben stehenden Personen vor. In den Beratungen der gesetzgebenden Körperschaften setzte sich jedoch die Auffassung durch, daß ein Bedürfnis für verstärkten Schutz nur im politischen Bereich bestehe (vgl. Prot. über die 116. Sitzung am 26. Juni 1951 des Bundestagsausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht). Diese Abgrenzung des Personenkreises, dem im staatspolitischen Interesse erhöhter Ehrenschutz zuteil werden soll, liegt innerhalb des Ermessensspielraums des Gesetzgebers. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht darüber zu befinden, welche Regelung "zweckmäßiger" oder "gerechter" ist.
c) Schließlich ist auch die Umschreibung des strafbaren Tatbestandes in § 187 a StGB verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es bedarf keiner Entscheidung darüber, ob eine Strafnorm mangels Bestimmtheit des gesetzlichen Tatbestandes gegen das rechtsstaatliche Prinzip der Rechtssicherheit verstoßen kann, deshalb mit Art. 103 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar und daher nichtig ist (ähnlich Bayer. Verfassungsgerichtshof in Bayer. VGHE II Bd. 67, NF 4 [1951], 194 [201 ff.]). Ebenso kann dahingestellt bleiben, ob solche nicht hinreichend bestimmte Strafvorschriften bereits unmittelbar auch gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen würden oder ob nicht vielmehr der Gleichheitssatz bei willkürlicher Anwendung solcher Normen verletzt wäre.
Denn das Tatbestandsmerkmal "im politischen Leben des Volkes stehend" ist hinreichend bestimmt. Auch das Strafrecht kann nicht darauf verzichten, allgemeine Begriffe zu verwenden, die in besonderem Maße einer Deutung durch den Richter bedürfen. Ohne derartige Begriffe könnte der Gesetzgeber der Vielgestaltigkeit des Lebens nicht Rechnung tragen. Sie sind deshalb unentbehrlich. Der Aufgabe, bei Anwendung des § 187 a StGB seinen Inhalt zu klären und abzugrenzen, ist die Rechtsprechung hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals "im politischen Leben des Volkes stehend" auch durchaus gerecht geworden (vgl. z.B. BGHSt. 4, 338 [339]; BGH, NJW 1954 S. 649). Daß verschiedene Gerichte allgemeine Rechtsbegriffe verschieden auslegen können, stellt keine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG dar (vgl. BVerfGE 1, 332 [345]).
§ 187 a StGB verstößt also nicht gegen das Grundgesetz.